Dieser Artikel behandelt die Kapitel 3 und 4 in Clarkes Publikation Situationsanalyse: Grounded Theory nach dem Postmodern Turn.
Ausgehend von einer kurzen Wiederholung, was eine Situation nach Clarke alles einschließt und welchen Zweck das Mapping im Erkunden dieser Situation einnimmt, werden zunächst die verschiedenen Map-Typen mit beispielhaften Illustrationen - gleichfalls aus o.g. Werk entnommen - vorgestellt. Clarkes Erläuterungen sind dabei hauptsächlich auf die praktische Umsetzung des Mapping- und Forschungsprozesses ausgerichtet, was u.a. dadurch klar wird, dass sie immer wieder auf auftretende Schwierigkeiten im Prozess eingeht (vgl. bspw. Clarke 2012: 146) und zahlreiche Beispiele heranzieht, um ihre Erläuterungen für die Lesenden greifbar zu machen (vgl. bspw. ebd.: 129). Jene Beispiele sind jedoch nicht Teil dieses Artikels. Die Erläuterungen zu Kapitel 3 des Buches schließen mit einem Mapping-Versuch, der beispielhaft die erste Anwendung einer Projekt-Map auf eine Forschungsfrage wagt (jedoch nicht auf Basis empirischer Daten, sondern lediglich unter Einbeziehung subjektiver Vorannahmen hinsichtlich der Situation).
Kapitel 4 und damit Teil 2 dieses Artikels beschäftigt sich mit der Einbeziehung der Diskursanalyse in die Situationsanalyse. Hierzu wird der von Clarke vorgestellte Einblick in die Diskurstheorie zusammengefasst. Überdies wird dargelegt, welche Schwerpunkte der Diskursanalyse von Clarke als grundsätzlich kompatibel mit der Situationsanalyse erachtet werden. Schließlich werden diese theoretisch-konzeptuellen Überlegungen in methodologische Empfehlungen übersetzt.
„Die grundlegende Annahme ist, dass alles, was sich in der Situation befindet, so ziemlich alles andere, was sich in der Situation befindet, auf irgendeine (oder auch mehrere) Weise(n) konstituiert und beeinflusst. Alles was sich tatsächlich in der Situation befindet oder auch nur so aufgefasst wird, bedingt die Handlungsmöglichkeiten, konstituiert die ‚Möglichkeitsbedingungen‘ (Foucault 1993)“ (Clarke 2012: 114).
Die von Clarke vorgestellten Maps dienen (zunächst) nicht der Visualisierung von Analyseergebnissen. Vielmehr dokumentieren sie den Verlauf der Forschungsarbeit. Daher sei es wichtig, sie bereits möglichst früh im Analyseprozess einzusetzen und dann vom jeweils neusten Stand der Map Kopien anzufertigen. So könne an einer Map immer weitergearbeitet werden während gleichzeitig der alte Stand erhalten bleibt.
Clarke beschreibt die Maps auch als „analytische Übungen“. Der primäre Zweck der Maps ist entsprechend die Öffnung der Daten, also die Forschenden „dazu an[zu]regen, noch gründlicher zu analysieren“ (ebd.: 121). Mit ihrer Hilfe könne auch „die analytische Lähmung“ nach der (ersten) Datenerhebung überkommen werden, indem sie einen Ausgangspunkt liefern (ebd.).
Die drei nachfolgenden Map-Typen werden i.d.R. gleichzeitig erstellt und permanent überarbeitet. Das Ziel der Zuhilfenahme von Maps ist es, auch unbewusste Vorannahmen im Prozess zu überwinden, indem sie dem/der Forschenden helfen, „Verbindungen her[zu]stellen, die uns überraschen“ (ebd.). Die Endprodukte des Forschungsprozesses sollten neben einzelnen „Nahaufnahmen“ auch einige Aspekte der Park’schen „big news“ aufweisen; es sollte sich also ein roter Faden durch die aus den Maps gewonnenen Erkenntnisse ziehen, sodass sie sich zu einer großen Geschichte zusammenfinden. Nahaufnahmen ermöglichen indes einen detaillierteren Blick auf eine Person oder Sache (ebd.: 182).
