Seit 1986 gibt es eine Arbeitsgruppe, die zum Ziel hat, Standards für die Erhebung von soziodemographischen Variablen im Rahmen der empirischen Sozialforschung sowie der amtlichen Statistik in Deutschland zu erarbeiten – die „Demographischen Standards“. Beteiligt sind:
Ziele:
Kriterien: Im Standard aufgenommene soziodemographische Merkmale sollen ..
Die Standards werden entsprechend der Kriterien in regelmäßigen Abständen überarbeitet (zuletzt 2016), wobei der Spannung zwischen einer sich dynamisch verändernden gesellschaftlichen (und juristischen) Wirklichkeit und der Notwendigkeit der Vergleichbarkeit von Daten über die Zeit durch geeignete Instrumente der Recodierung und Harmonisierung begegnet werden muss. An dieser Stelle soll untersucht werden, inwieweit ein Weiterentwicklungsbedarf besteht, um die mit Hilfe der Demographischen Standards generierten Daten für Fragestellungen im Themenbereich Diskriminierung, Gleichstellung und Vielfalt fruchtbar zu machen. (StBA, 2016:3-6)2)
Die Relevanz der Demographischen Standards für die Erhebung von Diskriminierungs-, Gleichstellungs- und Diversitäts-Daten ergibt sich daraus, dass soziodemographische Variablen als Indizes für die Position in Machtstrukturen und damit die Betroffenheit von Diskriminierung verwendet werden.
In der empirischen Sozialforschung soll mit Hilfe von Variablen im Allgemeinen „soziale Wirklichkeit auf standardisierte Weise zusammengefasst und beschrieben werden“ (Schirmer, 2009:118).5) Es findet also ein Operationalisierungsprozess statt, in dem mittels Übersetzungen, Zusammenfassungen, Beschreibungen und Standardisierungen Variablen konstruiert werden. Dabei wird je nach (scheinbarer) Komplexität des Übersetzungsprozesses von sozialer Wirklichkeit zu Messinstrument häufig zwischen latenten und manifesten Variablen unterschieden, wobei sozialdemografische Informationen zu letzteren gezählt werden. Diese seien unmittelbar beobachtbar und deshalb „nicht weiter erklärungsbedürftig“ (Döring & Bortz, 2016:165)6) – es wird von einer „Augenschein-Validität“ (ebd.)7) ausgegangen. Eine solche Unterscheidung kann jedoch dazu führen, dass aus dem Blick gerät, dass auch sogenannte manifeste Variablen „keine voraussetzungslosen Tatsachen, sondern immer Ergebnis eines theoretischen Konstruktionsprozesses sind“ (Döring & Bortz, 2016:232)8).
Im Folgenden wird anhand einiger Beispiele aus den Demographischen Standards deutlich, dass die Operationalisierung und Konstruktion von Messinstrumenten zur Erhebung von soziodemographischen Variablen alles andere als eindeutig und einfach ist, insbesondere da sie auf komplexe mehrdimensionale soziale Phänomene und Machtstrukturen verweisen. Konstruierte Daten – z.B. die Antwort einer Person auf eine Einzelindikatorfrage per Multiple-Choice – als reale, einfach zu beobachtende Tatsachen zu verstehen birgt die Gefahr, dass Forschungsergebnisse essentialisiert und naturalisiert werden. Für soziodemographische Variablen bieten solche essentialistischen Vorstellungen auch die Grundlage für einen Gruppismus (siehe Baer, 2010 für eine weitere Ausführung)9). Eine nicht ausreichende Reflexion der Messinstrumente verkennt außerdem die Gefahr der Reifizierung als Folge der Vorstrukturierung der Daten (Schirmer, 2009:69)10).
„Empirische Forschung, die gemessene Variablen als Tatsachen auffasst, mündet in einen naiven Empirismus bzw. Positivismus. Deswegen ist die theoretische Konstruiertheit aller wissenschaftlichen Messungen bei der Diskussion von empirischen Forschungsprozessen und ihren Ergebnissen stets zu berücksichtigen.“ (Döring & Bortz, 2016:232)11) Im Folgenden soll deshalb besonders die Konstruktion von Messinstrumenten zur Erhebung von soziodemographischen Informationen kritisch in den Blick genommen werden. Da die Demographischen Standards als Richtlinie für die Operationalisierung von demographischen Daten dienen soll, bieten sie sich als Gegenstand der Betrachtung an.
Ähnlich wie Baumann et al. (2018)12) in ihrer Analyse der Operationalisierung soziodemographischer Variablen in repräsentativen Wiederholungsbefragungen, soll im Folgenden zunächst die Abdeckung unterschiedlicher Dimensionen und im Anschluss die Differenzierbarkeit (anhand einiger ausgewählter „Merkmale“) überprüft werden.
Zur Beantwortung der Frage, wie vollständig die Demographischen Standards bereits auf die unterschiedlichen Diskriminierung-/Vielfalts-/Macht-Dimensionen verweisen und somit anschlussfähige Ansatzpunkte für einen Innovationsprozess bieten, tut sich zunächst die Herausforderung auf, dass jede Liste dieser Dimensionen prinzipiell unabgeschlossen bleibt. Judith Butler bringt dies in Bezug auf die intersektionalen Bemühungen feministischer Theorien auf den Punkt:
„[a]uch Theorien […], die eine Reihe von Prädikaten wie Farbe, Sexualität, Ethnie, Klasse und Gesundheit ausarbeiten, setzen stets ein verlegenes ‚usw.‘ an das Ende ihrer Liste […] doch gelingt es ihnen niemals, vollständig zu sein.“ (Butler, 1991:210)16)
An dieser Stelle wird dem Problem der Unabgeschlossenheit begegnet, indem drei verschiedene solcher „Listen“ aus unterschiedlichen Traditionen, Disziplinen und Blickpunkten zum Vergleich mit den „Merkmalen“ der Demographischen Standards herangezogen werden:
Fragestellungen:
Berücksichtigte „Merkmale“ in den soziodemographischen Standards | AGG-Diskriminierungsdimensionen | Diversity-Dimensionen der RAA | Herrschaftsverhältnisse nach Degele/Winker | ||||
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Klassenv. / Klassismen | Geschlechterv. / Heteronormativismen | Rassenv. / Rassismen | Körperv. / Bodyismen |
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1 | Geschlecht | Geschlecht | Geschlechtliche Idenität | X | |||
2 | Alter | Alter | Alter | X | |||
Seniorität | |||||||
3 | Staatsangehörigkeit (+ optional Migrationshintergrund) | „Rasse“/„ethnische Herkunft“ | Staatsbürgerschaftsstatus | X | |||
Nationale Herkunft | |||||||
Kulturelle Identität | |||||||
Rassistische Zuschreibungen | |||||||
Sprache/Dialekt/Akzent | |||||||
4 | Familienstand (incl. Lebenspartnerschaft) + nicht rechtsverbindliche Partnerschaft | sexuelle Identität | Familienstand | X | |||
sexuelle Identiät | |||||||
5 | höchster allgemeinbildender Schulabschluss (bzw. angestrebte Schulabschluss) | - | Ausbildung | X | |||
6 | beruflichen Ausbildungsabschlüsse | X | |||||
7 | Erwerbssituation | - | Art des Arbeitsverhältnisses | X | |||
8 | Anzahl und Art der Beschäftigungsverhältnisse | - | X | ||||
9 | Arbeitsstunden pro Woche | - | X | ||||
10 | Status, wenn nicht erwerbstätig | Behinderung | geistige und körperliche Fähigkeiten | X | (X) | ||
11 | hauptsächlich ausgeübte berufliche Tätigkeit | - | Arbeitsinhalt/-feld | X | |||
12 | Stellung im Beruf und deren Einordnung | - | Managementstatus | X | |||
Funktion/Einstufung | |||||||
13 | Telekommunikationsmöglichkeiten des Haushalts | - | - | ||||
14 | Haushaltsgröße (insgesamt + mit Blick auf die Einkommensbezieher) | Elternschaft | X | (X) | (X) | ||
15 | Haushaltsnettoeinkommen | - | Einkommen | X | |||
16 | Nettoeinkommen der befragten Person | - | X | ||||
Religion oder Weltanschauung | Religion/Weltanschauung | ||||||
Gewerkschaftszugehörigkeit | |||||||
Netzwerke | |||||||
Soziale Herkunft | |||||||
Auftreten | |||||||
Aussehen | |||||||
Parteizugehörigkeit | |||||||
Freizeitverhalten | |||||||
Gewohnheit | |||||||
Geografische Lage/Wohnort | |||||||
Arbeitsort |
Ergebnisse:
„In der Diskriminierungsmessung geht es nicht lediglich um die vollständige Abfrage der demografischen Daten, sondern um eine Ausdifferenzierung dieser Identitätsdimensionen.“ (Baumann et al., 2018:82)27)
Deshalb soll im Folgenden für eine Auswahl der anschlussfähigen „Merkmale“ untersucht werden, inwieweit die aktuellen Operationalisierungs-Richtlinien der Demographischen Standards die Voraussetzungen für die Erhebung von Diskriminierungs-, Gleichstellungs- und Diversitätsdaten erfüllen. Der Fokus liegt dabei auf den „Merkmalen“, welche (hauptsächlich) auf die von den Demographischen Standards weniger fokussierten Herrschaftsverhältnisse (Geschlechterverhältnisse/Heteronormativismen, Rassenverhältnisse/Rassismen und Körperverhältnisse/Bodyismen) verweisen, da an diesen Stellen der höchste Bedarf für einen Innovationsprozess besteht („Merkmale“ 1-4).
