=====Diskursanalyse zum Thema Spätabbruch=====
=====1. Forschungsinteresse=====
Als Spätabbrüche oder Spätabtreibungen werden Schwangerschaftsabbrüche bezeichnet, die nach der 22./23. Schwangerschaftswoche, theoretisch bis zum Einsetzen der Geburtswehen, aufgrund einer medizinischen Indikation, durchgeführt werden. Eine medizinische Indikation liegt vor, wenn die behandelnden Ärzt*innen eine Behinderung, bzw. eine schwere Erkrankung des Fötus feststellen, welche das seelische, psychische oder körperliche Wohl der schwangeren Person in dem Maße beeinträchtigen, dass eine Fortsetzung der Schwangerschaft unzumutbar wäre.((Vgl. dazu beispielsweise: Bundesamt für gesundheitliche Aufklärung: Schwangerschaftsabbruch nach einem auffälligen PND-Befund. URL: https://www.familienplanung.de/schwangerschaft/praenataldiagnostik/schwangerschaftsabbruch/#c59748 (zuletzt aufgerufen am: 31.08.19)) \\
In der medialen Öffentlichkeit wird und wurde diese Thematik vielfach diskutiert. Die ersten Recherchen im Rahmen dieses Projektes, ließen jedoch vermuten, dass sich die öffentliche Debatte zum Thema Spätabbruch äußerst komplex und diffus gestaltet und sich nicht in eindeutige Positionen einteilen lässt.
Da die Diskurse innerhalb der Massenmedien maßgeblich zur Gestaltung und Konstitution gesellschaftlicher Öffentlichkeit beiträgt, wird durch diese auch die Wahrnehmung und Meinung über bestimmte Themen beeinflusst. Insofern kommt dem medialen Diskurs eine bedeutende Rolle für die Konstruktion gesellschaftlicher Wirklichkeit zu. \\
Im Rahmen dieser Diskursanalyse, stellte sich also als erster Impuls die Frage: **Wie wird das Thema Spätabbruch und dessen Komplexität in der medialen Berichterstattung dargestellt?** \\
Diese Fragestellung änderte sich im Forschungsprozess und wurde immer weiter präzisiert. Deshalb folgt die Darstellung im Wiki den Schritten des Forschungsprozesses.
Um Nachvollziehbarkeit zu gewährleisten soll der Forschungsprozess, neue Impulse, Hypothesen und Fragestellungen, die sich währenddessen ergeben haben, möglichst transparent dargestellt werden.((In den grünen Boxen sind die Fragen enthalten, die sich in den entsprechenden Forschungsschritten stellten. Die verlinkten Tabellen sind dazu da, um Teile der Analyse offenzulegen und die Ergebnisse nachvollziehbar zu machen.))
===1.1 Forschungsschritte===
Mein ursprüngliches Forschungsprojekt sollte die Darstellung des Falles des "Oldenburger Babys" in der medialen Berichterstattung und das damit vermittelte Bild von Spätabtreibungen untersuchen. In meinem [[Forschungstagebuch]] werden meine bisherigen Forschungsschritte festgehalten. Daraus lässt sich auch entnehmen, was mich zu einer Neugestaltung des Projekts veranlasste.
===1.2 Grund-/ Vorannahmen===
* Die Artikel lassen sich ihrem Inhalt nach der politischen Ausrichtung der Zeitung/des Magazins zuordnen.
* Die Diskussion ist moralisch sehr aufgeladen, es wird polarisiert und polemisiert.
* Das Thema Spätabbrüche wird in Artikeln eher vereinfacht und nicht in seiner Komplexität dargestellt.
=====2. Methodischer Zugang=====
Als methodischen Zugang wird eine **wissenssoziologische Perspektive** gewählt, welche u.a. von **Reiner Keller** vertreten wird: \\
Der wissenssoziologischen Diskursanalyse liegt die Annahme zugrunde, dass: "Unser Weltwissen […] nicht auf ein angeborenes, kognitives Kategoriensystem rückführbar [ist], sondern auf gesellschaftlich hergestellte symbolische Systeme oder Ordnungen, die in und durch Diskurse produziert werden."((Keller, Reiner (2011): Diskursforschung. 4. aktualisierte Auflage. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 59.))
