1. The Power Chapter – Data Feminism und die Analyse von Macht
Da Daten immer in einem bestimmten Interesse produziert werden und immer schon in ein komplexes Machtgefüge mit einer spezifischen Geschichte eingebettet sind, können Daten nach D’Ignazio und Klein (2020) weder als neutral noch als objektiv verstanden werden. Die Tatsache, dass bestimmte Daten gar nicht oder nur unzureichend und fehlerhaft erhoben oder ausgewertet werden, zeigt vielmehr, dass in Daten spezifische Werthierarchien und Bedeutungsökonomien zum Ausdruck kommen und reproduziert werden (S.23).
Diese Tatsache spiegelt m.E. folgender Satz sehr treffend wider: What we choose to measure is a statement of what we value in health, [… and] it's a measure of who we value in health, too. (S.23).
2. Welche Fragen bezüglich Macht stellt Data Feminism?
Daten (re-) produzieren also Machtverhältnisse, die oft diskriminierende oder gar lebensbedrohliche Effekte für minorisierte Gruppen und Subjekte zeitigen. Da es sich dabei um systematische, d.h. hegemoniale, strukturelle oder institutionalisierte Machtungleichgewichte handelt, beginnt für D’Ignazio und Klein Data Feminism mit der Analyse von Macht und deren Effekten (S.24). Nach D’Ignazio und Klein muss sich ein intersektionaler Data Feminism deshalb neben systematischen Methoden der Beobachtung und des Experimentierens, auch dem Vorhaben verschreiben, diejenigen Machtbeziehungen zu untersuchen, in denen Data als Data auftritt, beziehungsweise als Data bezeichnet wird.
Die Analyse von Macht und deren konkreter Auswirkungen verweist schließlich auf die Beantwortung von Fragen wie: Wer erhebt die Daten, wer wertet sie aus und wer nicht? Wessen Ziele oder Bedürfnisse werden priorisiert und wessen nicht? Wer profitiert von Data Science und wer wird übersehen und dadurch bedroht oder gar verletzt (S.26)?
Außerdem stellt sich hinsichtlich der Werthierarchien die Frage zu welchen Zwecken Daten erhoben werden. D’Ignazio und Klein verweisen diesbezüglich auf die drei „s“ der Ziele von Data Science und den jeweils assoziierten Institutionen (S.42): science (universities), surveillance (governments), selling (corporations). D’Ignazio und Klein fragen schließlich:
„How did we get to the point where data science is used almost exclusively in the service of profit (for a few), surveillance (of the minoritized), and efficiency (amidst scarcity)“ (S.41)
3. Die Matrix der Macht als Analyseinstrument von Data Feminism
Die Analyse von Macht bedeutet im Sinne der Autorinnen also ein Nachverfolgen der Daten zu ihren Ursprüngen (S.13) sowie ein Verstehen und Erkennen von Überlappungen („intersections“ S.24) der in den Daten und in der Umgebung der Daten wirksamen Machtachsen. Data Feminism hat deswegen vor allem ein Interesse an der Frage wie Macht operiert und wie sie konkret erfahren wird. D‘Ignazio und Klein greifen dafür auf ein Machtkonzept der Soziologin Patricia Hill Collins zurück, welche eine Matrix der Macht („matrix of domination“) mit vier voneinander analytisch abzugrenzenden jedoch in der Praxis verflochtenen Ebenen beschreibt (S.25 f.):
Structural domain (organizes oppression: laws and policies; e.g.: history of voting rights in the U.S.: voting rights reserved for „male citizens“)
Disciplinary domain (administers and manages oppression: Implements and enforces laws and policies; e.g.: state voting laws that continued to include
literacy tests, residency requirements, etc. to indirectly exclude people who were not property-owning white men)
Hegemonic domain (circulates
oppressive ideas: culture and media; e.g.: About who counts as a citizen
in the first place)
Interpersonal domain (individual experiences of oppression; e.g.: Your name had been purged from the official voting roll and there was a line so long
that it would require that you miss half a day’s pay)
(Ich habe das englische „domination“ hier auch mit „Macht“ übersetzt, obwohl es meinem Gefühl nach noch stärker das aktive Moment von Unterdrückung einerseits und die konkrete (leibliche, psychische etc.) Erfahrung der Unterdrückung und des Ausgeliefertseins andererseits impliziert.
Vorschlag: Wäre Herrschaft oder Vorherrschaft vielleicht ein Begriff, der hier die von dir angesprochene Bedeutungsbene mittransportiert?)
4. Definitionen
Minoritized: „[…] minoritized indicates that a social group is actively devalued and oppressed by a dominant group, one that holds more economic, social, and political power. With respect to gender, for example, men constitute the dominant group, while all other genders constitute minoritized groups“ (S.26)
Scarcity Bias: „[…] the idea that there are not enough resources for everyone so we should think small and allow technology to fill the gaps. Such thinking, and the technological “solutions” that result, often meet the goals of their creators“ (S.40)
Privilege hazard: „[…] the phenomenon that makes those who occupy the most privileged positions among us—those with good educations, respected credentials, and professional accolades—so poorly equipped to recognize instances of oppression in the world“ (S.29)
5. Diskussion
Wie greift Data in die Wissensproduktion ein? Welche epistemischen, also wissensbezogenen, Voraussetzungen machen Empirie zu „anerkannter“ Empirie und lassen Daten als objektiv und neutral erscheinen? Was können wir wissen, wenn manche Informationen gar nicht – oder nur lückenhaft - in Form von Daten vorliegen (wie z.B. die
Femizide in Mexiko, die Häufigkeit von
Komplikationen bei der Schwangerschaft, etc.)?
Auf Seite 25 wird behauptet die „Hegemonic domain“ sei eine Art umfassende Bedingung der anderen Machtebenen. Inwiefern sollte der Hegemonic domain eine solche Sonderstellung zukommen? Zu welcher Machtebene zählt Sprache, zählen Diskurse?
Inwieweit ließe sich sagen, dass sich zwar die Mittel, über welche hegemoniale „Data-Macht“ und „Data-Unterdrückung“ ausgeübt werden verändern, die Inhalte aber wesentlich unverändert bleiben? („Today, we have animated GIFs instead of paper pamphlets, but the hegemonic function is the same: to consolidate ideas about who is entitled to exercise power and who is not.„ S.25)
Ließe sich Data Feminism – den Ausführungen auf S. 42 folgend - auch als ein Weg beschreiben gegenwärtigen Herausforderungen wie zunehmende Kapitalakkumulation in den Händen einiger weniger oder dem Klimawandel zu begegnen?
Könnten wir sagen, dass bereits das Verständigen über die Machtbeziehungen (examine power) und das anschließende Sammeln und Erheben von Daten in einer von Asymmetrien durchzogenen Umgebung einen subversiven Akt darstellt?
Zu Daten und Ethik: Wenn Datenerhebung oder Nicht-Datenerhebung ein Licht auf die Werte, Werthierarchien und Bedeutungsökonomien einer Gesellschaft wirft, in der bestimmte Subjekte und deren Leben oder Tod zu erfassen als wichtig gilt, trägt Data Science nicht auch dazu bei, festzulegen, wer in einer Gesellschaft sichtbar, d.h. betrauernswert und schützenswert ist?*
Zum privilege hazard und collective privilege hazard: Hier fände ich es (nochmals) interessant den Begriff der Erfahrung als erkenntnistheoretische Grundlage von Data Science vor dem Hintergrund einer intersektional informierten Matrix der Macht genauer zu betrachten und zu fragen, wie ein anderer Erfahrungsbegriff auch neue Formen von Datenerhebung und Datennutzung ermöglichen könnte. Oder geht es gar nicht um einen anderen Erfahrungsbegriff und um neue Formen der Datenerhebung und Datennutzung, sondern eher um die Verschiebung des wissenschaftlichen Blicks?
Zum Thema data as the new oil (S.45): Sind Daten eine genauso erschöpfliche Ressource, wie Öl sie ist? Kommen wir irgendwann an den Punkt, an dem so viele Daten erhoben wurden, dass nicht mehr extracting möglich ist?
*Zu Betrauerbarkeit und Normen von Anerkennung aus ethisch-politischer Perspektive z.B.: Butler, J. 2005: Gewalt, Trauer, Politik. In: Gefährdetes Leben. Politische Essays. Frankfurt am Main: Suhrkamp.