====== Kultur, Klasse, Rassismus? ======
**Primärliteratur:** Mau, S. (2019). Bruchzonen. In: S. Mau (Hrsg.), //Lütten Klein. Leben in der ostdeutschen Transformationsgesellschaft.// (S. 221-237). Berlin: Suhrkamp.
**Sekundärliteratur:**
Dowling, E., van Dyk, S., & Graefe, S. (2017). Rückkehr des Hauptwiderspruchs? Anmerkungen zur aktuellen Debatte um den Erfolg der Neuen Rechten und das Versagen der „Identitätspolitik “. //PROKLA. Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft, 47//(188), 411-420.
Fraser, N. (2013). Neoliberalismus und Feminismus: eine gefährliche Liaison. //Blätter für deutsche und internationale Politik, 12//(2013), 29-31.
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„Bei Rassismus geht es scheinbar immer um etwas anderes: Angst vor der Zukunft, wirtschaftliche Unsicherheit oder sozialistische Altlast“. (El-Tayeb, 2016; zitiert nach Dowling, et al., 2017)
===== Kernthesen =====
**1. „Die […] Frakturen der ostdeutschen Teilgesellschaft können als konstitutiv für das Gedeihen von Ressentiments angesehen werden.“ (233)**
**2. „Neuarrondierung gesellschaftlicher Positionskämpfe“ (230)**
Es vollzieht sich ein kultureller Wandel, der zum Aufstreben der Werte einer neuen Mittel-klasse führt (Kosmopolitismus, Selbstentfaltung, Diversität). Daraus folgt eine Entwertung der Lebensweisen, Weltbilder und Alltagspraktiken der eher lokal verhafteten Gruppen, welche in Ostdeutschland überrepräsentiert sind.
**3. „Revitalisierung des Nationalen als Versuch gesellschaftlicher Selbstaufwertung“ (231)**
Durch die räumliche Separierung und die größer werdende Ungleichheit erreicht der Wertewandel die anderen Gruppen nicht. Es entsteht ein kultureller Konflikt, dem das traditionellere Milieu mit Abwehrhaltung und Rückbesinnung auf das Nationale begegnet.
**4. Kulturelle Erklärungen als mediierte sozioökonomische Gründe (231)**
Nicht nur die „Abgehängten“ des sozialen Wandels, sondern viel breitere Milieus, aus sozioökonomischen Gründen, sind anfällig für rechte Ideologien. Sozioökonomische – materielle – Interessen werden über kulturelle Einstellungen verfolgt. Die Besinnung auf als Nationale verhofft ökonomische Vorteile. Es kommt zu einem „sozioökonomischen Abwehrnationalismus“ (228).
**5. Instrumentalisierung durch Rechtspopulist*innen**
Das Gefühl der Entwertung und des Nicht-Gehörtwerdens durch die Politik wird durch die Vermittlung einer „Volksnähe“ genutzt und populistischer Protest als Selbstermächtigung geframt. (235)
===== Diskussionsfragen =====
1. „Stigmatisiert sie nicht, steckt sie nicht immer in die rechte Ecke, irgendwann nehmen sie auch ihre Rolle an und fühlen sich als die sogenannten besorgten Bürger, die politisch verfolgt in die rechte Ecke gestellt werden, weil sie Fragen haben, für die sie keine Antwort wissen. Nehmt sie ernst, kümmert euch um sie, fragt sie, holt sie weg aus der Ecke.“ (226) – Polizeichef Ebert bezüglich AfD-Kundgebungen
2. Ist im Diskurs um das Aufstreben rechten Gedankengutes in Ostdeutschland von einer Täter-Opfer-Umkehr zu sprechen?
3. Warum könnten sich Menschen in sozioökonomisch ungünstigen Lagen eher von Rechts-populistischen Parteien als von Linken Parteien angesprochen fühlen?
4. Wie sind sozioökonomische/kulturelle Gründe und menschenverachtende Einstellungen/Rassismus in der Diskussion um Neue Rechte zu gewichten, bzw. wie interagieren diese?
5. Sind menschenverachtende Einstellungen ein Randphänomen oder in der Mitte der Gesellschaft vertreten? Inwiefern?
6. Inwiefern sind linke Bewegungen/Identitätspolitik mitverantwortlich für das Aufkommen von Neoliberalismus/Rechtspopulismus?
===== Rückkehr des Hauptwiderspruchs? (Dowling et al., 2017) =====
- Annahme eines durch Neoliberalismus verletzten homogenen Klasseninteresses → Hierarchisierung gesellschaftlicher Widersprüche (411)
- Notwehr-Argument: Unvermeidliche Hinwendung zu rechten Parteien, da kein Adressat für soziale Anliegen → Verantwortungsfreispruch / Rassismus als aus sozialer Deklassierung abgeleitetes, uneigentliches Phänomen (412)
- Mehrheiten-Minderheiten-Argument: Kämpfe kleiner Gruppen drängen Mehrheitsinteressen an den Rand (412)
- Unterstellung eines begrüßenswerten, legitimen Bedürfnisses nach Gleichheit/ Gerechtigkeit → Ausblenden von Rassismus als fest verankertes Einstellungsmuster, nicht spontane Reaktion (415)
- Behauptung, Linke und Rechte hätten gemeinsame Schnittmenge und Neoliberalismus als Hauptfeind → Nationalismus und Rassismus als plausible Reaktion auf einen gemeinsamen Gegner (413)
- Erfolg neuer Rechter womöglich als Reaktion auf partiell erfolgte Aufstiege von Frauen und Migrant*innen → Bedrohung der Gewissheit weiß-männlicher Privilegien, Rückberufen auf „ursprüngliches“, weiß-männliches Klassensubjekt (414)
- Populistische Gesellschaftskonzepte: Messen von Gleichheit und Gerechtigkeit für eigene Gruppe an der Deprivilegierung spezifischer Anderer (416)
- Universale Versprechen als machtvolle Verallgemeinerungen partikularer Interessen bestimmter sozialer Gruppen (416)
- Soziale Frage tief verschränkt mit Rassismus, Nationalismus, Antifeminismus, Sexismus → kein homogenes Klassensubjekt (414, 418)
===== Zusatzfragen =====
- Können Linke und Rechte sich im Kampf gegen den Neoliberalismus verbünden?
- „Wer rechts wählt, will eigentlich soziale Gerechtigkeit.“ (Dowling et al., 2017)
===== Erinnern. =====
22.- 26. August 1992: Pogrom Rostock-Lichtenhagen
20.07.2002: Erneute rassistisch motivierte Brandanschläge auf das Sonnenblumenhaus in Lichtenhagen
"Gedenken soll keine Imagepflege sein, nichts womit wir uns schmücken sollten, nichts womit es genug ist. Das Gedenken ist stets unsere Verantwortung. Die Verantwortung das Schweigen zu brechen, Rassismus zu benennen, die Definitionsmacht Betroffener anzuerkennen und den Angehörigen unsere Anteilnahme zukommen zu lassen. […] Das Reden über rassistische Gewalt soll ein Akt der Umverteilung von Deutungsmacht sein." (Initiative 12. August, 2020)
===== Textausschnitte =====
Text 1: „Ich befürchte, eine Laune des Schicksals hat die Frauenbewegung auf gefährliche Weise in neoliberale Bestrebungen verstrickt, die auf den Aufbau einer Marktgesellschaft abzielen. Das würde erklären, wieso feministische Vorstellungen, die ehemals Bestandteil einer radikalen Weltanschau-ung waren, zunehmend in individualistischen Kategorien Ausdruck finden. Anders als früher, als sie eine auf Karrierismus ausgerichtete Gesellschaft kritisierten, raten Feministinnen den Frauen heute, sich in einer solchen einzurichten. Eine Bewegung, für die ehemals soziale Solidarität Vorrang hatte, feiert heute weibliches Unternehmertum. Eine Perspektive, die einst der Sorgearbeit (care) und der Erkenntnis wechselseitiger Abhängigkeit, der Interdependenz, Wert beimaß, fördert heute das in-dividuelle Vorankommen und meritokratisches Denken. […] Auch den folgenden Gedanken hat der Feminismus zum neoliberalen Ethos beigesteuert: Im Zeitalter desstaatlich organisierten Kapitalismus kritisierten wir zu Recht eine Politikvision mit Scheuklappen, die sich derart massiv auf klassenbedingte Ungleichheit fokussierte, dass sie „nichtökonomische“ Ungerechtigkeiten wie häusliche Gewalt, sexuelle Nötigung und im Zusammenhang mit der Reproduktionsarbeit stehende Unterdrückung von Frauen gar nicht in den Blick bekam. Mit der Zurückweisung des „Ökonomismus“ und der Politisierung „des Privaten“ ging es den Feministinnen darum, die politische Agenda zu verbreitern und den Kampf gegen Hierarchien einzubeziehen, die auf kulturell konstruierten Geschlechterunterschieden basieren. Das hätte zu einer Ausweitung des Kampfes um Gerechtigkeit führen sollen, so dass dieser sowohl Kultur als auch Ökonomie umfasst hätte. Tatsächlich aber führte es zu einer einseitigen Konzentration auf die „Geschlechtsidentität“ zu Lasten elementarer Überlebens-fragen. Schlimmer noch: Die identitätspolitische Wende des Feminismus passte nur zu gut zum Aufstieg eines Neoliberalismus, dem es vor allem darum ging, den Gedanken der sozialen Gleichberechtigung aus dem öffentlichen Gedächtnis zu tilgen. Das heißt, wir haben die Kritik des kulturellen Sexismus ausgerechnet in dem Augenblickverabsolutiert, in dem die Verhältnisse eine energische Besinnung auf die Kritik der Politischen Ökonomieerfordert hätten.“ (Fraser, 2013)