Im Zentrum der wissenssoziologischen Diskursanalyse steht daher das Interesse "Prozesse der sozialen Konstruktion, Objektivation, Kommunikation und Legitimation von Sinn-, d.h. Deutungs- und Handlungsstrukturen auf der Ebene von Institutionen, Organisationen bzw. sozialen (kollektiven) Akteuren zu rekonstruieren und die gesellschaftlichen Wirkungen dieser Prozesse zu analysieren." ((Ebd.)) \\
Es handelt sich dabei weniger um eine konkrete Methode, als um eine Forschungsperspektive, die sich an den Methoden, Werkzeugen und Grundsätzen der qualitativen Sozialforschung (sozialwissenschaftliche Hermeneutik, grounded theory) orientiert, diese kombinieren und ergänzen kann. ((Vgl. ebd., S. 9; 65; 77)) \\ Dies erfordert allerdings eine Anpassung jener Methoden an diskursanalytische Forschungsinteressen. Zu beachten gilt daher, dass die Diskursanalyse nicht auf die Rekonstruktion von subjektiven Sinnzusammenhängen zielt, sondern auf die Rekonstruktion der Praktiken der Produktion, Stabilisierung und Institutionalisierung gesellschaftlicher Wissensvorräte. Von den meisten qualitativen Ansätzen, lässt sich die Diskursanalyse weiterhin so abgrenzen, dass einzelne Fälle, nicht als abgeschlossene Sinnstruktur betrachtet werden. Vielmehr bilden einzelne Aussageereignisse nur Bausteine eines oder mehrerer (Teil-) Diskurses ab und müssen deshalb in aggregierter Form aufeinander bezogen werden, um einen Diskurs abbilden zu können. ((Vgl. ebd., S. 78)) \\
Gerade die Offenheit der Methodik der wissenssoziologischen Diskursforschung lässt eine gewisse Flexibilität und Anpassungsfähigkeit an die eigene Fragestellung und Forschungsinteressen zu und eignet sich daher auch für mein Forschungsprojekt.
=====3. Datenmaterial=====
===3.1 Materialauswahl===
Die Materialgrundlage bilden (Online-)Artikel von großen Zeitungen und Nachrichtenmagazinen:
**Kriterien für das Format Zeitungs- bzw. Onlineartikel?**
Zeitungen und Magazine sind bedeutende Medien für die Konstitution des öffentlichen Meinungsbildes. Die Verfasser*innen unterliegen gewissen journalistischen Gütekriterien, welche u.a. zum Ziel haben, ein faktengetreues und transparentes, sowie ausgewogenes Bild zu einer bestimmten Thematik widerzugeben. Nichtsdestotrotz handelt es sich bei journalistischen Artikeln um institutionalisierte Meinungsäußerungen, die Wissensordnungen reproduzieren und verbreiten und somit maßgeblich dazu beitragen die gesellschaftliche Wirklichkeit zu konstituieren.
Zeitungsartikel eignen sich insofern für eine wissenssoziologische Diskursanalyse, welche diese Prozesse der Objektivierung von Wissensordnungen zu rekonstruieren und deren Wirkungsräume zu analysieren versucht. \\
Die jeweiligen Zeitungen oder Magazine vertreten meist eine bestimmte politische Richtung und haben eine konkrete Zielgruppe, die sie mit ihren Berichten erreichen wollen. Daher unterscheiden sie sich in ihrer Berichterstattung und den Zielgruppen, die angesprochen werden sollen. Mit Artikeln (ohne Kolumnen und Kommentare) aus politisch unterschiedlich ausgerichteten Zeitungen und Magazinen, soll ein relativ umfangreiches Bild an unterschiedlichen (öffentlich geäußerten) Meinungen zum Thema Spätabbruch, gezeichnet werden. Aufgrund der besseren Zugänglichkeit und Vergleichbarkeit wurden größere, überregionale Zeitungen und Magazine ausgewählt.
**Zeitliche Eingrenzung?**
Die Recherche zur Erfassung des Untersuchungsfeldes ergab zwei zeitliche Höhepunkte in der Berichterstattung: \\
1. Das Jahr 2008/09: Viele Artikel zum Thema Spätabbrüche sind in diesem Zeitraum erschienen, meist in Bezug auf bevorstehende oder vergangene Bundestagsdebatten zur Neuregelung der Beratungs- und Bedenkzeitpflicht. Im Mai 2009 wurde schließlich eine Bedenkzeit von drei Tagen zwischen Diagnose und Abbruch gesetzlich festgelegt. Zudem sind Ärzt*innen dazu verpflichtet, schwangere Personen über Risiken und Möglichkeiten umfassend aufzuklären. ((Vgl. Deutscher Bundestag (Hg.) 2009: Stenografischer Bericht 221. Sitzung; Plenarprotokoll 16/221; http://dipbt.bundestag.de/doc/btp/16/16221.pdf))
\\
2. Das Jahr 2018/19: Die Debatte über Schwangerschaftsabbrüche ist durch den Fall Kristina Hänel, sowie der Bundestagsdebatte zum Thema Down-Syndrom Bluttest als Kassenleistung, erneut in die mediale Aufmerksamkeit gerückt. \\
**Idee 1:** Kontrastierung durch Vergleich von Artikeln der beiden Zeiträume. Welche möglichen Vergleichsaspekte könnten sinnvoll sein?