Kontinuierliches und gleichzeitiges Memoschreiben dient der Aufdeckung des „Schweigen[s] in den Daten“ und der Vielfalt möglicher Interpretationen (ebd.: 122). Außerdem fordert Clarke die Forschenden dazu auf, die von ihnen mitgebrachte „geistige Tapete“ offenzulegen. Von den Forschenden in der Situation erwartete Elemente sollten in die Situations-Map aufgenommen werden. Auch dies helfe dabei, den im Raum sitzenden „schwergewichtigen Gorilla“ auszumachen, der von niemandem explizit erwähnt wird (ebd.: 123). Clarke betont, dass verschiedene Blickwinkel nötig sind, um aufzuzeigen, „was empirisch in der Situation vorhanden ist“ (ebd.: 114). Daher schlägt sie drei Map-Typen vor, die jeweils unterschiedliche Aspekte der Situation betrachten und im Folgenden erläutert werden.
Die Erstellung einer Situations-Map gliedert sich in drei analytische Schritte. Der/die Forschende bewegt sich von einer bloßen Sammlung der in einer Situation enthaltenen Elemente zu deren Gruppierung und schließlich einer Betrachtung ihrer Relationen untereinander.
Dafür erstellt der/die Forschende zunächst eine ungeordnete deskriptive Darlegung aller Elemente, die in der Situation enthalten oder an ihr beteiligt sind. Elemente sind dabei nicht nur beiteiligte menschliche Akteure sondern auch nichtmenschliche Akteure/Aktanten, also bspw. Computerprogramme oder materielle Gegenstände. Auch organisatorische Geflechte oder Konzepte, Paradigmen und Kernfragen sollten entsprechend Clarkes Auffassung der Situation in dieser Map angeführt werden. Clarke appelliert dabei an die Forschenden, alle in der Situation vorkommenden Elemente visuell zu erfassen – sollten sie sich im weiteren Verlauf als irrelevant erweisen, könnten sie auch dann noch vernachlässigt werden. Diese „Sammlung“ bezeichnet Clarke als ungeordnete abstrakte Situations-Map (vgl. ebd: 125). Da diese Map keinen Anspruch auf Ordnung in irgendeinem Sinne hat, sei sie leicht zugänglich und veränderbar.
Die ungeordnete abstrakte Situations-Map wird in einem nächsten Schritt geordnet, indem die Elemente in folgende Kategorien eingeordnet werden: Individuelle bzw. kollektive menschliche Elemente, diskursive Konstruktionen, politische/wirtschaftliche Elemente, Hauptthemen, nichtmenschliche/stumme Akteure/Aktanten usw. (siehe Abb. links). Das Ergebnis ist eine geordnete abstrakte Situations-Map (vgl. ebd.: 128).
Der nächste Arbeitsschritt widmet sich dann der relationalen Analyse: Jedes einzelne Element wird hinsichtlich seiner Beziehungen zu allen anderen Objekten untersucht und dokumentiert. Nichtsdestotrotz werden Forschende hier auch zum kontinuierlichen Hinzufügen von Elementen bzw. zwischen den Map-Typen hin und her Wechseln animiert. Die Beschreibung bzw. Dokumentation der spezifischen Relationen erfolgt nicht visuell sondern im Rahmen ausführlichen Memoschreibenschreibens. Als vorläufiges Ergebnis liegen dem/der Forschenden dann viele Maps mit jeweils unterschiedlichen Zentren vor(vgl. ebd.: 142).
Das Mapping ist dann abgeschlossen, wenn das bisher Erarbeitete allein ausreicht, um sich „anhand dessen […] in alle wichtigen Geschichten ein[zu]arbeiten“, die diese Situation für einen hergibt (ebd: 147).