„Zugleich muss gefragt werden, ob sich im Erfolg der Neuen Rechten nicht auch eine Reaktion auf die im Übergang zum Postfordismus partiell erfolgten Aufstiege, z.B. von hoch qualifizierten Frauen oder Migrant*innen ausdrückt, fordern diese doch die jahrhundertealte Gewissheit heraus, dass sich die Dividende weißer Männlichkeit zuverlässig auszahlt. Die partiellen Aufstiege wiederum
schaffen neue strukturelle Ungleichheiten, etwa wenn privilegiertere Frauen die ihnen kulturell zugeschriebene und praktisch auferlegte Reproduktionsarbeit auf andere – oft migrantische – Frauen in prekären Arbeitsverhältnissen übertragen.“ (Dowling et al., 2017)
Text 2: „Das Wörtchen „Identitätspolitik“ ist in der aktuellen Debatte zu einer ubiquitären Chiffre für die Probleme der Linken und ihrer Verantwortung für den Erfolg der Neuen Rechten avanciert (Lilla 2017; Baron 2016; Stegemann 2017; Jörke/Heisterhagen 2017). Problematisiert wird der vermeintlich partikulare Charakter von Identitätspolitiken sowie ihre Komplizenschaft mit dem Neoliberalismus; im Zusammenspiel habe dies, so die Kritik, dazu geführt, dass Antworten auf Fragen sozialer Gerechtigkeit nicht mehr bei den Linken, sondern bei den Rechten gesucht werden. Der Vorwurf, Identitätspolitik sei partikularistisch und würde damit den Universalismus der Kämpfe um soziale Gerechtigkeit unterminieren, verkennt den ursprünglichen Impuls vieler sozialer Bewegungen, die heute als „identitätspolitisch“ gelabelt werden: aufzuzeigen, dass und wo sich universale Versprechen als machtvolle Verallgemeinerungen der partikularen Interessen bestimmter sozialer Gruppen erweisen. Identitätspolitik bedeutet in diesen Fällen gerade nicht, „dass sich eine gesellschaftlich abgesonderte Gruppe mit ihren spezifischen Problemen beschäftigt, sondern dass aus einer marginalisierten Perspektive Missstände aufgezeigt werden, die mitten ins Herz der Gesellschaft führen“ (Putschert 2017: 20). Es ist das Dilemma von marginalisierten Gruppen, dass sie, um sichtbar zu werden, auf jene Differenz Bezug nehmen müssen, die ihre Ausgrenzung begründet. Und ja: mitunter wird die Betonung partikularer Identitäten zum Selbstzweck und verliert ihren politischen Im-puls, die Partikularität der weiß-männlich-heterosexuell affizierten „Normalität“ zu überwinden und auf diese Weise eine Basis für gemeinsame soziale Kämpfe zu schaffen. Aber zum einen wird dies von den inkriminierten sozialen Bewegungen durchaus selbst thematisiert und problematisiert und zum anderen rechtfertigt es nicht eine generelle Desavourierung des Kernanliegens emanzipatorischer „Identitätspolitik“. Warum eigentlich, ist zudem zu fragen, gelten die Kämpfe von Frauen, Schwarzen oder Schwulen/Lesben als identitätspolitische Kämpfe, während das Leben und die da-rauf bezogenen Kämpfe (weißer, männlicher) Arbeiter als soziale und ökonomische Realität betrachtet werden? […] Auch der in der Debatte prominente Vorwurf der Komplizenschaft von Identitätspolitik und Neoliberalismus erscheint uns diskussionswürdig. […] [Es] spricht viel dafür, dass bestimmte Formen der Entfremdungskritik, aber auch Diversity- und Gleichstellungspolitiken an-schlussfähig an das neoliberale Projekt sind. Gegenwärtig wird die Diagnose aber in einer Radikalität pauschalisiert, die wir für problematisch halten. So gibt es – um nur ein Beispiel zu nennen – eben nicht nur einen liberalen, sondern auch einen kritischen (z.B. marxistischen, schwarzen) Feminismus (z.B. Bhandar/Ferreira da Silva 2013), und die Kämpfe der Black-Lives-Matter-Bewegung haben auch auf den zweiten Blick mit liberalem Multikulturalismus wenig zu tun. Hinzu kommt, dass in der gegenwärtigen Debatte meist nicht die mögliche Indienstnahme mit all ihren Ambivalenzen und parallelen emanzipatorischen Effekten, sondern die angeblich aktive Komplizenschaft von Identitätspolitik und Neoliberalismus im Zentrum steht.“ (Dowling et al., 2017)
===== Weitere Quellen =====
Decker, O., Kiess, J., Heller, A., & Brähler, E. (2022). Autoritäre Dynamiken in unsicheren Zeiten. Leipziger Autoritarismusstudie. Psychosozial-Verlag: Gießen.
Initiative 12. August (2020). 40 Jahre Schweigen in Merseburg. In Lierke, L. & Perinelli, M. (Hrsg.), //Erinnern stören. Der Mauerfall aus migrantischer und jüdischer Perspektive.// (S. 261-276). Rosa-Luxemburg-Stiftung: Berlin.
https://de.wikipedia.org/wiki/Ausschreitungen_in_Rostock-Lichtenhagen
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