===3.2 Datenerhebung===
Zunächst wurden alle Artikel mit den Stichwörtern "Spätabtreibung", "Spätabbruch", "Pränataldiagnostik" mit Hilfe von //Google//,// bing// und direkt in den Archiven auf den Webseiten gesucht und in einer Tabelle gesammelt. Parallel sollte eine möglichst heterogene Auswahl an politischen Ausrichtungen getroffen werden, also je eine Zeitung aus einem politischen Spektrum zur Suche herangezogen werden. So sollte einen grober Überblick und ein möglichst heterogenes Bild geschaffen werden.
Dabei verzichtete ich auf links-oder rechtsextremistische Randpositionen. \\
===3.3 Auswahl der Daten zur Feinanalyse===
Vorgehen nach Keller:
> "Die Datenauswahl zur Feinanalyse ist ein offener, kriteriengeleiteter Suchprozess, der nicht vorschnell zur Bildung eines definitiven Teilkorpus innerhalb des Gesamtkorpus führen sollte, sondern sukzessive die Bandbreite des gesamten Datenmaterials durchschreitet und erfasst. Nach Maßgabe einzelner Detailanalysen ergeben sich möglicherweise neue Kriterien für die weitere Auswahl." ((Vgl. ebd., S. 92.))
**Kriterien**
Aus dem Forschungsprozess ergaben sich folgende Kriterien für eine engere Auswahl der Artikel:
* Zeitlich: 2008/09 und 2018/19
* Zeitungen → größere, Überregional, unterschiedlich politisch (bessere Vergleichbarkeit und Zugänglichkeit)
* Thema Spätabtreibung → da zu viele Artikel, Einschränkung:
* sofern Bezug zu Bundestagsdebatten, nicht nur Wiedergabe, sondern auch Positionierung
* nur je ein Artikel einer Zeitung (pro Zeitspanne)
__**Beobachtung**__: Bei näherer Betrachtung der Artikel stellte sich heraus, dass in einigen Artikeln aus dem Jahr 2008 vor allem individuelle Schicksale von Personen, die vor der Entscheidung für oder gegen einen Spätabbruch standen, geschildert werden. \\
Dies erschien mir interessant, da ein Einblick in einen realen Fall ein Thema aus dem Abstrakten in emotionale Nähe der Lesenden rücken kann und so ein affektives Verhältnis der Leser*innenschaft zum Fall schaffen kann. Diese vermeintlich authentische Weise der Darstellung von Spätabbrüchen hat das Potenzial, bestimmte Positionen zu untermauern oder zu widerlegen. \\
**Frage: Wie ist der Diskurs über Spätabbrüche vor der Bundestagsdebatte zu diesem Thema in Zeitungsartikeln aufgebaut? Welche Positionen werden vertreten? Welche Akteur*innen sind beteiligt? Welche Dimensionen/andere Diskurse sind in diesem Diskurs enthalten?**
Das Interesse bestand also vorerst darin, diesen Teildiskurs genauer zu durchleuchten. Deshalb wurde zuerst ein als relevant scheinender Artikel ausgewählt (Eindringliche Schilderung einer individuellen Erfahrung, kritische Positionierung zur Bundestagsdebatte). Zunächst wurde also nach dem **Prinzip der minimalen Kontrastierung** vorgegangen. ((Vgl. ebd., S. 92;93.))
Anhand dessen wurden zunächst vier weitere Artikel ausgewählt, die
* eine Individuelle Erfahrung schildern
* aus dem Jahr 2008, zeitlich nahe an der Bundestagsdebatte über Spätabbrüche erschienen sind. \\
**Idee 1 wird vorerst nicht weiter verfolgt** \\ Inwiefern eine Kontrastierung mit dem aktuellen Diskurs (2018/19) dann sinnvoll ist, um eventuell weitere Bestandteile des Diskurses herauszuarbeiten, sollte sich aus dem Forschungsprozess ergeben. → (Wie) kann dies zu einer konsistenten Interpretation führen? \\
Schließlich stellt sich die Frage, ob innerhalb dieses Projekts eine theoretische Sättigung des Analyseprozesses, auf Grund mangelnder zeitlicher und arbeitstechnischer Ressourcen, erreicht werden kann. \\
Dies führte zur Auswahl folgender **Daten**:
**1.** Oestreich, Heide: "Allein gelassen bei Spätabtreibung. Und dann war Lea weg." 18.12.2008. URL: https://taz.de/Allein-gelassen-bei-Spaetabtreibung/!5170949/ \\
**2.** Bota, Alice: "Spätabtreibungen. Wo Geburt und Tod sich treffen." 25.09.2008. URL: https://www.zeit.de/2008/40/Spaetabtreibungen \\
**3.** Eissele, Ingrid: "Spätabtreibung.,Es war doch schon ein Mensch'". 26.10.2008. URL: https://www.stern.de/politik/deutschland/spaetabtreibung--es-war-doch-schon-ein-mensch--3744546.html \\
**4.** Baureithel, Ulrike: "Die Angst vor Auffälligkeiten. Spätabtreibung" 4.12.2008. URL: https://www.freitag.de/autoren/ulrike-baureithel/die-angst-vor-auffalligkeiten \\
**5.** Kullmann, Kerstin: "MEDIZINETHIK. Prognose: Tod" 29.09.2008. URL: https://www.spiegel.de/spiegel/print/d-60666809.html \\
=====4. Feinanalyse=====
**Analyseverfahren:**
Zunächst wurden einzelne Textstellen durch offene Kodierung (angelehnt an das Forschungsprogramm der grounded theory) begrifflich verdichtet.