Das Ziel dieser Map ist es, kollektive Verpflichtungen und Handlungsschauplätze zu ergründen sowie den kollektiven Sinn in Handlungen nachzuvollziehen.
Sie bildet die „breiteren strukturellen Situationen“ ab, also den Ort, „wo Individuen wieder und wieder zu sozialen Wesen werden – durch Akte der Verpflichtung […] gegenüber Sozialen Welten, sowie ihre Teilnahme an Aktivitäten dieser Welten, indem sie Diskurse produzieren und zugleich durch Diskurse konstituiert werden“ (ebd.: 148).
Die Map soll zeigen, wie die Individuen als Mitglieder sozialer Welten handeln. Um sie zu erstellen, fragt der/die Forschende nach dem kollektiven soziologischen Sinn der Handlungen in der zu untersuchenden Situation. Insgesamt soll der Blick u.a. auf Verpflichtungen, Fluiditäten, Zwänge, Möglichkeiten und Ressourcen in der entsprechenden sozialen Welt gerichtet werden – Widersprüche und Unklarheiten im Kontext sind jedoch ebenfalls von Bedeutung (vgl. ebd.: 148ff.). Gleichfalls wird auch der Aushandlungs- und Wandlungsprozess im entsprechenden kollektiven Sinn bewusst und sichtbar gemacht. Die fertige Map der sozialen Welt/Arena bildet sodann die intelligiblen Facetten der Situation ab: dies sind neben Diskursuniversen und Ideologien auch Technologien, Verpflichtungen und Reformbewegungen, siehe S. 156.
Anmerkungen zum Mapping:
Auch hier wird die enorme Relevanz des begleitenden Memoschreibens hervorgehoben: Forschende werden dazu angehalten, die beteiligten sozialen Welten & Arenen, ihrer Brüche, Anliegen usw. ausführlich im Rahmen von Memos zu beschreiben (vgl. ebd.: 154). Die Darstellung von Machtverhältnissen zwischen den Entitäten wird durch ihre jeweilige Größe in der Map sichtbar gemacht. Gestrichelte Linien werden verwendet, um durchlässige Grenzen zu kennzeichnen - Durchlässigkeit wird dabei als der Normalfall angesehen, da es eigentlich immer eine Art des Austauschs zwischen zwei Entitäten gibt, undurchlässige Grenzen sind indes „bemerkenswert“ (ebd.: 149). Die Darstellung von Verschiedenheiten innerhalb sozialer Welten erfolgt durch die Unterteilung in Segmente.
Die Map eignet sich besonders für einen Blick auf Überlappungsprozesse und sonstige Fluiditäten, die dazu führen können, dass sich (1.) zwei soziale Welten im Lauf der Zeit vereinigen oder (2.) die gegenläufige Entwicklung: eine Segmentierung einer vormals „vereinten“ Welt (vgl. ebd.: 163). Diskurse werden bei der Erstellung dieser Map „nur“ implizit betrachtet, dennoch sollten sie in den Memos nacherzählt werden (vgl. ebd.: 153).
Die zweidimensionale Darstellung der Entitäten hält den/die Forschende dazu an, pro Entität nur zwei umgebende Entitäten anzusiedeln, sodass die Darstellung in einem Kreis machbar bleibt. Jedoch ist denkbar, dass sich Entitäten in einer Situation sehr viel häufiger überlappen - teilweise auch quer über die Situation hinweg. Eine mögliche Lösung stellt das Anfertigen mehrerer Maps sozialer Welten/arenen dar, in denen zwar jeweilis alle Entitäten abgebildet werden, aber anders angeordnet werden, sodass mehr als zwei verbindungen nach 'außen' visualisierbar sind.
Das Ziel der Positions-Map ist es schließlich, die Kernfragen in einer Situation auszumachen und die zur Sprache gebrachten und nicht zur Sprache gebrachten Positionen zu visualisieren.
„Den Fokus der Positions-Maps bilden Fragen, Positionen zu diesen Fragen, das Fehlen von Positionen, wo man sie erwartet hätte (Orte des diskursiven Schweigens) und bedeutende Unterschiede diskursiver Positionen in der interessierenden Situation“ (ebd.: 165).
Der große Vorteil dieser Map ist, dass das Mapping dazu beiträgt, zu erkennen, welche Positionen in den Daten nicht eingenommen werden (vgl. ebd.: 176).
Ergebnis: siehe S. 169.
Bei der Anfertigung einer Positions-Map geht es Clarke explizit nicht um die Abbildung von Ansichten die strikt in Individuen oder Gruppen verwurzelt sind, vielmehr soll die in der Situation gegebene Heterogenität sichtbar gemacht werden, die sich bspw. durch Widersprüchlichkeiten äußert. Hier bezieht sich Clarke auf Foucault, der sich gleichfalls vom Konzept erkennenden und wissenden Subjekts distanziert. Stattdessen betrachtet man sie auf diskursiver Ebene als „soziale Standorte“ (ebd.: 165f.).
Clarke führt daher den Begriff der Positionalität ein, mit dem sie es den Forschenden erleichtern möchte, „analytisch auf den Raum zwischen den Akteuren und Positionen zu fokussieren“ (ebd.: 166). Dieser neue Fokus ermögliche eine Distanz zwischen etablierten und wirkmächtigen „Identitätspolitiken“, welche den Analyseprozess beeinträchtigen können:
„Solche Räume ermöglichen es uns, Zweifel und Komplexitäten anzusprechen, wo zuvor alles ‚unnatürlich‘ klar, sicher und einfach erschien“ (ebd.).
Entsprechend sollen beim Mapping keine Differenzierungen zwischen ‚normal‘ und ‚abweichend‘ vorgenommen werden. Vielmehr wird der Blick auf alle Verschiedenheiten in den vorgefundenen Positionen gerichtet. Vor allem marginale Positionen sind von Interesse, da Marginalisierung u.U. auf in der Situation enthaltene fluide Machtstrukturen verweist (vgl. ebd.).
In der mit dieser Map angestrebten „representation […] on their own terms“ der vorgefundenen Postionen schlägt sich überdies die durch den postmodern turn aufgekommene Kritik an der privilegierten Forscherrolle nieder. Clarke fordert Forschende dazu auf, „die eingenommenen Positionen zu ihren eigenen Bedingungen, in ihren eigenen Worten und Perspektiven darzustellen“ (ebd.)
Anmerkungen zum Mapping:
Die forschungsleitenden Fragen beim Erstellen einer Positions-Map lauten: 'Was sind die grundlegenden und oftmals auch umstrittenen Fragen in der erforschten Situation?' und 'Welche Positionen finden sich zu diesen Fragen?' Die Kernfragen werden dann in in ein Koordinatensystem eingeordnet. Die Achsen werden entsprechend den Unterscheidungsmerkmalen der Positionen beschriftet (vgl. ebd.: 169). Dazu dienen jeweils zwei Kriterien, die entweder in einem positiven, negativen oder neutralen Verhältnis zueinander stehen. Das Klarwerden über die in der Situation vertretenen Maximen und ihr jeweiliges Verhältnis zueinander trägt dabei wieder sehr zum Verständnis der Situation bei. Im oben abgebildeten Beispiel wird bspw. ein als negativ angenommener Zusammenhang visualisiert, da sich Effizienz und Emotionsarbeit in der Pfelge tendenziell gegenseitig ausschließen.
Der/die Analytiker(in) pendelt beim Erstellen der Map stets zwischen Erläuterung in Form von Memoschreiben, Fragen Ermitteln und Achsen Beschriften hin und her (vgl.ebd.: 168). Auch dieses hin und her Springen zwischen den unterschiedlichen Arbeitsschriten wird ebenso wie die anderen Mapping-Prozesse durch kontinuierliches Memoschreiben unterstützt und begleitet.