Ahyoud et al. (2018:33)28)definieren sieben Kriterien für eine differenzierte Operationalisierung:
Die Kriterien 1, 5 und 6 liegen im Bestimmungsrahmen der Demographischen Standards und werden im Folgenden am Status Quo der Empfehlungen überprüft. Die Kriterien 2, 3, 4 und 7 werden an anderer Stelle (z.B. im internationalen Kodex der ICC/ESOMAR) geregelt und deshalb an dieser Stelle nicht weiter betrachtet.
A) Können die befragten Personen eine subjektive Selbstauskunft zu ihrem Identitätsverständnis in Bezug auf das erhobene „Merkmal“ geben?
B) Werden Informationen zu Fremdzuschreibung erhoben? (aus der „Auto-Hetero-Perspektive“)
C) Gibt es für die Befragten die Möglichkeit mehrere Identitäten anzugeben? (z.B. durch Mehrfachauswahl)
D) Findet die Auswahl der berücksichtigten Dimensionen sowie die Auswahl der vorgeschlagenen Erhebungsinstrumente in einem partizipativen Prozess mit von Diskriminierung betroffenen Menschen statt?
Vergleiche dazu: Statistisches Bundesamt 2016: 8–931)
A) Es wird eine Abfrage des personenstandsrechtlichen Geschlechts empfohlen. Das personenstandsrechtliche Geschlecht ist eine Fremdzuschreibung, die durch Mediziner*innen bzw. Sachverständige (im Fall einer Änderung des Personenstands nach Transsexuellengesetz (TSG)32)) legitimiert werden muss. Dieses entspricht nicht zwingend der subjektiven Geschlechtsidentität, es handelt sich lediglich um eine Annäherungsvariable (Proxyvariable) für die Selbstidentifikation.
B) Abhängig von einer vergeschlechtlichen Wahrnehmung von Körper, Ausdruck und Verhalten kann es sein, dass der Person in Alltagssituationen ein anderes Geschlecht zugeschrieben wird als das personenstandrechtliche Geschlecht. Eine Erhebung dieser alltägliche Fremdzuschreibung wird in den Empfehlungen nicht berücksichtigt, ist jedoch für Diskriminierungssituationen besonders relevant und wirksam (Baumann et al., 2018:20)33). Deshalb sollte eine Empfehlung für die Erhebung der selbstwahrgenommenen Fremdzuschreibung aus Auto-Hetero Perspektive ergänzt werden.
C) Die Empfehlungen berücksichtigen keine Möglichkeit, die subjektive Geschlechtsidentität anzugeben (siehe A). Für die Fremdzuschreibung des personenstandrechtlichen Geschlechts wird nur die Möglichkeit vorgesehen, „weiblich“ oder „männlich“ anzugeben. Eine Mehrfachantwort ist nicht möglich. Die Möglichkeit, keinen Geschlechtseintrag anzugeben, gibt es nur für Kinder, die nach 2013 geboren sind. Darüber hinaus ist eine Angabe anderer Geschlechter nicht vorgesehen (und personenstandsrechtlich nach aktueller juristischer Lage nur unter dem Sammelbegriff „divers“ als Geschlechtseintrag möglich – s.u.). Deshalb ist die Verwendung des personenstandsrechtlichen Geschlechts als Proxy-Variable für die subjektive Geschlechtsidentität nur sehr eingeschränkt sinnvoll und insbesondere eine Anschlussfähigkeit für die Lebensrealitäten von trans (inkl. nicht-binären), gender-fluiden, agender und inter Personen in Bezug auf Heteronormativismen meistens nicht möglich. Im Kontext von Diskriminierungsdaten ist ihre Unsichtbarkeit besonders fatal, da sie potenziell vulnerabel für Diskriminierungserfahrungen sind (Beigang et al., 2017: 100)34)
Im Zuge des geplanten Selbstbestimmungsgesetzes sind weitere gesetzliche Änderungen, u.a. eine vereinfachte Änderung des Personenstandes geplant (BMFFSJ, 2022).38)
Als Reaktion auf diese juristischen Neuerungen wurde auch die Operationalisierung von Geschlecht im Mikrozensus angepasst. Es wurden die Optionen ergänzt als personenstandsrechtliches Geschlecht „divers“ oder „kein Eintrag im Personenstandsregister“ auszuwählen. Eine Veröffentlichung der ersten Daten ist erstmals mit Abschluss der Kohorte von 2022 geplant (StBa, 2021:9)39)
Aus dem selbstdefinierten Anspruch der Demographischen Standards die aktuellen gesellschaftlichen Gegebenheiten abbilden zu wollen ergibt sich die Schlussfolgerung, dass eine Erneuerung der Empfehlungen als Reaktion auf die veränderten juristischen Gegebenheiten dringend notwendig ist. Gleiches gilt für das Kriterium einer bestmögliche Vergleichbarkeit mit der amtlichen Statistik. In der Version von 2016 findet sich bereits der Verweis auf eine mögliche Anpassung des Standards, falls der Mikrozensus eine Erhebung jenseits des binären Geschlechterkonzepts einführt (StBa, 2016:8-9).40)
D) Das vorgeschlagene Erhebungsinstrument orientiert sich an den gesetzlichen Regelungen zum Personenstand (aktuell TSG, PstG) sowie am Mikrozensus. Eine Partizipation von Menschen, die durch Geschlechterverhältnissen/ Heteronormativismen diskriminiert werden, ist nur indirekt durch deren Beteiligung an der Gesetzgebung (Interessenvertretung, Beratung) gegeben.
In einem Innovationsprozess sollte eine direkte Partizipation ermöglicht werden. Ein erster Schritt wäre, die Ergebnisse von partizipativen Forschungungsprojekten in die Empfehlungen einzubeziehen (z.B.: LesMigraS, 201244))
Weitere Vorschläge für die Operationalisierung von Geschlecht:
Vergleiche dazu: Statistisches Bundesamt 2016: 9)47)
A) Es wird eine Erfassung des kalendarischen Alters mittels Geburtsmonat und -jahr empfohlen (aus Datenschutzgründen keine Erfassung des Tages). Die Selbstwahrnehmung als jung oder alt ist nicht vorgesehen.
B) Die selbstwahrgenommene Fremdzuschreibung als (zu) jung oder (zu) alt oder ggf. die Abweichung von Selbst- und Fremdwahrnehmung wird nicht in den Empfehlungen berücksichtigt.
C) Eine Mehrfachantwort ist entsprechend der Operationalisierungs-Empfehlungen nicht möglich. Für die Dimension Alter ist eine Mehrfachidentität jedoch auch nur schwierig theoretisch fassbar (ggf. wäre eine situationsabhängige Wahrnehmung von Alter denkbar, jedoch schwierig operationalisierbar).
D) Es hat keine partizipative Entwicklung/Auswahl des Erhebungsinstruments stattgefunden. Ergebnisse von partizipativen Forschungsprozessen geben jedoch Hinweise darauf, dass die aktuelle Erhebung des Alters von Betroffenen nicht als problematisch bewertet wird: Baumann et al. (2018)48) finden in ihrer Analyse der Erhebung von Antidiskriminierungsdaten in repräsentativen Wiederholungsbefragungen zum Teil die gleiche Operationalisierung wie in den Demographischen Standards. In der Studie wurde mittels Gruppendiskussion mit Expert*innen eine Partizipation von Menschen ermöglicht, die aufgrund von Ageism (als eine Form von Körperverhältnis/Bodyism) Diskriminierung erfahren. In der Diskussion „wurden zur Erfassungsmethode des Alters in Befragungen keine Probleme deutlich“ und „daher keine Notwendigkeit gesehen, Entwicklungsperspektiven zu entwickeln.“ In der Konsequenz schätzen Baumann et al. die aktuelle Operationalisierung als „gänzlich problemlos“ (ebd.:101)49) ein, weisen jedoch auch auf die Relevanz von Selbst- und Fremdzuschreibung in Diskriminierungssituationen entlang von Körperverhältnissen/Bodyismen (v.a. Ageism) hin. Außerdem muss bedacht werden, dass im partizipativen Prozess die Bundesarbeitsgemeinschaft der Senioren-Organisationen (BAGSO) vertreten war, jedoch kein Jugendverband o.ä. (ebd.: 101)50) Dabei handelt es sich um eine relevante Limitation des partizipativen Prozesses, insbesondere mit Blick auf die Ergebnisse von Beigang et al. (2017:99)51): Sie konnten zeigen, dass unter 14- bis 29-Jährigen ein Fünftel der Befragten Diskriminierung anhand des Alters erlebt (die Altersgruppe mit dem prozentual höchsten Anteil!).
Vergleiche dazu: Statistisches Bundesamt 2016: 9-11)52)
Empfehlung bei Fokus auf „rechtliche Aspekte“ (ebd.:10)53)
A) Es wird die Abfrage der Staatsangehörigkeit empfohlen. Diese entspricht nicht zwingend der subjektiven nationalen Identität, es handelt sich lediglich um eine Annäherungsvariable (Proxyvariable) für die Selbstidentifikation.
B) Die Staatsangehörigkeit ist eine juristische Fremdzuschreibung. Es kann jedoch sein, dass der Person in Alltagssituationen eine andere Staatszugehörigkeit /nationale Identität zugewiesen wird als die tatsächliche juristische Staatsangehörigkeit (z.B. Fremdzuschreibungen von nicht-weißen Deutschen als „nicht-deutsch“ oder Fremdzuschreibung von asiatisch gelesenen Menschen aller Nationalitäten als „chinesisch“). Diese alltägliche Fremdzuschreibung ist für Diskriminierungssituationen besonders relevant und wirksam. Deshalb sollte die selbstwahrgenommene Fremdzuschreibung aus Auto-hetero Perspektive abgefragt werden. (Baumann et al., 2018:20)54)
C) Es gibt entsprechend der Operationalisierungs-Empfehlungen keine Möglichkeit die subjektive nationale Identität anzugeben (siehe A). Für die Fremdzuschreibung der Staatsangehörigkeit werden unterschiedliche Differenzierungsgrade als Optionen vorgeschlagen:
Von einer offenen Abfrage wird auf Grund der „kostenintensive Vercodung“ (StBA, 2016:10)56) abgeraten.
Eine Mehrfacherfassung von mehr als einer Staatsangehörigkeit ist nur für deutsche Staatsangehörige berücksichtigt. Darin kommt wiederum die binären Logik deutsch/nicht-deutsch zum Ausdruck. Für deutsche Staatsangehörige ist es demnach relevant, ob diese nicht doch ein bisschen „nicht-deutsch“ sind. Eine mehrfache Staatszugehörigkeit von Menschen, die von vornherein schon als nicht-deutsch kategorisiert werden, scheint demgegenüber nicht relevant, da die Information die Zuordnung zu „deutsch“ oder „nicht-deutsch“ nicht verändert. Hierin wird deutlich, dass der Fokus nicht auf einer Erfassung von mehrfach- und hybriden Identitäten liegt.
D) Es gab keine partizipative Entwicklung/Auswahl des Erhebungsinstruments. In einem Innovationsprozess sollte eine direkte Partizipation von Menschen, die auf Grund von Rassismen Diskriminierung erfahren ermöglicht werden. Ein erster Schritt wäre es die Ergebnisse von partizipativen Forschungsprojekten in die Empfehlungen einzubeziehen (z.B. der Afrozensus)57)
Weitere Vorschläge für die Operationalisierung von nationaler Identität/Zuschreibung: (Baumann et al., 2018:83ff)58)
Vergleiche dazu: Statistisches Bundesamt 2016: 9-1159)
Empfehlung bei Fokus auf „sprachlich-kulturelle Aspekte und mögliche Benachteiligungen“ (ebd.:10)60)
A) Der Migrationshintergrund wird im Nachhinein aus der Abfrage anderer Variablen generiert und nicht direkt abgefragt. Es wird stattdessen erhoben, ob die befragte Person oder ein Elternteil nach 1955 bzw. 1950 (optional Orientierung an Zensus oder Mikrozensus) zugewandert ist. Ist dies der Fall wird der Person ein Migrationshintergrund durch die Forschenden zugeschrieben (Fremdzuschreibung). Der so generierte Migrationshintergrund entspricht nicht zwingend der subjektiv empfundenen migrantischen Identität (also der subjektiven Relevanz einer eigenen Migrationserfahrung, oder einer Migrationserfahrung früherer Familiengenerationen für die eigene Identität).
Als Option zur weiteren Differenzierung wird empfohlen, das Geburtsland der befragten Person und ihrer Eltern abzufragen. Ähnlich wie die Staatsangehörigkeit entspricht auch das Geburtsland (bzw. das Geburtsland der Eltern) nicht zwingend der nationalen Identität (s.o.).
B) Der Migrationshintergrund ist eine fremdzugeschriebene Verwaltungskategorie. Es kann jedoch sein, dass Person in Alltagssituationen als migrantisch wahrgenommen werden, obwohl sie nach der oberen genannten Definitionen keinen Migrationshintergrund haben (z.B. die Enkelkinder türkeistämmiger Gastarbeiter*innen oder Afrodeutsche mit (Afro-)deutschen Eltern). Auch andersrum kann es sein, dass Menschen mit Migrationshintergrund (nach obiger Definition) im Alltag nicht als migrantisch gelesen werden (insbesondere weiß gelesene Menschen). Diese alltäglichen Fremdzuschreibungen sind für Diskriminierungssituationen besonders relevant und wirksam. Deshalb sollte die selbstwahrgenommene Fremdzuschreibung aus Auto-hetero Perspektive abgefragt werden. (Baumann et al., 2018:20)62)
C) Es gibt entsprechend der Richtlinien keine Möglichkeit, die subjektive migrantische Identität anzugeben. Die Fremdzuschreibung des Migrationshintergrunds ist eine binäre Entweder-oder-Kategorie und sieht keine Mehrfachnennung vor. Es wird jedoch als Option vorgeschlagen, zwischen „Personen mit eigener Migrationserfahrung und [solchen] ohne eigene Migrationserfahrung, bei denen die Eltern (Vater oder Mutter oder beide) [Migrationserfahrungen] haben“ (StBa, 2016:10)63) zu unterscheiden. Diese Differenzierung könnte als Index auf hybride Identitäten verweisen (Personen für die migrantisch sein oder nicht-migrantisch sein keine klare Entweder-oder-Entscheidung ist, die sich als post-migrantisch identifizieren, die sowohl von einem migrantischen Elternteil, als auch von einem nicht-migrantischen Elternteil geprägt wurden oder auch nur von dem nicht-migrantischen Elternteil oder Personen, die selbst keine Migrationserfahrung haben, jedoch durch Fremdzuschreibung und migrantische Eltern geprägt sind etc.)
D) Es findet keine partizipative Entwicklung/Auswahl des Erhebungsinstruments statt. In einem Innovationsprozess sollte eine direkte Partizipation von Menschen, die aufgrund von Rassismen Diskriminierung erfahren, ermöglicht werden. Ein erster Schritt wäre der Einbezug von Ergebnisse aus partizipativen Forschungungsprojekten in die Empfehlungen (z.B. der Afrozensus)64)
Weitere Vorschläge für die Operationalisierung von migrantischer Identität/Fremdzuschreibung: (Baumann et al., 2018:83ff)65)
Vergleiche dazu: Statistisches Bundesamt 2016: 11+4168)
A) Es wird eine Erhebung des Familienstand als juristische Kategorie empfohlen. Dort wird zwischen ledig, verheiratet zusammen-lebend, in einer eingetragenen Lebenspartnerschaft (eLp) zusammen-lebend, getrennt-lebend (Ehe + eLp), geschieden (bzw. eLp aufgehoben) und verwitwet (bzw. eLp verstorben) unterschieden. Der Familienstand ist eine Verwaltungskategorie und kann durch die Unterscheidung zwischen Ehe und eingetragener Lebenspartnerschaft lediglich einen Hinweis auf das Geschlechterverhältnis in aktuellen oder ehemaligen rechtsverbindlichen Partnerschaften geben. Da sich die Einordnung des Geschlechterverhältnisses als verschieden oder gleichgeschlechtlich auf das personenstandsrechtliche Geschlecht bezieht, deckt sich das Geschlechterverhältnis nicht zwingend mit dem Verhältnis zwischen den subjektiven Geschlechtsidentitäten der Partner*innen. Außerdem lässt sich aus dem Geschlechterverhältnis in der aktuellen Partnerschaft nicht zwingend die sexuelle Orientierung/Identität ableiten: Menschen gehen aus unterschiedlichen Gründen mit Menschen eines Geschlechts rechtsverbindliche Partnerschaften ein, zu denen sie sich nicht unbedingt entsprechend ihrer subjektiven sexuellen Orientierung/Identität hingezogen fühlen (steuerliche, sorgerechtliche oder aufenthaltsrechtliche Vorteile, aus Angst vor Diskriminierung, aufgrund von internalisierten Heteronormativismen oder romantischer nicht-sexuelle Anziehung usw.).
Insbesondere für Menschen, die sich aktuell nicht in einer Partnerschaft befinden, und Menschen in nicht-rechtsverbindlichen Partnerschaften bietet die Variable „Familienstand“ keinen Verweis für die subjektive sexuelle Orientierung/Identität im Sinne einer Proxy-Variablen.
B) Der Familienstand ist eine fremdzugeschriebene Verwaltungskategorie. Aus dem Familienstand lässt sich nicht zwingend ableiten, ob Menschen in alltäglichen Situationen als Paar wahrgenommen werden (insbesondere da nur rechtsverbindliche Partnerschaften berücksichtigt werden). In den Empfehlungen wird keine Abfrage der besonders diskriminierungsrelevanten alltäglichen Fremdwahrnehmung der sexuellen Identität aus Auto-Heteroperspektive berücksichtigt.
C) Eine Angabe mehrerer Personenstände ist nicht vorgesehen (und juristisch nicht möglich). Gleichzeitig bestehende nicht-rechtsverbindliche Partnerschaften (mehrere Partnerschaften, nicht monogame Partnerschaften) sind somit nicht sichtbar. Da keine Informationen zur sexuellen Identität direkt abgefragt werden, gibt es dementsprechend auch in Bezug auf diese Dimension keine Möglichkeit der Mehrfachidentifikation. Auch für Beziehungen, deren Geschlechterverhältnis der subjektiven sexuellen Orientierung/Identität entspricht, lässt sich nicht ableiten, ob dieses das einzige entsprechend der subjektiven sexuellen Orientierung/Identität „mögliche“ Geschlechterverhältnis ist (z.B. bi oder, pansexuelle Personen).
D) Es findet keine partizipative Entwicklung/Auswahl des Erhebungsinstruments statt. In einem Innovationsprozess sollte eine direkte Partizipation von Menschen ermöglicht werden, die in Bezug auf Heteronormativismen, insbesondere in Bezug auf sexuelle Identität Diskriminierung erfahren. Ein erster Schritt wäre der Einbegzug der Ergebnisse partizipativer Forschungungsprojekte in die Empfehlungen (z.B.: LesMigraS, 201271))
Weitere Vorschläge für die Operationalisierung von sexueller Orientierung: Bauman et al. (2018:101ff)72)
Vergleiche dazu: Statistisches Bundesamt 2016: 11+4173)
A) Es wird empfohlen, zusätzlich zum Familienstand abzufragen, ob eine nicht rechtsverbindliche Partnerschaft besteht. Dabei handelt es sich um eine subjektive Selbst-Definition des aktuellen Beziehungsstatus. Es werden jedoch nur Partnerschaften zu im Haushalt lebenden Personen berücksichtigt. Aufgehobene nicht rechtsverbindliche Partnerschaften (auf Grund von Trennung oder Tod) werden ebenfalls nicht erfasst.
Es liegen keinerlei Informationen über das Geschlechterverhältnis vor, die als Index für die subjektive sexuelle Identität genutzt werden können.
B) In den Empfehlungen ist keine Abfrage der alltäglichen Fremdwahrnehmung des Beziehungsstatus oder der sexuellen Identität aus Auto-Heteroperspektive vorgesehen.
C) Die Fragestellung impliziert nur eine einzelne Beziehung zu einer einzelnen Person. Nicht-monogame Partnerschaftskonzepte können nicht angegeben werden. Eine Mehrfachangabe ist nicht möglich. Da keine Informationen zur sexuellen Identität abgefragt werden, gibt es dementsprechend auch in Bezug auf diese Dimension keine Möglichkeit der Mehrfachidentifikation.
D) Es findet keine partizipative Entwicklung/Auswahl des Erhebungsinstruments statt. In einem Innovationsprozess sollte eine direkte Partizipation von Menschen ermöglicht werden, die in Bezug auf Heteronormativismen, insbesondere in Bezug auf sexuelle Identität, Diskriminierung erfahren. Ein erster Schritt wäre der Einbezug der Ergebnisse partizipativer Forschungsprojekte in die Empfehlungen (s.o. zu Familienstand)
„Die Abfrage soziodemografischer Merkmale ist durch ihre historische Tradition leider nicht immer diskriminierungsfrei.“ (Döring & Bortz, 2016:266)74)
Worauf Döring und Bortz in ihrem Methodenhandbuch als Teil ihrer „praktischen Hinweisen zur Messung soziodemografischer Merkmale“ hinweisen, lässt sich auch aus der hier vorliegenden Analyse der Demographischen Standards ableiten: Obwohl praktisch alle in den Standards aufgenommenen Variablen auf Diskriminierungs- und Vielfaltsdimensionen und die zugrundeliegenden Herrschaftsverhältnisse verweisen und damit als Indizes für Diskriminierungs-/Vielfalts- und Gleichstellungsdaten in Frage kommen, erfüllen sie nur sehr begrenzt die Kriterien, die für eine differenzierte Operationalisierung diskriminierungsrelevanter Variablen nötig wären. Darüber hinaus wird deutlich, dass in die Operationalisierung der Soziodemographischen Variablen selbst die Logiken der Herrschaftsverhältnisse eingeschrieben sind (Homogenisierung von Menschen die im gleichen Land (außerhalb Deutschlands) geboren sind, Unsichtbarmachung von Geschlechtsidentitäten außerhalb der binären Geschlechtsvorstellung etc.). Als Instrument der Wissenschaft und amtlichen Statistik spielen sie so nicht nur eine Rolle in der Analyse von Diskriminierung und Ungleichheit, sondern sind selbst auch ein Teil der Herrschaftsverhältnisse (Heteronormativismen, Rassismen, Bodyismen, Klassismen). Durch die Standardisierung werden die Logiken der Herrschaftsverhältnisse immer wieder reproduziert und dadurch stabilisiert, und in die durch sie strukturierten Daten sowie das in der Folge produzierte Wissen eingeschrieben. Das häufignicht ausreichende Bewusstsein für die Konstruiertheit sozialdemographischer Variablen führt dazu, dass diese reifizierenden Effekte der Messinstrumente noch weniger einem Reflexionsprozess zugeführt werden.
Darin wird umso mehr die Relevanz deutlich, die den Demographischen Standards als Ansatzpunkt für einen Innovationsprozess zukommt. Dieser bewegt sich grundsätzlich in der Spannung zwischen der Chance, die in den bereits vorhandenen Verweisen auf Diskriminierungsdimensionen/Herrschaftsverhältnissen steckt, den forschungspraktischen Herausforderungen, die mit einer differenzierteren Erhebung von Variablen einhergehen und dem Wissen um die Macht von Standardisierungen in der (Re-)Produktion von Herrschaftsverhältnissen.
Durch den vielfältigen Einsatz soziodemographischer Variablen in der empirischen Sozialforschung könnte eine verbesserte Operationalisierung weitreichende Folgen haben, die im besten Fall dazu beitragen, bestehende Diskriminierung und dahinterliegende Machtstrukturen sichtbar zu machen und durch umfassendere Antidiskriminierungs- und Gleichstellungsdaten „auf eine tatsächliche Gleichstellung von Menschen […] hinzuarbeiten.“ (Ahyoud et al., 2018:29)77)