Dazu wurde die qualitative Textanalyse-Software MaxQDA genutzt. In Kommentaren und Memos wurden die Kriterien für die Vergabe von Codes, Erklärungen, Überlegungen, etc. festgehalten. Die Codes blieben zunächst dicht am Text, es wurde hauptsächlich mit "In-Vivo" Codes gearbeitet, diese dann in abstrahierender Form erweitert und in interpretativen Codes gebündelt. \\ Die Textanalyse wechselte sich mit der Anfertigung von Maps ab, die vor allem Positionen, Rollenverteilungen und Beziehungsgeflechte herausarbeiten und verdeutlichen sollen. ((Angelehnt an Adele Clarke´s Vorschläge für Maps: vgl. Clarke, Adele (2012): Situationsanalyse. Grounded Theory nach dem Postmodern Turn. Hrsg v. Reiner Keller. Wiesbaden.)) Dabei wurde immer wieder ein Phänomen oder Code in den Fokus gerückt, um dessen Zusammenhang mit anderen Dimensionen besser rekonstruieren zu können.
===4.1 Kontextdimensionen===
> "Die sozialwissenschaftliche Diskursforschung […] interessiert sich für den sozialen Zusammenhang von Sprach- bzw. Zeichengebrauch und Bedeutungsproduktion als Grundlage der Objektivierung gesellschaftlicher Wissensvorräte. Ein wichtiger erster Untersuchungsschritt bezüglich der einzelnen Aussageereignisse besteht deswegen in der Analyse ihrer sozialen Situiertheit in unterschiedlichen situativen, institutionell-organisatorischen und gesellschaftlichen Kontexten." ((Ebd., S. 99.))
Wer produziert wie, wo und für wen eine Aussage?
* **historisch-sozialer, zeitlicher Kontext:** Als Anlass für die Aussageproduktion wird in allen Artikeln die Bundestagsdebatte zum Thema Spätabtreibungen am 18.12.2008, angeführt. Kontext: Dabei ging es, auf Antrag der CDU hin, um die Einführung einer gesetzlichen Fristenregelung zwischen Diagnose und Abbruch, sowie der Einführung einer gesetzlichen Beratungspflicht für Schwangere, für die eine medizinische Indikation vorliegt. Ebenso sollte das Strafgeld für Ärzt*innen, die ihrer Aufklärungspflicht nicht nachkommen, auf 10.000 Euro angehoben werden und Fälle von Spätabbrüchen einzeln statistisch erfasst werden. Daraufhin haben auch die SPD, FDP, die Grünen und die Linke, alternative Anträge verfasst, die am 18.12. diskutiert wurden. ((Vgl. Deutscher Bundestag (Hg.) 2008: Stenografischer Bericht 196. Sitzung; Plenarprotokoll 16/196; http://dipbt.bundestag.de/doc/btp/16/16196.pdf))
* **Institutioneller Kontext:** Die Artikel entstammen großen überregionalen Zeitungen und Magazinen, die den Massenmedien zugeordnet werden. Sie verbreiten Informationen in der Öffentlichkeit und erreichen eine große Zahl an Rezipient*innen. In der journalistischen Berichterstattung werden Themen, die sich durch Aktualität, Faktizität und Relevanz auszeichnen, publiziert (Print und Online), und so der öffentlichen Kommunikation zur Verfügung gestellt. Dies trägt somit maßgeblich zur Konstitution des öffentlichen Meinungsbildes bei. Zeitungen und Nachrichtenmagazinen kommt insofern eine machtvolle Position für die Konstruktion gesellschaftlicher Wirklichkeit zu.
