Inhaltsverzeichnis

Intersektionalität und Interdependenz

Wer über Diversität spricht und versucht, sie zu definieren, dem sollte auf jeden Fall auch das Konzept der Intersektionalität vertraut sein. Intersektionalität meint die Überschneidung mehrerer Differenzen und Diskriminierungsformen. Nicht jede Differenz wird für sich betrachtet, sondern das Zusammenspiel ist bedeutend.1)

Im folgenden Wiki wird auf die Grundidee der Intersektionalität, sowie auf verschiedene Arten der Intersektionalität eingegangen und ihre heutige Bedeutung erklärt.

Crenshaw - Intersektionalität

Kimberlé Crenshaw ist eine US-amerikanische Rechtswissenschaftlerin, die in ihren Arbeiten und Berichten als Erste ein Intersektionalitätskonzept beschrieb. Sie kritisierte in ihrer Arbeit "Demarginalizing the Intersection of Race and Sex" verschiedene Gerichtsentscheidungen zu Diskriminierungsfällen und zeigte besonders die Rolle und die Probleme Schwarzer Frauen in der Arbeitswelt auf.


Crenshaw greift drei Gerichtsverfahren auf, die sie analysiert und dessen finale Entscheidungen sie in Frage stellt.

1. DeGraffenreid vs General Motors

Fünf Schwarze Frauen klagten gegen General Motors und gaben an, dass deren Senioritätsprinzip Schwarze Frauen diskriminiere. Dies konnte belegt werden: der Konzern hatte vor 1964 noch nie Schwarze Frauen eingestellt und nach 1970 verloren Schwarze Frauen ihren Job bei einem wirtschaftlichen Rückgang. Das Gericht allerdings entschied, dass keine Diskriminierung gegen Frauen vorliegen würde, da General Motors sogar vor 1964 Frauen eingestellt hätte. Dies waren allerdings weiße Frauen. Da schon ein anderes Verfahren gegen General Motors mit einer Klage aufgrund von Diskriminierung aus rassistischen Gründen am Laufen war, wurde der Fall abgelehnt. Das Gericht war nicht in der Lage, das Problem einer mehrdimensionalen Diskriminierung zu erkennen. Die fünf Frauen wurden auf zwei Diskriminierungsachsen benachteiligt, der Fall wurde jedoch mit der Begründung zurückgewiesen, dass sowohl (weiße) Frauen wie auch Schwarze (Männer) eingestellt waren.

2. Moore vs Hughes Helicopters Inc.

Bei diesem Fall klagte eine Angestellte von Hughes Helicopters Inc., dass Schwarze Frauen in der Firma keine Möglichkeit zum Aufstieg zu einer der Führungspositionen oder einer Position als Supervisor haben würden. Sie konnte dies mit mehreren Statistiken, die über die Jahre gesammelt worden sind, belegen. Die Statistiken zeigten Ungleichheiten zwischen Männern und Frauen und die Differenzen der Zahl weißer Männer und Schwarzer Männer in den Führungspositionen. Moore wurde vor Gericht dafür kritisiert, durch ihre Darstellung des Problems für Schwarze Frauen, weiße Frauen nicht oder zu wenig zu repräsentieren. Diskriminierung wurde von den Richter*innen erst als bedeutend empfunden, wenn auch weiße Frauen davon betroffen seien. Später wurde der Fall ebenso verworfen, mit der eben genannten Begründung und dem Argument, es gäbe nicht ausreichend qualifizierte Schwarze Frauen für die Führungspositionen der Firma, die Forderung von Moore seien demnach gar nicht umsetzbar.

3. Payne vs Travenol

Zwei Schwarze Frauen klagten bei diesem Fall gegen ein pharmazeutisches Unternehmen, das Schwarze Menschen diskriminieren würde. Das Gericht warf den Frauen vor, die Schwarzen Männer, die in dem Unternehmen ebenfalls diskriminiert wurden, nicht ausreichend repräsentieren zu können. Die Klage wurde reduziert auf die Diskriminierung von Schwarzen Frauen, da die Richter*innen fürchteten, die Interessen Schwarzer Männer seien nicht vertreten. Dieser Fall zeigt zwar teilweise einen Erfolg für die Schwarzen Frauen vor Gericht, zeigt jedoch das Dilemma auf, das entstehen kann. Die Frauen mussten sich dafür entscheiden, entweder in ihrer Position auch Schwarze Männer repräsentieren zu können und zu wollen, dann jedoch mit dem Risiko, dass der Fall fallen gelassen wird. Oder ihre eigene Position als Schwarze Frauen zu repräsentieren und den Fall zwar teilweise erfolgreich enden zu lassen, jedoch nicht so, wie sie es eigentlich gewollt hätten.2)



Crenshaw plädiert für ein allgemeines Verständnis von Diskriminierung als komplexes Geschehen und als ein Zusammenspiel. Rechtsschutz solle auf einem Konzept beruhen, das Diskriminierung mehrdimensional sieht und sie nicht in Einzelteile zerlegt.3)

Crenshaw erklärt das Konzept der Intersektionalität anhand eines Sinnbilds einer Straßenkreuzung. Die sich kreuzenden Fahrbahnen stellen jeweils verschiedenen Diskriminierungsachsen dar. Diskriminierung kann entlang einer Fahrbahn verlaufen, jedoch auch durch ein Aufeinandertreffen, eine Überschneidung oder eine Überlagerung mehrerer Diskriminierungsachsen als mehrdimensional kategorisiert werden. Nicht eine Addition der Achsen ist wichtig, sondern ihr Zusammenspiel. Als Beispiel nennt Crenshaw erneut die Diskriminierung einer Schwarzen Frau. Diese könne entweder auf einer Benachteiligung aufgrund von Geschlecht oder Race basieren.4)

„The point is that Black women can experience discrimination in any number of ways and that the contradiction arises from our assumptions that their claims of exclusion must be unidirectional. Consider an analogy to traffic in an intersection, coming and going in all four directions. Discrimination, like traffic through an intersection, may flow in one direction, and it may flow in another. If an accident happens in an intersection, it can be caused by cars traveling from any number of directions and, sometimes, from all of them. Similarly, if a Black woman is harmed because she is in the intersection, her injury could result from sex discrimination or race discrimination.“5)

Kimberlé Crenshaw zur Intersektionalität: https://www.youtube.com/watch?v=ViDtnfQ9FHc

Weitere Konzepte der Intersektionalität

Achsen der Ungleichheit

Das von Klinger und Knapp entwickelte Konzept der Intersektionalität setzt an strukturellen Ungleichheiten und deren Überschneidungen an. Der Fokus liegt nicht auf dem Subjekt und dessen Erfahrungen, sondern auf Organisationsstrukturen gesellschaftlicher Institutionen. Klinger/Knapp beschreiben eine Diskriminierung von Personen aufgrund von jenen Strukturen, die Teilhabe-Chancen ungleich verteilen. Als Beispiel nennen sie das Ausbildungssystem, den Arbeitsmarkt oder das Gesundheitssystem. 6)

Genannt werden die „drei Achsen der Ungleichheit“: Klasse, Geschlecht und Race/Ethnizität. Durch die Erfassung von Geschlecht und Race als gesellschaftliche Strukturen und nicht als Naturgegebenheit, können diese Kategorien mit der der Klasse gleichgesetzt werden, da es dabei nicht um ein „Schicksal“ geht, sondern um die gesellschaftliche Strukturierung von Diskriminierungsgründen. Diese drei Achsen seien diejenigen, die fast alle Gesellschaften prägen und die eine Grundlage gesellschaftlicher Ungleichheitsverhältnisse im Bereich der Arbeitswelt bilden. Aufgrund dieser drei Kategorien wird vielen Menschen entweder eine Tätigkeit verweigert oder eine bestimmte, abgewertete Arbeit zugeteilt. 7)

Mehrfachdiskriminierung

Ein weiteres Konzept stammt vom Rechtswissenschaftler Makkonen. Er differenziert zwischen Mehrfachdiskriminierung („multiple discrimination“), verstärkter Diskriminierung („compound discrimination“) und intersektionaler Diskriminierung („intersectional discrimination“).

1. Mehrfachdiskriminierung

Mehrfachdiskriminierung meint eine Diskriminierung einer Person auf mehreren, unterschiedlichen Ebenen zu unterschiedlichen Zeiten. Als Beispiel nennt er eine Frau mit Behinderung, die beim Zugang zu einem Job aufgrund ihres Geschlechts diskriminiert wird und beim Zugang zu einem Gebäude aufgrund ihrer Behinderung. Die Diskriminierung muss also nicht zeitgleich stattfinden, das Konzept addiert Diskriminierungsfälle und -gründe.

„First, a situation in which one person suffers from discrimination on several grounds, but in a manner in which discrimination takes place on one ground at a time. This is basically a recognition of the accumulation of distinct discrimination experiences.“ 8)

Anders als beim Intersektionalitätskonzept von Crenshaw, spielen hier die unterschiedlichen Akteur*innen, sowie ein bestimmter Ort oder ein Zeitpunkt eine große Rolle. Nicht das Aufeinandertreffen der Diskriminierungsachsen ist zu hinterfragen, sondern jede verschiedene Achse selbst wird untersucht. Somit lassen sich alle Diskriminierungsgründe einzeln erfassen, was laut Makkonen einen Fortschritt der politischen Kommunikation und der Aufklärungsarbeit leiste.

2. Verstärkte Diskriminierung

Die „compound discrimination“ beschreibt Makkonen als ein Zusammenkommen mehrerer Diskriminierungsgründe. Diese Form der Diskriminierung kann als „verstärkte Diskriminierung“ übersetzt werden, was die mathematische Addition mehrerer Diskriminierungsachsen nahelegt.

„Compound discrimination should be taken to refer to such a situation in which several grounds of discrimination add to each other at one particular instance: discrimination on the basis of one ground adds to discrimination based on another ground to create an added burden. There can be two or more types of discrimination in play at one given situation.“ 9)

Ein Beispiel für die verstärkte Diskriminierung stellt erneut der Arbeitsmarkt dar. Wenn es gewisse Berufe gibt, die als „Frauenberufe“ oder als „Männerberufe“ gelten und gleichzeitig bestimmte Berufe als Berufe für Menschen mit oder ohne Migrationshintergrund gelten, so ist der Prozess der Jobsuche besonders für Migrantinnen sehr schwierig. Allerdings ist dies statistisch gesehen oft nicht der Fall, weshalb sich eher an Crenshaw orientiert werden soll. 10)

3. Intersektionale Diskriminierung

Auf Crenshaws Konzept beruft sich Makkonen, indem er die „intersectional discrimination“ als die dritte Form seines Konzepts beschreibt. Diese komme durch das Zusammenwirken mehrerer Diskriminierungsgründe zustande. Bestimmte Menschen werden gleichzeitig auf mehreren Ebenen diskriminiert. 11)

„Intersectional discrimination, in its narrower sense, should be taken to refer to a situation in which there is a specific type of discriminat ion, in which several grounds of discrimination interact concurrently. For instance , minority women may be subject to particular types of prejudices and stereotypes. They may face specific types of racial discrimination, not experienced by minority men.“ 12)

Interdependenzen

Das Sinnbild der intersektionalen Kreuzungen verschiedener Diskriminierungskategorien erfährt immer mehr Kritik, weshalb der Begriff der Interdependenzen immer mehr an Zuspruch findet. Interdependenzen betonen die wechselseitige Abhängigkeit der verschiedenen Achsen und isoliert diese nicht. Das Verständnis von Diskriminierungsgründen als interdependent beschreibt diese folglich als ein Zusammenspiel der verschiedenen Kategorien mit dem Dasein einer wechselseitigen Abhängigkeit zwischen ihnen.13)

Interdependente Kategorien

Studierende und Forschende der Humbold-Universität Berlin beschreiben ein neues, erweitertes Intersektionalitäts-Prinzip. Sie greifen Crenshaws Idee der Straßenkreuzung auf, jedoch wird das Aufeinandertreffen der verschiedenen Diskriminierungsachsen nicht als ein Aufprall oder ein Unfall erklärt, sondern eher als eine wechselseitige Verschränkung, eine Interdependenz. Von den Studierenden verfasste Arbeiten diskutieren Kategorien wie „Gender“ als interdependente Kategorie. Eine Interdependenz beschreibe folglich nicht das Zusammenspiel verschiedener Diskriminierungsgründe, sondern soziale Kategorien selbst sind als interdependent zu verstehen. 14) So setzt das Verständnis von sozialen Kategorien als interdependent auch das intersektionale, intrakategoriale Zusammenspiel der jeweiligen Kategorien und Diskriminierungsachsen voraus und macht es verständlich.

Das Konzept der Interdependenzen greift auch die Herkunft und Herstellung sozialer Kategorien durch Sprache auf. Kategorien entstehen dadurch, dass sie benannt werden. Indem man jedoch die sozialen Kategorien als interdependent definiert und ihre Konstruktion hinterfragt, wird klar, dass die Kategorisierung durch Sprache erst dazu führt, dass Menschen kategorisiert werden.

„Die im Diskriminierungskontext häufige ontologisierende Kategorisierung durch Sprache erzeugt das Problem, das es lösen soll, Menschen zu kategorisieren.“ 15)

Zusammenfassung

Im Kontext der Diversität sind die Begriffe Intersektionalität und Interdependenz also von großer Bedeutung. Durch den Begriff der Intersektionalität konnte die Juristin Kimberlé Crenshaw das Zusammenkommen zweier oder mehrerer Diskriminierungsachsen erläutern. Die Mehrfachdiskriminierung vieler Menschen ließ sich so beschreiben und verständlicher machen. Als Interdependenzbegriff schließt dieser Sachverhalt zusätzlich die wechselseitigen Beziehungen der Kategorien mit ein, sowie das komplexe, interdependente Dasein jeder einzelnen Kategorie für sich. Bildlich ist das Konzept der Interdependenz zwar nicht mehr vorstellbar, jedoch werden nun die Zusammensetzung und das Entstehen der Kategorien betont. Nicht die verschiedenen Achsen, sondern die gesamte „Kreuzung“ an sich spielt bei einem Diskriminierungsfall eine Rolle.

Quellen

2) , 4) , 5)
Crenshaw, K. (1989), „Demarginalizing the Intersection of Race and Sex: A Black Feminist Critique of Antidiscrimination Doctrine, Feminist Theory and Antiracist Politics.“ In: University of Chicago Legal Forum. 1(8). 139-167.
3) , 7) , 10) , 11) , 15)
Baer, S., Bittner, M., Göttsche, A. (2010), Mehrdimensionale Diskriminierung: Begriff, Theorien und juristische Analyse. Antidiskriminierungsstelle des Bundes. Berlin.
6)
Klinger, C., Knapp, G. (2007), „Achsen der Ungleichheit – Achsen der Differenz: Verhältnisbestimmungen von Klasse, Geschlecht, „Rasse“/Ethnizität.“ In: Klinger, C. (2007), Achsen der Ungleichheit. Zum Verhältnis von Klasse, Geschlecht und Ethnizität. Frankfurt am Main. 19–41.
8) , 9) , 12)
Makkonen, T. (2002), Multiple, Compound and Intersectional Discrimination: Bringing the Experiences of the Most Marginalized to the Fore. Abo Akademi University.
13) , 14)
Walgenbach, K., Dietze, G., Hornscheidt, A. & Palm, K. (2007), Gender als interdependente Kategorie. Neue Perspektiven auf Intersektionalität, Diversität und Heterogenität. Opladen, Farmington Hills: B. Budrich.