Seit 2006 läuft auf dem Privatsender ProSieben jährlich eine Staffel der Castingshow GNTM, bei der sich junge Erwachsene ab 16 Jahren bewerben können und gegeneinander antreten, bis am Ende ein*e Kadidat*in gewinnt und zum Topmodel gekürt wird. Das Konzept beruht auf dem US-Amerikanischen Original, America`s Next Topmodel, das erstmals 2003 ausgestrahlt wurde. Während in den USA Model Tyra Banks die Show moderiert, ist in Deutschland Heidi Klum die Moderatorin und gleichzeitig das Gesicht der Sendung (Schurzmann-Leder 2021).
Castingshows gehören zum Genre des Reality TV und erhalten ihren Erfolg und ihre Faszination vor allem durch Grenzüberschreitungen. Ein Beispiel dafür ist unter anderem das Sprengen von Scham- und Tabugrenzen. Dadurch werden sie zu einem beliebten gesellschaftlichen Gesprächsthema. Außerdem löst Reality TV Grenzen auf, indem zum Beispiel Öffentlichkeit und Privatheit sowie Fiktion und Realität miteinander verschwimmen (Stehling 2015). Weitere Kennzeichen von Reality TV sind außerdem Emotionalisierung, Personalisierung, Intimisierung und Stereotypisierung (Schurzmann-Leder 2021). Castingshows wiederum kennzeichnen sich durch eine stetige Auswahl der Teilnehmer*innen, die teilweise durch aktive Entscheidungen der Zuschauer*innen – beispielsweise durch Telefonanrufe – beeinflusst werden kann. Medien strukturieren gesellschaftliche Verhältnisse maßgeblich mit, sodass Individuen auch durch Medien vergesellschaftet werden (Stehling 2015). Castingshows wie GNTM sind daher Orte gesellschaftlicher Aushandlungsprozesse, die aktuelle Kontroversen und Streitpunkte aufzeigen.
Besonders deutlich wird durch den Wettbewerbscharakter, dass auch hier die neoliberale Gouvernementalität (institutionelle Machtinstanzen nehmen ab und werden immer mehr zu Selbstführung) keinen Halt macht. Denn die Kandidat*innen sollen im Wettbewerb die Beste sein und paradoxerweise gleichzeitig Teamfähigkeit unter Beweis stellen und sich kooperativ zeigen. Diese doppelseitige Inszenierung kann als coopetition – eine Wortschöpfung aus Kooperation und Competition – bezeichnet werden (Stehling 2015). Vermehrt wird GNTM deshalb Antifeminismus vorgeworfen (ebd.). Vor allem auf Jugendliche haben Medien einen starken Einfluss, da sie die Normalitätsvorstellungen und damit verbunden die eigene Identität mitprägen und somit sozialisieren. Besonders ist bei Medien, dass sie Vorstellungen von Normalität oft in übersteigerter Form darstellen. (Schurzmann-Leder 2021). Dies ist auch bei GNTM der Fall, wo über die Jahre hinweg der makellose, erotische Frauenkörper als Ideal gilt. Bereits in der Vergangenheit ist die Show deswegen stark in die Kritik geraten. Unter anderem wurde im Jahr 2017 das Hashtag #notheidisgirl gestartet, unter dem Tausende junge Frauen sich von den aufgezwungenen Schönheitsstandards distanzierten. Auch 2021, als zum ersten Mal das Diversitätskonzept in GNTM einbezogen wurde, erntete Klum heftige Kritik. Trotz aller Kritik ist GNTM in Deutschland das einzige erfolgreiche und dauerhaft ausgestrahlte Format im Bereich der Model-Castingshows (Schurzmann-Leder 2021).
Schurzmann-Leder, L. (2021), Körper, Leistung, Selbstdarstellung Medienaneignung jugendlicher Zuschauerinnen von Germany's Next Topmodel. Bielefeld: transcript Verlag.
Stehling, M. (2015), Die Aneignung von Fernsehformaten im transkulturellen Vergleich. Eine Studie am Beispiel des Topmodel-Formats. Wiesbaden: Springer VS, 35-60; 104-11.