*Sprachformen, Themen und Charakteristiken dieses Feldes: Es geht darum Aufmerksamkeit für die Themen zu erreichen, weshalb innerhalb dieses Feldes viel mit Emotionen, Dramatisierungen, Polemisierungen gearbeitet wird. Je nach politisch-sozialer Zielgruppe der jeweiligen Zeitungen unterscheiden sich jedoch Rhetorik und Themen.
* **situativer Kontext:**
* 1. Artikel: Die //taz// ist eine überregionale Tageszeitung und wird generell eher dem grün-linken Spektrum zugeordnet. Die Autorin Heide Oestreich ist Inlandsredakteurin für Geschlechterpolitik in der taz.
* 2. Artikel: Die Wochenzeitung die //Zeit// gilt politisch als linksliberal. Die Autorin Alice Bota ist Auslandskorrespondentin der Zeit in Moskau.
* 3. Artikel: Der //Stern// ist ein Wochenmagazin, mit einem Schwerpunkt für politische und gesellschaftliche Themen. Politisch lässt sich der Stern als konservativ bis liberal einordnen. Über die Autorin Ingrid Eissele ließen sich keine Informationen finden.
* 4. Artikel: Der //Freitag// ist eine überregionale Wochenzeitung, dessen politische Haltung als links eingestuft wird. Über die Autorin Ulrike Baureithel lassen sich kaum Informationen finden, außer dass sie selbst Buchautorin ist und oft für den Freitag berichtet.
* 5. Artikel: Der //Spiegel// ist ein wöchentlich erscheinendes Nachrichtenmagazin, mit einem zugehörigen Nachrichtenportal Spiegel Online. Der Spiegel wird generell als liberal bis linksliberal eingeordnet. Kerstin Kullmann ist Redakteurin beim Spiegel.
**Frage: Welche Position wird zur politischen Debatte eingenommen und wie hängt das mit der Darstellung der individuellen Fälle zusammen?**
===4.2 Formale und sprachlich-rhetorische Struktur====
Merkmale des Dokuments in seiner spezifischen Textgattung, Rhetorik, Aussage -, Präsentationsstil, Argumentation, Metaphern, Bilder:
In den meisten Artikeln kommen unterschiedliche beteiligte Akteur*innen im Diskurs indirekt zu Wort. Oft werden die Eltern, Mediziner*innen, Berater*innen, teilweise auch Politiker*innen im Bezug auf deren Positionen zu Spätabbrüchen zitiert. Die Einzelfälle dienen der Unterstützung der Argumentation, entsprechend werden weitere Informationen und Stellungnahmen angeführt, die ein vermeintlich ausgewogenes und umfangreiches Bild zeigen sollen.
*[[FS_Artikel 1]]
*[[FS_Artikel 2]]
*[[FS_Artikel 3]]
*[[FS_Artikel 4]]
*[[FS_Artikel 5]]
Dies soll die grobe inhaltlich-analytische Gliederung (nach Absätzen) darstellen, um die Struktur der Artikel zu verdeutlichen. ((Nicht eingerückt: die Darstellung der Situation der Betroffenen. Eingerückt: Weitere Informationen, Zitate, etc.)) Bereits hier wurde deutlich, dass die politische Debatte in Artikel 3 anders beurteilt wird (deutlich positiver) als in den anderen vier Artikeln.
===4.3 Phänomenkonstitution===
Involvierte Akteur*innen im untersuchten Teildiskurs:
*Gesellschaft (Abstraktum, wird nicht genau definiert, Fremdpositionierung)
*Politik (dargestellte Vertreter*innen: Johannes Singhammer, Union)
*Technologie: Pränataldiagnostik (Fremdpositionierung)
*Behinderte Menschen/Babys (stumm) (Fremdpositionierung)
*Betroffene Schwangere und/oder Eltern
*Medizin (Vertreten durch Gynäkolog*innen und Diagnostiker*innen)
*Berater*innen (ProFamilia, Donum Vitae)
**Frage: Wie stehen diese Akteur*innen miteinander in Verbindung? Wer trägt Verantwortung?**
> "Der Begriff der Phänomenstruktur bezieht sich darauf, dass Diskurse in der Konstitution ihres referenziellen Bezuges unterschiedliche Elemente benennen und zu einer spezifischen Gestalt der Phänomenkonstitution, einer Problemstruktur oder -Konstellation verbinden." ((Keller 2011, S. 103)) \\
* [[Phänomenstruktur_Tabelle]]
===4.4 Zwischenfazit ===
Der Diskurs vor der Bundestagsdebatte 2008 zum Thema Spätabtreibung in (Online)Artikeln großer Zeitungen und Nachrichtenmagazinen zeichnet sich dadurch aus, dass viele Artikel, während die bevorstehende Debatte im Bundestag kommentiert wird, vor allem Bezug auf individuelle Fälle nehmen, bei denen Spätabbrüche durchgeführt wurden.
Dieses Phänomen wurde genauer untersucht, indem der Diskurs auf Diskursbausteine, Akteur*innen, formale und inhaltliche Strukturen und Muster, sowie der diskursspezifischen Problemstruktur analysiert wurden. Nachfolgend soll zur Orientierung ein kurzes Zwischenfazit gegeben werden. \\
* Die Betroffenen treten entweder mit ihrem richtigen Namen auf, oder mit Pseudonymen, auch die Babys (die beim Abbruch sterben) werden mit Namen genannt. Insgesamt (vor allem in Artikel 1,2,3,5) werden teils intime Einblicke in die Realität der Betroffenen, vor, während und nach dem Abbruch, gegeben. Diese Einblicke schaffen emotionale Eingebundenheit und Nähe bei den Lesenden. Die Darstellung wechselt sich mit Informationseinschüben, wie Statistiken oder der Meinungskundgebungen eines*r involvierten Akteur*in, wie Mediziner*innen, Berater*innen, welche die jeweiligen Argumentationen unterstützen sollen, ab. Dabei kommen verschiedene Akteur*innen direkt zu Wort: (Fach-)Ärzt*innen (in Artikel 1,3,5), sowie Berater*innen (in Artikel 1, 3), eine Theologin (in Artikel 1) und auch die Betroffenen werden in allen Artikeln (außer Artikel 5) wörtlich zitiert. Dass vor allem Mediziner*innen zu Wort kommen, hat wohl den Grund, dass sie sich in einer Expert*innen-Position befinden und zudem eine gesellschaftlich angesehene und qualifizierte Berufsgruppe darstellen.
* Viele der beteiligten Akteur*innen erhalten also eine legitime Sprecher*innenposition im Diskurs, indem sie zitiert werden. Ausnahmen bilden, die Pränataldiagnostik als stummer Akteur, die Politik, die durch die CDU und Johannes Singhammer vertreten wird, sowie die Gesellschaft als Abstraktum, die keine Vertreter*innen hat, da sie nur als abstrakte Verbindung von Individuen existiert. Anzumerken ist, dass ein diskursiver Schwerpunkt die Diskriminierung behinderter Menschen in der Gesellschaft darstellt. Als zentraler Akteur im Diskurs wird diese Gruppe jedoch fremdpositioniert und kann keine legitime Sprecher*innenposition einnehmen. \\
* Weiterhin hat sich insbesondere für Artikel 1, 2 und 5 die Vorannahme, dass polarisiert und polemisiert wird, nicht bestätigt. Die Darstellungen der individuellen Fälle sind vergleichsweise "neutral" und distanziert und betonen die Realitätsferne der politischen Debatte. Artikel 4 nimmt nur eine kurze Schilderung eines Falles (als Einstieg) vor, der mediale Aufmerksamkeit erregte, um schließlich eine kritische Position gegenüber der Bundestagsdebatte zu beziehen. In Artikel 3 lässt sich eine deutlich emotionalisierende Darstellung und Wortwahl erkennen. Im Zuge dessen wird die Bundestagsdebatte als positiv und notwendig bewertet. \\
* Charakteristisch für den untersuchten Teildiskurs ist zudem eine Dimension, die im Forschungsprozess "Realitäten" (Code) benannt wurde. Immer wieder werden in den Artikeln zwei Realitätsebenen verdeutlicht, die in einem Ungleichgewicht und einer Diskrepanz zueinander stehen: Die (eher konkrete) Realität1 der individuellen Schicksale und die eher abstrakte Realität2, der Politik. Letztere nimmt eine übergeordnete Position ein, da sie die Realität1 in gewisser Weise durch Gesetze und Rahmenbedingungen bestimmt. Gleichzeitig bestimmt jedoch die Realität1 auch die Gegenstände der Diskussionen der Realität2. (Die Zusammenhänge und Beziehungen dieser beiden Realitäten wurden mit Hilfe einer Map-Darstellung analysiert). In den Artikeln (1,2,4,5) wird die Diskrepanz dieser beiden Ebenen immer wieder verdeutlicht (siehe Realitäten_Tabelle). Damit einhergehend wird die politische Debatte als realitätsfern dargestellt und negativ bewertet. Einzig Artikel 3 zeigt eine Übereinstimmung der beiden Ebenen und beurteilt damit die politische Debatte als angemessen und notwendig.
* [[Realitäten_Tabelle]]
**Frage: Welche diskursiven Schwerpunkte lassen sich rekonstruieren?**
=== 4.5 Deutungsmuster ===
> "Diskurse bauen auf mehreren, im gesellschaftlichen Wissensvorrat vorrätigen bzw. in diesen durch einen Diskurs neu eingespeisten, miteinander diskursspezifisch verknüpften Deutungsmustern und ihren je konkreten Manifestationen in sprachlichen Äußerungen auf." ((Ebd., S.108))
* {{ :lv-wikis:pda19:deutungsmuster.pdf |}}
Aus der Analyse der Deutungsmuster, die in der Tabelle exemplarisch dargestellt wurde, konnten die Dimensionen, in welchen sich Artikel 1,2,4,5 von Artikel 3 unterscheiden, präzisiert werden. Aus den Artikeln 1,2,4 und 5 lässt sich die Deutungsfigur der //Politik als realitätsfern// rekonstruieren. Diese ist allerdings in Artikel 3 nicht zu finden. Dazu passend, lässt sich das Muster der //übereilten Entscheidung// der Betroffenen finden. Damit wird die Debatte im Bundestag als notwendig dargestellt. Auch im Hinblick auf die Träger*innen und Veranwortlichen für eine Entscheidung zeichnete sich ein Unterschied in den Darstellungen ab. In Artikel 3 sind die Entscheidungsträger*innen vor allem die Eltern als Kollektiv. Im Gegensatz dazu sind die Darstellungen in den anderen Artikeln vor allem auf Frauen* bezogen, welche zudem die Rolle der Entscheidungsträgerinnen einnehmen. Teilweise werden auch die Partner erwähnt, allerdings stehen die Frauen* im Fokus der Darstellung. Zu dieser, eher feministischen Darstellung, passt auch das Muster der //Bevormundung der Frauen durch die Politik//. ((Die Textbeispiele in den Deutungsmustern sind dazu gelb markiert in der Tabelle)).
===== 5. Auswertung =====
====5.1 Ergebnisse ====
* Die mediale Berichterstattung nimmt die Rolle einer Plattform für die Reproduktion des Diskurses über Spät-Schwangerschaftsabbrüche ein. Diese wird unter anderem genutzt, um den politischen Diskurs zu diesem Thema zu kommentieren oder zu kritisieren. Dies geschieht, im Fall dieser Datenauswahl, anhand der Schilderung von individuellen Erfahrungen, und der Befragung von "Expert*innen" des Feldes. Die angestrebte Aussage des Artikels wird also mit verschiedenen Bausteinen unterstützt und versucht so ein umfangreiches, vermeintlich objektives Bild zur Thematik zu schaffen. Wie zu Beginn des Forschungsprozesses angenommen, bestätigt sich die komplexe Struktur des Diskurses insofern, dass sich die Darstellungen kaum in ein Pro-Spätabbruch oder Contra-Abbruch einordnen lassen, was für die außerordentliche Komplexität dieser Thematik spricht. Die Entscheidung für einen Abbruch wird grundsätzlich nicht angefochten oder kritisiert. Die Kritik trifft vielmehr die gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse, sowie den technologischen Fortschritt der Pränataldiagnostik.
* Insgesamt lassen sich im Diskurs zwei unterschiedliche Strömungen ausmachen: Der Diskurs (in Artikel 1,2,4,5) zeichnet ein vor allem kritisches Bild der politischen Debatte (Deutungsmuster Politik: Realitätsfern). Damit einher geht die Fokussierung auf die Rolle, Bedürfnisse und Probleme der schwangeren Frau*. Die Analyse der Deutungsmuster lassen in diesem Teil des Diskurses liberale, emanzipatorische und feministische Elemente erkennen. Aus den Analyseergebnissen des Artikel 3 lässt sich dahingegen eine deutlich konservativere Darstellung der Thematik zu abzeichnen. Die Rhetorik in Bezug auf Spät-Schwangerschaftsabbrüche, die positive Darstellung der politischen Debatte und die spezifischen Deutungsmuster lassen mich zu diesem Schluss kommen. Eine Schnittstelle dieser beiden Subdiskurse bildet jedoch die Kritik an den gesellschaftlichen Verhältnissen, sowie am technologischen Fortschritt der Pränataldiagnostik zu sein. Diese Punkte lassen sich als diskursive Schwerpunkte des Diskurses ausmachen.
* Der Diskurs enthält außerdem Bausteine und Teile anderer Diskurse, dem Diskurs zur pränatalen Diagnostik, zur Diskriminierung bzw. Gleichstellung von Behinderten, sowie Fragmente des Diskurses über Abtreibung auf Grund von Down-Syndrom, sind zu finden. Im Spätabbruchs-Diskurs vermischen sich also viele verschiedene Diskurse und Subdiskurse zu einer komplexen und vielschichtigen Überlagerung von Diskursen. Demnach lässt sich der untersuchte Diskurs (etwas vereinfacht) an der Schnittstelle der drei oben erwähnten Diskurse verorten.
* Hinsichtlich der Rollenverteilungen der Akteur*innen sollte zum Schluss noch hervorgehoben werden, dass Sprecherpositionen vor allem von den Betroffenen und Expert*innen wie Mediziner*innen und Berater*innen besetzt werden. Ein diskursiver Schwerpunkt ist, wie bereits erwähnt, die Kritik an der Gesellschaft, die als behindertenfeindlich charakterisiert wird. Im Zuge dessen wird die pränatale Diagnostik problematisiert, welche dafür verantwortlich sei, dass behinderte Menschen aussortiert werden. Behinderte Menschen sind also ein integraler Bestandteil des Diskurses. Allerdings erhalten sie auch in diesem Diskurs keine legitime Sprecherposition. Insofern, ließe sich auch argumentieren, das in gewisser Weise, die kritisierte Diskriminierung durch diese diskursive Praxis fortgeführt wird.
====5.2 Reflexion====
Wie aus dem Aufbau der Arbeit sicher ersichtlich wird, fehlte zu Beginn eine leitende analytische Fragestellung für die Untersuchung. Zu Beginn hielt ich es für sinnvoll, den Diskurs an sich, dessen Inhalte, Problemstruktur, Akteure, etc. zu analysieren. Dies stand zunächst also im Vordergrund der Untersuchung, um Schritt für Schritt einen Diskurs zu erschließen und darauf aufbauend eine Fragestellung zu formulieren. Erst mit der Entwicklung konkreter Kategorien war es möglich Interessenschwerpunkte zu entwickeln und das Vorhaben Schritt für Schritt zu präzisieren. Das Fehlen einer konkreten Fragestellung zu Beginn der Untersuchung führte jedoch dazu, dass keine Orientierungslinie vorhanden war und sich der Forschungsprozess dementsprechend offen, aber auch teils chaotisch gestaltete. Dadurch gerieten immer wieder unterschiedliche Dimensionen in den Forschungsfokus, was jedoch dementsprechend zeitintensiv war. Deshalb konnten auch einige interessante Muster des Diskurses nicht tiefergehend verfolgt und analysiert werden. \\
Die Fallauswahl musste ebenso deutlich eingegrenzt werden, weshalb im Rahmen dieser Diskursanalyse eine theoretische Sättigung, die zu einer konsistenten Theoriebildung führen soll, nicht erreicht werden konnte. Deshalb sind die Ergebnisse dieser Untersuchung eher exemplarischen Charakters und stellen nur eine Auswertung eines kleinen Teils des Diskurses dar.
====5.3 Ausblick====
Es wurde gezeigt, wie ein Teil des Diskurses über Spätabbrüche vor der Bundestagsdebatte 2008 aufgebaut ist und welche diskursiven Schwerpunkte dafür charakteristisch sind. Im Anschluss daran könnte sich eine Kontrastierung mit weiteren Berichterstattungen, die in Bezug auf Bundestagsdebatten erschienen sind, z.B. von 2010 oder 2019, interessant sein. Dafür würde sich ein Vergleich auf der Ebene der Rollenverteilungen der Akteure: Pränataldiagnostik, Gesellschaft, Politik, etc. anbieten. So könnten Veränderungen im Diskurs, in Bezug auf die gesellschaftlichen, politischen und technologischen Dimensionen rekonstruiert werden.
======6. Literaturverzeichnis ======
Clarke, Adele E. (2012): Situationsanalyse. Grounded Theory nach dem Postmodern Turn. Wiesbaden: Springer VS (Interdisziplinäre Diskursforschung). \\
Keller, Reiner (2011): Diskursforschung. Eine Einführung für SozialwissenschaftlerInnen. 4. Auflage. Wiesbaden: VS Verlag (Qualitative Sozialforschung, Band 14). \\
Deutscher Bundestag (Hg.) 2008: Stenografischer Bericht 196. Sitzung; Plenarprotokoll 16/196; http://dipbt.bundestag.de/doc/btp/16/16196.pdf \\
Deutscher Bundestag (Hg.) 2009: Stenografischer Bericht 221. Sitzung; Plenarprotokoll 16/221; http://dipbt.bundestag.de/doc/btp/16/16221.pdf \\
=== Internetquellen: ===
Bundesamt für gesundheitliche Aufklärung: Schwangerschaftsabbruch nach einem auffälligen PND-Befund. URL: https://www.familienplanung.de/schwangerschaft/praenataldiagnostik/schwangerschaftsabbruch/#c59748 (zuletzt aufgerufen am: 31.08.19)