Zur Unterscheidung der Positionen in Form der Maps können höchstens zwei Merkmale dienen (da zwei Achsen vorhanden), es ist indes fraglich, inwiefern sich die in der Situation vorgefundenen Positionen jeweils in dieses Schema ordnen lassen. Vorteilhaft ist allerdings, dass nicht artikulierte Positionen gut sichtbar gemacht werden können.
Projekt-Maps „sind darauf zugeschnitten, einer bestimmten Zielgruppe bestimmte Aspekte eines spezifischen Projekts zu erläutern“ (ebd.: 177). Sie können den anderen Map-Typen ähneln oder ihnen komplett entsprechen, jedoch erfüllen sie einen anderen Zweck; sie bilden das Ergebnis, nicht den Prozess der Forschung ab.
Das Ziel dieser Map war es, herauszufinden, welche Akteure an der gesellschaftlichen Aushandlung der Grenze zwischen 'normalem' und 'krankhaftem' Alkoholkonsum beteiligt sind, um auf dieser Basis zwei unterschiedliche Artikulationen zu jenem Maß herauszugreifen und zu vergleichen. Als Grundlage dienten also keine in der Situation oder zur Situation gesammelten Daten, sondern lediglich eine grobe Einschätzung und Vorerwartung der Forscherin - entsprechend unvollständig ist die Map.
In der Situation deutet sich eine Zweiteilung an: Zunächst finden sich auf der linken Seite Elemente, die sich um den diskursiv 'normalen' Konsum gruppieren. Wird dieses Maß jedoch überschritten, wird der/die Konsument/in zum/zur Betroffenen und damit zu einer hilfsbedürftigen weil suchtkranken Person. Diese Facette der Situation zeichnet sich dadurch aus, dass hier völlig neue Akteure aus dem medizinischen Bereich eintreten. Sie beteiligen sich an der Aushandlung zu Fragen der Krankheit und ihrer Heilung. Akteure/Elemente der linken Seite treten hier indes in den Hintergrund.
Um den Diskurs um die Grenze zwischen 'normalem' und 'krankem' Alkoholkonsum zu untersuchen, bietet es sich an, entweder Artikulationen der linken Seite gegenüber denen der rechten Seite zu kontrastieren, oder sich auf Artikulationen der rechten Seite zu beschränken und hier die divergierenden diskursiven Verortungen einzubeziehen (Artikulation von staatlicher Seite vs. Artikulation von Betroffenenseite, bspw. einer Selbsthilfegruppe).
Anmerkung: Die Map wurde zwar nach dem Schema der Situations-Map erstellt, erhebt aber den Anspruch, in einem Schaubild alle Relationen abzubilden, während die Situations-Map typischerweise jeweils nur ein Element fokussiert und allein dessen Relationen abbildet.
„Die ausschließliche Analyse individueller und kollektiver menschlicher Akteure ist für viele qualitative Projekte nicht mehr hinreichend, weil wir selbst ebenso wie die Menschen und Dinge, die wir erforschen wollen, permanent und routinemäßig sowohl Diskurse produzieren als auch von ihnen überflutet werden“ (ebd.: 183).
Da Diskursen selbst eine Handlungsmacht zugedacht wird und sie folglich einen Einfluss auf zu untersuchende Situationen ausüben, sind sie für Clarke seit dem postmodern turn ein weiterer als sinnvoll erachteter Analysegegenstand. Diese Neuausrichtung des Forschungsinteresses bringt bedeutende Veränderungen in der Konzeption der Datenerhebung mit sich:
„Zwischen der Analyse von Interview- bzw. ethnographischen Felddaten und der Analyse von vorkommenden Diskursen gibt es einen fundamentalen Unterschied. Früher gründeten die Sozialwissenschaften im Wesentlichen darauf, 'die Sichtweise des Eingeborenen sowie dessen Verhältnis zum Leben zu 'erfassen' um dessen Vision von dessen Welt zu erkennen'. […] Das heißt mehr als ein Jahrhundert lang richtete sich der Fokus sowohl der quantitativen als auch der qualitativen Forschung beinahe ausnahmslos auf das 'erkennende und wissende Subjekt'“ (ebd.: 184f.)
Ausgangspunkt einer methodologischen Neuausrichtung sei entsprechend die Verabschiedung vom Konzept des „erkennende[n] und wissende[n] Subjekt[s]“, das dem ethnographischen Forschungsverständnis zugrunde lag. Durch die Erkenntnis, dass die Produktion von Diskursen als eine Form sozialen Handelns zu verstehen ist, und dass diese Diskurse auf soziale Praktiken zurückwirken, rückt das Individuum als Analysegegenstand in den Hintergrund (vgl. ebd.: 185f.). Auch die strikte analytische Unterscheidung zwischen Mikro-/Makroebene muss im Rahmen der Diskurstheorie überdacht werden (vgl. ebd.: 191).
Epistemologisch zeichnet sich die Diskursanalyse durch drei Prämissen aus, die sich auch im Forschungsinteresse und schließlich in der Auswahl des Datenmaterials der DA niederschlagen:
Die kritische Diskursanalyse macht es sich indes zur Aufgabe, die in der Struktur von gesprochenen oder geschriebenen Texten enthaltenen (ggfs. unbewusst geäußerten) politischen und ideologischen Merkmale herauszuarbeiten. Auch hier ist der Machtaspekt ein zentrales Interesse (vgl. ebd.: 187f.). „Als wichtige Erkenntnisquelle für die Verankerung von Behauptungen über soziale Strukturen, Beziehungen und Prozesse“ trügen Texte besonders zum Verständnis der diskursiven Bedeutungsproduktion bei (im Rekurs auf Fairclough, ebd.: 189). Besonders Massenmedien hätten die Funktion, weitgehend anerkannte Bedeutungsproduktionen zu artikulieren – Ihr output ist entsprechend ein erkenntnisversprechender Analysegegenstand der Diskursanalyse. Dabei bietet sich die „rückwärtsgewandte“ – nach Foucault ‚archäologische‘ – Perspektive an, die sich der Herausarbeitung der historischen Bedingungen für die nun vorgefundenen (Text-)Materialien widmet (vgl. ebd.: 190). Problematisch für die Forschung ist dabei der stete Wandel des interessierenden Diskurses, seine Offenheit gegenüber neuen Bedeutungsverknüpfungen und Re-Interpretationen sowie seine Heterogenität.
Die verschiedenen Schwerpunkte der Diskursanalyse unterscheiden sich in den theoretischen Grundannahmen, die sie hinsichtlich der Beschaffenheit ‚des Diskurses‘ hegen (vgl. S. 192f.).
Letztere drei der o.g. vier Perspektiven eignen sich für die Integration in eine Situationsanalyse. Dabei sei die Situationsanalyse neben bspw. dem Foucault’schen Zugang oder der Narrationsanalyse eine mögliche Annäherung an diese Phänomene (vgl. ebd.: 193). „In ihrer Eigenschaft als Diskurse operieren Diskurse in der Regel mehr oder weniger in alle[n] drei Wirkungsbereichen“ (ebd.: 194) – entsprechend seien Hybridkategorien in der Konzeption des Forschungsvorhabens wahrscheinlich und unvermeidbar (vgl. ebd.). Überdies erklärt Clarke, dass die Frage der gewählten Perspektive gleichfalls Prämissen hinsichtlich der Analyseebene impliziert: während soziale Beziehungen weitgehend auf der face-to-face-Ebene ausgehandelt werden, betrachtet der identitätszentrierte Fokus das Soziale in einem größeren Maßstab. Und für die Frage nach Machtstrukturen ist der Blick auf einen noch breiteren sozialen Kontext sinnvoll. Beispiele der jeweiligen Perspektiven finden sich auf den Seiten 194 bis 202.
Um analytisch einen Schritt zurück zu treten und einen breiteren Fokus auf die Situation zu erlangen sei es dienlich, eine Variation an Datenmaterial in das Forschungsvorhaben aufzunehmen, wie etwa „historische, visuelle, narrative und andere diskursive Materialien sowie nichtmenschliche, materielle Kulturobjekte“ (ebd.: 204). Diese Form der Datenerhebung nennt Clarke „Multisite/Multiscape Forschung“.
Hier benennt der/die Forschende nicht etwa einen Standort, der zum Verständnis des zu untersuchenden Phänomens beitragen kann, sondern mehrere. Forschende nach dem postmodern turn seien Reisende, welche sich Zugang zu Gesprächen verschafften, Orte und Bilder bemerkten sowie Geschichten und verfügbare Sammlerstücke sammelten - schlichtweg „Dinge aller Art“ (ebd.: 203f.). Die Multisite-Forschung setzt also das alte Motto der Grounded Theory „all is data“ kreativ um und bleibt ihm gleichzeitig treu.
„Heute streben wir nach einer besseren Erfassung der zunehmend komplexen, diffusen, geographisch, diskursiv und/oder auf sonstige Weise verstreuten Aspekte von Forschungsthemen, die nur für Wissenschaftler in den Sozial- und Geisteswissenschaften und in den Professionen von Interesse sind“ (ebd.: 202).
Da man nun von komplexen und übergreifenden Zusammenhängen oder „imaginierten Welten“ (ebd.: 204) ausgeht, empfiehlt Clarke zur analytischen Bewältigung jener Komplexität auf globaler Ebene unter Rückgriff auf Appadurai die Verwendung sog. scapes. Nach Appadurais Konzept wird unterschieden zwischen Ethnoscapes (Landschaften von Personen, Identitäten, Subjektivitäten), Mediascapes (die jeweils zugrundeliegenden elektronischen Möglichkeiten zur Verbreitung von Informationen), Technoscapes (globale Konfigurationen von Technologien, erhöhte Mobilität dank technischer Unterstützung), Financescapes (globale Vernetzung von Finanzmärkten und -instituten sowie von Vermögen), Ideoscapes (Verkettungen von Politiken, Ideologien und Bildern) (vgl. S. 203f.).
Wichtige Fragen bei der Konzeption eines Multisite-Forschungsprojektes sind u.a.:
Clarke empfiehlt, früh im Konzeptionsprozess „einen Rahmen zu ziehen, um die Domäne der zu behandelnden Diskurse abzugrenzen“ (ebd.: 210). Diskursanalyse nach Foucault bspw. fokussiere häufig „in einer gegebenen Situation nur einen einzigen Diskurs – nämlich den mit der meisten Macht in dieser Situation“ (ebd.: 212). Die Situationsanalyse hegt indes den Anspruch, „alle wichtigen, zur interessierenden Situation gehörigen Diskurse darzustellen“ (ebd.: 213). Dennoch sollte der Blick nicht von Machtverhältnissen in der entsprechenden Situation abgewandt werden, vielmehr gehe es darum, auch schweigende/zum Schweigen gebrachte Positionen sichtbar zu machen und durch diesen Darstellungsprozess anzuerkennen (vgl. ebd.). Der Vorteil des der Situationsanalyse zugrundeliegenden Mappings läge hier im integrativen Analyseansatz, der kontinuierliches Mapping, also Kodieren, Memoschreiben usw., in Bezug auf alle Datenquellen simultan vorsehe. Durch das der Situationsanalyse gleichfalls inhärente häufige Vergleichen der Kodes, Maps usw. könnten überdies wirksam sichtbar machen, „wo welche Kodes entstehen – und welche nicht, wo Schweigen auftreten [und wo] Verschiedenheiten zur Sprache gebracht werden“ (ebd.: 214).
Clarke, Adele (2012): Situationsanalyse. Grounded Theory nach dem Postmodern Turn; VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden.