Dieser Artikel behandelt die ersten zwei Kapitel des Buches Situationsanalyse: Grounded Theory nach dem Postmodern Turn von Adele Clarke.
Bevor auf die ersten Kapiteln eigegangen werden, kann müssen zwei grundlegende Fragen beantwortet werden: was ist der Postmodern Turn und warum ist/sind neue Methoden erforderlich?
In der Postmoderne wird die Komplexität und Heterogenität von Wissensgenerierung und Wissen, bzw. von der Welt anerkannt, d.h. die Schwerpunkte der Postmoderne liegt -im Gegensatz zu der Moderne- auf dem „Partikularismus, Positionalitäten, Komplikationen, Substanzlosigkeit, Instabilitäten, Unregelmäßigkeiten, Widersprüche, Heterogenität, Situiertheit und Fragmentierung“ (Clarke 2012: 26). Wissen wird von verschiedenen „historisch oder geographisch lokalisierbaren Gruppen von Menschen produziert und konsumiert“ (Clarke 2012: 27). Es ist deswegen immer zu beachten, wie es entsteht oder entstanden ist. Neue postmoderne Ansätze zur Wissensgenerierung gehen der Frage nach: „Wer ist dazu berechtigt und nicht dazu berechtigt, welche Art von Wissen über wen/was und unter welchen Bedingungen zu generieren?“ (Clarke 2012: 27) Somit konnten sie in den letzten Jahrzehnten den Diskursen und dem Wissen über „anders situierten Menschen, Dinge und Themen“ (Clarke 2012: 27) gegenübertreten und widersprechen, welches von Personen und Institutionen mit größerer Macht und Legitimität generiert wurde. Dies führte nicht nur zu der Anfechtung quantitativer, sondern auch qualitativer Methoden und Theorien der Wissensgenerierung (Clarke 2012: 28).
Durch die Anerkennung von heterogenen und vielschichtigen Welten, in denen komplexe, ineinander verschachtelte und teils widersprüchliche Situationen und Phänomene betrachtet werden, wurde die Stimme nach neuen Methoden laut, die diese Komplexität berücksichtigen, abbilden und erklären können. Es werden Methoden gesucht, die nicht nur diese Komplexität ergreifen können, sondern auch situationsbedingte Veränderungen, Strukturen und Beständigkeiten, sowie „Widersprüche, Ambivalenzen und Belanglosigkeiten“ (Clarke 2012: 31) von Positionen als auch Akteuren darlegen können. Diese Methoden sollen ermutigen die Heterogenität dieser Welt(en) darzulegen und neue (noch) ungehörte und ungesehene Perspektiven aufzeigen (Clarke 2012: 31). Sie sollen sich in der Forschungssituation auf bedeutende Diskurse beziehen und über das Individuum als Forschungsmittelpunkt hinausgehen (Clarke 2012: 31).
Diesem versucht Clarke durch die Erweiterung der traditionellen Grounded Theory mittels der Situationsanalyse gerecht zu werden.
Die Grounded Theory (GT) ist in dem Symbolischen Interaktionismus verankert, welcher stark von dem Mead´schen Begriff der Perspektive geprägt wurde und hat somit dem postmodern turn schon immer in sich (Clarke 2012: 43). Der Begriff der Perspektive kann man mit dem heutigen situierten Wissen gleichsetzen (Clarke 2012: 43). Damit ist gemeint, dass die untersuchte Person aus ihrer Perspektive repräsentiert wird (Clarke 2012: 43). Doch der Symbolische Interaktionismus ist nicht gänzlich von positivistischen Einflüssen befreit, daher muss auch die in ihm verankerte Grounded Theory durch den postmodern turn geschoben werden, um den Anforderungen der Postmoderne zu genügen (Clarke 2012: 43). Daher wird dieses Kapitel sich damit beschäftigen, die Grounded Theory als ein im symbolischen Interaktionismus verankertes Theorie-Methode-Paket zu beschreiben, wie die Grounded Theory den postmodern turn schon immer in sich hatte und warum und wie sie von „außen in diese Wende gestoßen werden muss“ (Clarke 2012: 43).
Als Theorie-Methoden-Paket beinhaltet die Grounded Theory bzw. der Symbolische Interaktionismus „eine Reihe von erkenntnistheoretischen und ontologischen Annahmen samt konkreter Verfahrensweisen“ (Clarke 2012: 46). Diese werden in der Praxis angewandt, „einschließlich in Bezug auf ihre Beziehung mit/zu einander sowie mit/zu den verschiedenen nichtmenschlichen Entitäten, die in der Situation enthalten sind.“ (Clarke 2012: 46) Der Fokus liegt daher auf Annahmen der Ontologie, sowie Epistemologie und Praxis (Clarke 2012: 46).
Durch ihre Verankerung in dem Symbolischen Interaktionismus hatte die Grounded Theory schon immer den postmodern turn in sich. Im Folgenden werden diese postmodernen Eigenschaften beschrieben.
Clarke verfolgt Analyse- und Forschungsansätze, die die Variationsbreite des sozialen Lebens betonen und nicht vertuschen (Clarke 2012: 53). Daher stellt sie einige „Widerspenstigkeiten“ in der Grounded Theory fest, die mit diesem Ansatz nicht im Einklang stehen und positivistische Eigenschaften aufweisen.
Die traditionelle Grounded Theory beinhaltet verschiedene Reflexivitätsprobleme. Das erste beginnt mit der Forderung oder Annahme, dass sich der/die Forscher/in in einer Forschungssituation unsichtbar machen soll und kann (Clarke 2012: 54), was eine Illusion ist. Die zweite fordert auf, dass der/die Forscher/in eine tabula rasa sein soll (Clarke 2012: 55). Er/sie soll ohne Vorwissen und Erfahrungen an den Forschungsprozess herantreten, um seine/ihre Wahrnehmung und Analysen der Daten dadurch nicht zu beeinflussen. Dies gleicht aber einer Unmöglichkeit, da „die eigenen Erfahrungen und Interessen der Forscher in ihrem jeweiligen Forschungsgebiet oft ziemlich umfangreich“ (Clarke 2012: 55) sind. Ein weiterer Punkt ist der Gebrauch von Vorwissen und Erfahrung. Erfahrungen werden in der traditionellen Grounded Theory als Analyseinstrument gesehen (Clarke 2012: 55). Aber die eigene Erfahrung ist nur eine von vielen Perspektiven und darf weder benachteiligt noch bevorzugt behandelt werden (Clarke 2012: 55). Bevor ein/e Forscher/in mit seiner/ihrer Forschung beginnt, hat er/sie meist ein Studium absolviert und sich einer ausführlichen Literaturrecherche in seinem/ihrem Themengebiet unterworfen (Clarke 2012: 55). Dieses umfangreiche Wissen ist für Promotionsanträge und für die Beantragung von Fördergeldern unumgänglich (Clarke 2012: 55). Clarke befürwortet Vorwissen, da der/die Forscher/in durch es Zeit und Energie spart (Clarke 2012: 55). Sie fordert die Forschungsmethoden in den wissenschaftlichen Arbeiten sichtbar zu machen (Clarke 2012: 56).
In der traditionellen Grounded Theory kommt es durch Vereinfachungen in Forschungsberichten zu Verzerrungen, die (nicht vorhandene) Kohärenz und Gemeinsamkeiten erzeugen (Clarke 2012: 58). Dies führt zu Dualismus und der Kreierung von den „Anderen“ (Clarke 2012: 58), da jegliche Heterogenität, multiple Positionen und Unregelmäßigkeiten verloren gehen.
Eine weitere Widerspenstigkeit ist die Ermutigung die Analyse in einen Hauptprozess und mehrere Teilprozesse zu unterteilen. Es wird unterstützt, sich auf einen singulären basic social process zu konzentrieren anstatt multiple soziale Prozesse „als Charakteristikum eines bestimmten Phänomens zuzulassen“ (Clarke 2012: 58).
Des Weiteren werden die Untersuchungseinheiten in normale und abweichende Fälle unterteilt. Somit kommt es zu der Bezeichnung von negativen Fällen oder Datenausreißer (Clarke 2012: 59). Auch hier wird ein Dualismus erzeugt und jegliche Heterogenität unterdrückt (Clarke 2012: 59).
Der letzte widerspenstige Punkt bezieht sich auf die positivistische Denkweise einiger Anhänger der traditionellen Grounded Theory, nämlich in der eigenen Forschung möglichst objektiv und unverfälscht zu sein (Clarke 2012: 59). Sie streben nach diesen Vorgaben und halten sie für umsetzbar (Clarke 2012: 59).
Die Grounded Theory kann durch den postmodern turn gestoßen werden, indem die oben genannten Widerspenstigkeiten überwunden und ihre schon immer postmodernen Vorzüge gestärkt werden. Die Strategien dafür werden im Folgenden vorgestellt.
Die Situationsanalyse wird in dem zweiten Kapitel in einen historischen und wissenschaftstheoretischen Kontext gestellt. Zuerst wird dabei besonders auf ihre Verankerung in den Symbolischen Interaktionismus der Chicagoer School und Strauss` soziale Welten/Arenen/Diskurse eingegangen. Dann werden drei neue Wurzeln besprochen, welche die Grounded Theory durch die Situationsanalyse neu eingliedern. Erstens Foucault durch seine diskurstheoretische Wende im Hinblick auf Diskurse, Praxisfelder und der Blick der Macht; zweitens die ausdrückliche Berücksichtigung nichtmenschlicher Elemente in Forschungssituationen und drittens die Weiterentwicklung der Analyse von Sozialen Welten/Arenen hin zu Situationsmaps und Situationsanalysen mittels Mapping.
Die Ansätze von den Sozialökonomen der Chicago School und den Mapping-Strategien des Symbolischen Interaktionismus, ethnographische Studien (die relationale, ökologische Maps benutzten) und Maps der sozialen Welten/Arenen von Strauss bilden die Leitmetaphern für die Weiterentwicklung der Grounded Theory-Ansätze durch die Situationsanalyse von Clarke (Clarke 2012: 79).
Die kartographischen Methoden, die in der Situationsanalyse verwendet werden, sind verwurzelt in dem Symbolischen Interaktionismus der Chicago School (Clarke 2012: 80). Die Chicago School war berühmt durch die Untersuchungen von Gemeinschaften bzw. Gemeinschaftsaktivitäten innerhalb eines Raumes, Gemeinschaften, Organisationen, Schauplätze und Kollektive wurden mittels Karten/Maps abgebildet (Clarke 2012: 80f.). Diese sollten „hinsichtlich ihrer Standorte oder Situationen explizit in Zusammenhang zueinander sowie in ihrem größeren Kontext betrachtet werden“ (Clarke 2012: 81). Gerade die Abbildung der Beziehungen der einzelnen Elementen zueinander ist die große Stärke dieser Maps (Clarke 2012: 81).
In den 1950er und 1960er Jahren verschob sich die Forschung von „sozialen Ganzheiten“ (Clarke 2012: 85) insoweit, dass geographische Grenzen nicht mehr relevant waren. Sie wurden durch „gemeinsame Diskurse“ (Clarke 2012: 85) abgelöst.
Schlussendlich wurde eine neue Art zur Untersuchung von diesen „sozialen Ganzheiten“, die „soziale Welten-Theorie“ (Clarke 2012: 86), hervorgebracht.
Soziale Welten (z.B. „Freizeitgruppe, ein Beruf“ (Clarke 2012: 86)) kann man als kollektive Akteure verstehen, die innerhalb einer Arena in „Aushandlungen und Konflikte involviert“ (Clarke 2012: 77) sind. In dieser Situation sind nicht nur Individuen, sondern auch nichtmenschliche und hybride Akteure, sowie Diskurse inkludiert (Clarke 2012: 77). Die Akteure in der Situation/Arena haben sowohl Perspektiven als auch Verpflichtungen, die mittels Diskurse ausgedrückt werden, somit können Arenen als Orte gesehen werden, in denen dieser Diskurs stattfindet (Clarke 2012: 77). Sie sind meist langlebig und beinhalten daher vielschichtige, komplexe, teilweise auch widersprüchliche Diskurse (Clarke 2012: 77). Soziale Welten können nicht nur Diskurse produzieren, „sie werden auch in den Diskursen anderer sozialer Welten konstruiert“ (Clarke 2012: 77). Die Teilnahme von Akteuren in sozialen Welten ist normalerweise fließend (Clarke 2012: 86). Arenen zeigen auch Auseinandersetzungen und Spannungen zwischen verschiedenen Akteuren, da sie verschiedene Perspektiven und Verpflichtungen haben (Clarke 2012: 77f.). Diese Verpflichtungen werden gleichzeitig als „Identitätsbildung als auch Handlungsdisposition“ (Clarke 2012: 86) gesehen.
In sozialen Welten/Arenen können auch implicated actors vorkommen, d.h. Akteure sind nur diskursiv anwesend oder sind physisch anwesend, besitzen aber keine Stimme zum Sprechen (Clarke 2012: 86). Dieses Konzept ermöglicht es Machtverhältnisse darzustellen und der Frage nachzugehen, wer in einer Situation/Arena sprechen darf und wer nicht. Aber auch die Auswirkungen der Entscheidungen/Handlungen Mächtiger auf die weniger Mächtigen zu zeigen (Clarke 2012: 86). In sozialen Welten/Arenen gibt es auch implicated actants, d.h. nichtmenschliche Akteure in einer Situation (Clarke 2012: 88). Auch sie können diskursiv oder physisch präsent sein (Clarke 2012: 88).
Soziale Welten können auch in Subwelten oder andere Segmente untergliedert sein, oder können sich auch überschneiden (Clarke 2012: 88).
Wenn man daher eine soziale Welt verstehen will, muss man, „alle Arenen, in denen die Welt involviert ist sowie die anderen Welten in diesen Arenen und die damit verbundene Diskurse verstehen […], da diese sich alle gegenseitig beeinflussen“ (Clarke 2012: 89).
Soziale Welten/Arenen sind eine Variante von Situations-Maps, die Clarke benutzt.
Zusammenfassend ist zu sagen, dass die analytische Stärke der sozialen Welten /Arenen-Theorie, die auf die Sozialökologie der Chicago School zurückgeht, ihre Anpassungsfähigkeit ist und somit Situationen mit unterschiedlichen Komplexitätsgraden untersucht werden können (Clarke 2012: 92).
Die Grounded Theory wird durch die Situationsanalyse mittels drei Wurzeln neu verankert, diese werden wie folgt dargelegt.
Die Konzepte von Strauss und Foucault haben einige gemeinsame Momente, ihre Überschneidungen können wichtige interaktionistische Konzepte der Situationsanalyse neu beleben und transformieren (Clarke 2012: 92). Ihnen liegen besonders „ähnliche Konzeptualisierungen von Praktiken als grundlegende Prozesse des Handelns“ (Clarke 2012: 92) und ähnliche Konzeptzusammenhänge ihrer Mesoebenen zugrunde. Dazu gehören die folgenden drei Aspekte:
Foucault bettet seine Diskurs/Disziplin-Konzepte ausdrücklicher in das Konzept der Macht ein als Strauss soziale Welten/Arenen (Clarke 2012: 96). Nach Strauss werden soziale Welten auch als Diskursuniversen bezeichnet (Clarke 2012: 96), dies ist wichtig, um die Verbindung der Konzepte von Foucault und Strauss zu verstehen. Individuen und Kollektive werden laut Foucault durch „Diskurse und Disziplinierungen konstituiert“ (Clarke 2102: 96). Individuen & Kollektive werden nach Strauss „durch ihre Teilnahme an sozialen Welten und Arenen einschließlich ihrer Diskurse produziert“ (Clarke 2012: 96). Die wichtigste Verbindung zwischen beiden ist, dass die Herstellungsprozesse durch Routinepraktiken erzeugt werden und von außen aufgezwungen sind (Clarke 2012: 96).
Foucault stimmt mit den Interaktionisten überein, dass Handeln gleich Interaktion bedeutet (Clarke 2012: 96). Der Unterschied bei ihm ist, dass er nicht die zwischenmenschliche Interaktion meint, sondern Interaktionen von Praktiken (Clarke 2012: 96). In Foucaults Feld der organisierten Praktiken gilt, dass Disziplinierung eine Reihe von Organisationspraktiken ist (Clarke 2012: 96). Diese stellen Regeln her, die veranlassen, dass Individuen sich selbst zu Subjekten formen (Clarke 2012: 97). Das Praxisfeld (Foucault) weist daher eine Ähnlichkeit zu soziale Welten/Arenen (Strauss) auf (Clarke 2012: 97). Innerhalb des Feldes der Praktiken gibt es Möglichkeitsbedingungen, „die zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt in einem bestimmten Feld von organisierten Praktiken gegeben sind“ (Clarke 2012: 97). Laut Clarke beinhalten diese Möglichkeitsbedingungen Elementen der Situation, wie Chancen, Ressourcen und Zwängen (Clarke 2012: 97).
In Strauss` sozialen Welten/Arenen liegt der Schwerpunkt auf der Handlung, die wiederum in der kollektiv oder individuell verrichteten Arbeit von Personen liegt (Clarke 2012: 97). Arbeit ist „in Gestalt von einer Reihe von Praktiken organisiert“ (Clarke 2012: 97), die mit sozialen Welt(en) verbunden sind. Kommt es innerhalb oder zwischen den sozialen Welten zu Konflikten, müssen diese durch Aushandlungen oder andere Prozessen bewältigt werden (Clarke 2012: 97). Die Annahme von widersprüchlichen Konflikten und Handlungen stimmt mit denen von Foucault überein (Clarke 2012: 97).
Soziale Welten überwachen zum Teil auch Diskurse und Handlungen von anderen sozialen Welten, solange sie in den gleiche Arenen sind (Clarke 2012: 97). Somit bilden Aushandlungen den Kern von sozialen Welten/Arenen und sind vergleichbar mit den Möglichkeitsbedingungen von Foucault (Clarke 2012: 98). Beide lehnen eine Prädeterminiertheit von Ergebnissen ab (Clarke 2012: 98).
Im dritten Schritt vergleicht Clarke den Blick der Macht von Foucault mit der Perspektive von Strauss. Foucault beschreibt den Blick der Macht als hegemonische Blick-/Sichtweise, die andere Perspektiven/Blicke unterdrückt oder verdeckt (Clarke 2012: 99). Der Blick der Macht kann auch Disziplinierung bewirken und ist internalisiert (Clarke 2012: 99). Der Fokus auf Disziplinierungsprozesse bewirkt die Dezentralisierung des Subjektes (Clarke 2012: 99). Das Konzept des Blickes verbindet die Konzepte von Diskurs und Macht mit dem der Perspektive (Clarke 2012: 99). Dies ist essentiell, um den Interaktionismus bzw. Grounded Theory vollständig durch den postmodern turn zu bringen (Clarke 2012: 99). Durch das Hinzufügen anderer Betrachtungweisen von Perspektiven (Interaktionismus) und Entitäten sowie die Abbildung von vielen Perspektiven in der zu analysierenden Situation, wird der Blick der Macht von Foucault erweitert, indem sein hagiographischen Moment unterbrochen wird ohne auf seine Analyse zu verzichten (Clarke 2012: 99). Somit können beide Konzepte die Situationsanalyse bereichern.
In dem nächsten Abschnitt wird auf das Nichtmenschliche in Situationen eingegangen, welches schon eine längere Tradition in der Grounded Theory hat, aber bisher ohne „methodische Reflexion“ (Clarke 2012: 101) erfolgte. Die Betonung des Nichtmenschlichen beruht auf der Akteur-Netzwerk-Theorie, welche von Akrich, Callon, Latour und Law entwickelt wurde (Clarke 2012: 101). Sie verdrängt den Menschen als Analyseschwerpunkt und erkennt dem Nichtmenschlichem und Hybriden ein Eigenleben und allgegenwärtige Handlungsmacht zu (Clarke 2012: 102, 105). Sie sprengen somit den Dualismus von einem technischen Herzstück und einem gesellschaftlichem Gehäuse (Clarke 2012: 102). Durch die Handlungsmacht von hybriden und nichtmenschlichen Elementen werden Selbstverständlichkeiten und alte Muster und Denkweisen eingerissen (Clarke 2012: 102). Das Nichtmenschliche, Hybride und Menschliche sind ko-konstitutiv, da sie die Welt und sich gegenseitig konstituieren (Clarke 2012: 104). Nichtmenschliche und hybride Aktanten „konditionieren die Interaktionen in der Situation strukturell durch ihre spezifischen Materialeigenschaften und –anforderungen sowie durch unsere Verpflichtungen ihnen gegenüber“ (Clarke 2012: 104).
Mittels Kritik an Strauss´/Corbins Bedingungsmatrizen des Handelns wird gezeigt, wie das soziale Welten/Arenen-Modell durch Maps zur Situationsanalyse weiterentwickelt werden kann.
Nach Strauss kann Handeln als eine „situierte Tätigkeit“ (Clarke 2012: 107) gesehen werden. Demnach werden in einer Analyse der Situation Bedingungen erfasst unter denen eine Handlung einfacher, schwieriger, etc. wird (Clarke 2012: 107). Diese Hilfsmittel werden Bedingungsmatrizen genannt (Clarke 2012: 107). Strauss´/Corbins Bedingungsmatrizen sind in verschiedene Ebenen eingeteilt: international, national, (eventuell) Ebene der Gemeinschaft (community), der organisationalen, institutionellen/lokalen Gruppen und das Individuum (Clarke 2012: 107). Im Mittelpunkt der Bedingungsmatrizen steht das routinierte oder strategische Handeln und wird von „strukturellen/kontextuellen Bedingungen in konzentrischen Kreisen umgeben“ (Clarke 2012: 107f.). Diese konzentrischen Kreise sind strukturelle Rahmenbedingungen, in dessen Innern der Mittelpunkt der Untersuchung liegt (Clarke 2012: 109).
Clarke jedoch kritisiert die Bedingungsmatrizen von Strauss/Corbin, da sie sich nicht für eine konzeptionelle Analyse der Grounded Theory Methode eignen (Clarke 2012: 112). „Strauss signalisiert die potentielle Wichtigkeit der Strukturelemente von Situationen auf zu abstrakte Weise, anstatt darauf zu bestehen, dass deren konkrete und detaillierte empirische Beschreibung sowie klare Erläuterung ein unverzichtbarer Bestandteil der Grounded Theory-Analyse ist“ (Clarke 2012: 112). Clarke möchte diesen Ansatz mittels Mapping-Strategien erweitern und somit die Bedingungen einer Situation wiederzugeben (Clarke 2012: 112).
Clarke beschreibt ihre Situationsmatrix wie folgt: „Die Bedingungen der Situation sind in der Situation enthalten.“ (Clarke 2012: 112) Es kann somit auch kein Kontext existieren, da die Elemente in einer Situation die Situation selbst sind (Clarke 2012: 112). Dies stellt Clarke auch in ihrer Situationsmatrix dar. Die Elemente sind in der Situation eingegliedert und nicht wie bei Strauss/Corbin um sie herum (Clarke 2012: 113). Sie sind mit ihren „ethnographischen, diskursiven, nichtmenschlichen, technologischen und anderen Besonderheiten“ (Clarke 2012: 113) für die Situation konstitutiv. Die verschiedenen Elemente beeinflussen sich und konstituieren sich zum Teil auch gegenseitig (Clarke 2012: 114).
Das Diagramm stellt die Gänze der zu untersuchenden Situation dar und beinhaltet organisationale/institutionelle Elemente, diskursive Konstruktionen von Akteuren, politische/ökonomische Element, nichtmenschliche Elemente, individuelle und kollektive menschliche Element, räumlich und zeitliche Elemente, bedeutende Streitpunkte, lokale bis globale Elemente, soziokulturelle Elemente, symbolische Elemente, populäre und andere Diskurse und andere empirische Elemente. Clarkes Konzept der Situation ist sehr elastisch zu verstehen und die Grenzen, d.h. Anfang und Ende der Situation, sind mit der empirischen Fragestellung festzulegen (Clarke/Keller 2014: 76). Es kommt immer drauf an, wie Wissenschaftler/innen ihr Projekt entwerfen, denn dies setzt einen Rahmen für die Situation, die betrachtet wird, die erhobenen Daten und die Analyse (Clarke/Keller 2014: 76). Diese Elastizität ermöglicht es der Situationsanalyse über verschiedene Disziplinen hinweg angewendet zu werden (Clarke/Keller 2014: 76).
Die drei Mapping Ansätze, die in der Situationsanalyse angewandt werden, finden eine genauere Erläuterung in Kapitel 3 & 4.
Zuletzt geht Clarke auf die Verantwortlichkeit bei Projektgestaltung und Datenerfassung ein. Das Verantwortungsbewusstsein, sowie die Rechenschaftspflicht haben in den letzten Jahren stark an Bedeutung dazu gewonnen und sind stärker verankert und situiert (Clarke 2012: 114ff.). Offenheit, Verantwortung und Rechenschaftspflicht versucht man mittels durchdachtem, reflexivem Forschungsdesign sowie durch anschließende Strategien der Auswahl/Sammlung von Daten zu erreichen (Clarke 2012: 116). Durch die Verwendung von sensibilisierenden Konzepten kann man „Forschung mithilfe vorhandener Literatur und Situierung des vorgeschlagenen Forschungsprojekts in dieser Literatur eingrenzen und fokussieren, ohne dabei eine vorzeitige theoretische Schließung zu bewirken“ (Clarke 2012: 118).
Clarke, Adele E. & Keller, Reiner (2014). Engaging Complexities: Working Against Simplification as an Agenda for Qualitative Research Today. Adele Clarke in Conversation With Reiner Keller [137 paragraphs]. Forum Qualitative Sozialforschung/Forum: Qualitative Social Research. 15(2). Art.1, http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0114-fqs140212.
Clarke, Adele E. & Keller, Reiner [Hrsg.] (2012): Situationsanalyse. Grounded Theory nach dem Postmodern Turn; VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden.