Inhaltsverzeichnis

Sitzung 8: Intersektionalität und epistemischer Widerstand

1. Übersicht

Dieses Wiki behandelt theoretische Einordnungen der Fragen, wer die Geschichte der Intersektionalität erzählen darf, auf welche Weise kritische Wissensprojekte von epistemischer Macht beeinflusst sind und wie intersektionale Theoriebildung modifiziert werden kann, damit diese sich weiter in Richtung einer kritischen Sozialtheorie entwickelt. Ausgangspunkt bilden das Buch „Intersektionalität als kritische Sozialtheorie“ (2023) von Patricia Hill Collins und der Aufsatz „Strange Standpoints: Or, How to Define the Situation for Situated Knowledge“ (1996) von Dick Pels.

2. Patricia Hill Collins - Epistemologie und Intersektionalität

Hill Collins behandelt die epistemische Macht und deren Wirkung auf unterdrückte Gruppen. Im Besonderen thematisiert sie die in der Politik teilweise sichtbaren und in der Wissenschaft meist verborgenen Mechanismen (vgl. Hill Collins 2023: 173), welche in beiden Fällen als Bestandteile von Herrschaftsarchitekturen zu betrachten sind (vgl. Hill Collins 2023: 167). Hier setzt sie mit dem epistemischen Widerstand als wichtiges konzeptionelles Werkzeug der kritischen Analyse an (vgl. Hill Collins 2023: 167). Die Epistemologie versteht Hill Collins als grundlegend für die Intersektionalität (vgl. Hill Collins 2023: 167) und als aktive Komponente in der Gestaltung der Machtverhältnisse und somit auch als ein sich anbietender Einstieg in intersektionale Analysen (vgl. Hill Collins 2023: 174). Testimoniale Autorität betrachtet Hill Collins als eine Form des epistemischen Widerstandes, welchen es einzufordern gilt (vgl. Hill Collins 2023: 179-180). Kritik an der Identitätspolitik im Schwarzen Feminismus weist sie mit dem Verweis auf die Absicht kritischer Theoriebildung zurück und verlangt, die epistemische Handlungsmacht von Individuen unterdrückter Gruppen anzunehmen (vgl. Hill Collins 2023: 188).

2.1 Schlüsselbegriffe

2.1.1 Epistemische Macht

Patricia Hill Collins kritisiert, dass die erstmalige Verwendung des Begriffs Intersektionalität in zwei Artikeln der US-amerikanischen Juristin Kimberlé Crenshaw 1989/91, im akademischen Betrieb als Geburtsstunde bzw. Nullpunkt der Zeitrechnung von Intersektionalität gedacht wird. Dieses Prägungs-Narrativ bringt Collins mit einem kolonialen Narrativ in Verbindung, „das Crenshaw als furchtlose Entdeckerin positioniert, die im Zuge ihrer Entdeckung [von Intersektionalität] (…) das Recht auf seine Namensgebung erhält“ (Hill Collins 2023: 166).

Epistemologie ist Collins zufolge die Theorie der Regeln, die wir zur Bewertung von wissenschaftlichem Wissen heranziehen. Hieran ist die Frage geknüpft, weshalb und unter welchen Vorbedingungen wir bestimmte Dinge für wahr halten (vgl. Hill Collins 2023: 167). Epistemische Macht kann demnach als ein Vermögen definiert werden, z.B. die Geschichte der Intersektionalität zu schreiben, oder auch konkret oder indirekt zu benennen, welche Akteur*innen unter welchen Bedingungen zur Mitsprache und Theoriebildung berechtigt sind.

2.1.2 Konsequenzen für die intersektionale Theoriebildung

Epistemologie (wer darf erzählen/was ist Wissen?) und Methodologie (welche Version dieser Geschichten ist glaubhaft/am glaubhaftesten?) bilden zwei wichtige Dimensionen der intersektionalen Theoriebildung. Die Methodologien, entlang derer wissenschaftliche Theorien gebildet werden, können die bestehenden Machtverhältnisse nun entweder reproduzieren oder ihnen widerstehen (vgl. Hill Collins 2023: 168).

Hill Collins schlägt in diesem Zusammenhang eine alternative Erzählweise der Geschichte der Intersektionalität vor, „die sich stärker an den kritischen Traditionen von Projekten widerständigen Wissens orientiert“ (Hill Collins 2023: 170). Unter anderem deutet sie Crenshaws' Aufsätze zu einem wichtigen Wendepunkt um, der selbst Teil eines breiter angelegten Projekts widerständigen Wissens ist. Ziel besagter Projekte ist bis heute die Dekolonisierung von akademischen Wissensformen im Kontext ihrer Entstehung, indem auf heterogene Wissen- und Interpretationsgemeinschaften zurückgegriffen wird (vgl. Hill Collins 2023: 172).

2.1.3 Interpretationsgemeinschaften

Interpretationsgemeinschaften bilden für Hill Collins den Rechtfertigungskontext dafür, was innerhalb einer Gruppe als legitimes (sozialtheoretisches) Wissen akzeptiert wird (Epistemologien). Dazu zählen z.B. Fakultäten, Studienfächer, Fachgebiete, Unterrichtspraktiken usw.. Die Zugehörigkeit zu bestimmten privilegierten Interpretationsräumen (sog. „Communitys of Inquiry“) bringt ihren Mitgliedern wiederum eine beachtliche epistemische Macht ein (vgl. Hill Collins 2023: 174ff.).

Diese häufig homogenen Zusammenschlüsse von Gleichgesinnten sind, so Hill Collins, schlechter dazu in der Lage, neue Ideen zu entwickeln, besonders, wenn es darum geht, die Perspektive von Nicht-Privilegierten in ihrer Forschung abzubilden. „[I]hre[n] ideologischen Bemühungen um Gleichheit, Inklusivität und einem Gefühl der Zugehörigkeit über fest verankerte Praktiken“ (Hill Collins 2023: 178) zum Trotz, reproduzieren sie bestehende soziale Abstufungen und bringen Menschen zum Schweigen (vgl. Hill Collins 2023: 179).

Unter testimonialer Autorität versteht sie die Möglichkeit einer Person, die ihr in einer bestimmten Interpretationsgemeinschaft zugesprochen wird, sich auszudrücken und gehört zu werden (vgl. Hill Collins 2023: 181).

2.1.4 Epistemische Gewalt und epistemischer Widerstand

Epistemische Gewalt bedeutet, den Erzählungen unterdrückter Menschen keinen Glauben zu schenken, sodass deren Ideen verdrängt werden, und kann nach Hill Collins über Praktiken des Silencings ausgedrückt werden. Dazu zählt sie testimoniale Erstickung und testimoniale Einschüchterung, die Wissensträger*innen bis zur internen Selbstzensur bringen können, um überhaupt angehört zu werden (vgl. Hill Collins 2023: 183f.).

Hill Collins argumentiert, dass epistemischer Widerstand als „kollektives Unterfangen“ (Hill Collins 2023: 187) entsteht, sobald Silencing-Praktiken abgelehnt werden. Identitätspolitiken können ihrem Verständnis nach dabei helfen, indem sie die Erfahrungen von vergleichbar unterdrückten Menschen als Quellen epistemischer Handlungsmacht aufwerten. Gleiches gilt für Standpunkt-Epistemologien, die der Autorität und Positionsbezogenheit von Erfahrungswissen Geltung verschaffen (vgl. Hill Collins 2023: 187-190).

2.1.5 Dialogisches Engagement

Hill Collins macht den Antrieb zur Veränderung als wichtigen Kern von Sozialtheorien aus und plädiert dafür, sämtliche Wissenschaftsdiskurse miteinander in einen Dialog treten zu lassen und bestehende Ideen für Anliegen der Intersektionalität anzupassen oder umzufunktionieren, auch solche der westlichen und kritischen Sozialtheorie (vgl. Hill Collins 2023: 199). Dies beinhaltet auch den engagierten Dialog zwischen und zu aktivistischen Projekten außerhalb des akademischen Settings.

Für Methodologien heißt das: solche zu entwickeln, „die mehrere Ausdrucksformen von epistemischem Widerstand in einem breiteren Kontext von epistemischer Macht einbeziehen können“ (Hill Collins 2023: 200). Dialogisches Arbeiten bedeutet für Hill Collins unter anderem, das Verfolgen einer abduktiven Analyse, bei der nicht schon im Vorhinein eine übergeordnete Theorie bzw. Epistemologie als Bezugsrahmen gewählt wird, dem später andere Theoriebausteine untergeordnet werden. Vielmehr ist das Aufstellen von Hypothesen (Abduktion), aus denen Vorhersagen abgeleitet werden (Deduktion), für deren vorläufige Verifikation Fakten gesucht werden (Induktion), ein fortlaufender, auf sich selbst bezogener und nicht zuletzt kollaborativer Forschungsprozess (vgl. Hill Collins 2023: 202ff.).

Wissen, das auf diese Weise generiert wird, bleibt so ständig etwas Vorläufiges und das Ziel des abduktiven Vorgehens ist zuvorderst, „demokratische Partizipation vonseiten der Menschen, die vermutlich von der Forschung betroffen sein könnten“ (Hill Collins 2023: 205).

3. Vorschläge zur Weiterentwicklung von Intersektionalität (Hill Collins)

Patricia Hill Collins schlägt zur Weiterentwicklung von Intersektionalität zur kritischen Sozialtheorie eine stärkere Betonung der Entwicklung ihrer „internen kritischen kognitiven Architektur“ (Hill Collins 2023: 210) vor. Ihrer Argumentation folgend sollte die Intersektionalität dazu imstande bleiben, sowohl das koloniale Wissen zu kritisieren als auch diejenigen Methodologien, die ihre eigene kritische Theoriebildung bestimmen. In Bezug auf ihre Grundannahmen und Praktiken ist demgemäß ein selbstreflexiver und kritischer Blick zu wahren (vgl. Hill Collins 2023: 210).

Gerade in der Entwicklung eines dialogisch-methodologischen Ansatzes, der inklusiv und demokratisch gestaltet wird, sieht Hill Collins ein Potenzial der Intersektionalität, die kritische Analyse von Interpretationsgemeinschaften, Theorien und Projekten widerständigen Wissens voranzutreiben (vgl. ebd.). Ein Hauptanliegen ist es ihr dabei, dass innerhalb der Intersektionalität mehr Dialoge zustande kommen.

„In einer Welt, die durch Unterschiede wie zwischen David und Goliath geprägt ist, die durch dominante westliche Epistemologien und die damit verbundenen Methodologien gesteuert wird, kann die Intersektionalität nicht einfach davon ausgehen, dass sie nach denselben Regeln spielen kann wie alle anderen“ (Hill Collins 2023: 208).

4. Dick Pels - Kritik an Konzepten des Situierten Wissens

Dick Pels diskutiert und kritisiert in seinem Text „Strange Standpoints“ (1996) die epistemischen Vorzüge und Nachteile von (feministischen) Standpunkt-Theorien. Diese fordern ihm zufolge einerseits den konventionellen Blick heraus, dass Wissen wertfrei, uninteressiert und universell sein kann, und gehen andererseits davon aus, dass Wissen immer positionsgebunden, d.h. voreingenommen und parteiisch ist (vgl. Pels 1996: 65).

Die Suche nach Wissen um des Wissens Willen mit einem „view from nowhere“ (Haraway: „god trick“) wird gemäß Pels in Standpunkt-Ansätzen durch die sozio-epistemische Frage ersetzt, welcher soziale Standpunkt die beste Möglichkeit bietet, ein Optimum an Wahrheit zu generieren (vgl. Pels 1996: 65). Die Grundannahme, so Pels, lautet hier, dass die dominierten und marginalisierten Gruppen die soziale Wirklichkeit nicht nur anders wahrnehmen, sondern deutlich facettenreicher, da die herrschenden Machtverhältnisse die partielle Standpunkt-Perspektive der Herrschenden stärker stören. Diese haben z.B. proportional weniger Interesse daran, die ungerechten Bedingungen aufzudecken, diese ihnen ihre Privilegien sichern (vgl. Pers 1996: 68).

4.1 Wer spricht für wen?

Pels argumentiert, dass moderne Standpunkt- und Erkenntnis-Theorien auf die Metapher des „outsider within“ bzw. der/des generalisierten Fremden als Erkenntnissubjekte zurückgreifen - also auf intersektionale Identitäten mit mehrdimensionalen Ursprüngen zur Identifikation und nicht nur bspw. ihre Klassen- oder ihre Geschlechtszugehörigkeit (vgl. Pels 1996: 73).

Der/die Fremde gewinnt in diesem Prozess eine neue Zwischen-Identität bzw. einen Standpunkt, der sich von anderen Standpunkten unterscheidet. Doch auch diese, so Pels, kann niemals einen universalen, totalen Blick für sich beanspruchen (vgl. Pels 1996: 75). Durch den wechselseitigen Einbezug von mehreren Kontexten oder Lebenswelten wird ein „dritter Raum“ geschaffen, der sich zwischen der lokalen und der globalen Situation befindet (vgl. ebd.).

Eine weitere Möglichkeit zur diskursiven Verortung von Wissen ist die Übernahme der sozialen Rolle eines Fürsprechenden („spokesperson“) bzw. der eines organischen Intellektuellen („organic intellectual“) durch die Akteur*innen (vgl. Pels 1996: 75). Ein Problem dabei sieht Pels darin, dass Personen erst zu Sprecher*innen für marginalisierte Gruppen werden müssen, um deren epistemisch vorteilhafte Perspektive akademisch zu vermitteln oder zu zentrieren (vgl. Pels 1996: 77). Dadurch wird der Unterschied zwischen den Repräsentierenden und den Repräsentierten durch Identifikation und Idealisierung mit letzteren ausgeblendet.

„In this fashion, marginal intellectuals create a false shadow of themselves, an ontological double which enables them to align their critical claims with a broader historical force and a more compelling sociological reality than their own“ (Pels 1996: 78).

4.2 Idealisierung des epistemologischen Subjekts

Pels weist auf „liebevolle“ Identifikationen dieser Art mit den epistemologischen Subjekten und deren Standpunkt in Hill Collins Werken hin (vgl. Pels 1996: 81), in denen sie seiner Meinung nach einen Standpunkt von und für Schwarze/n Frauen einnimmt und sie dadurch intellektualisiert. Seine Kritik stützt er auf die These, dass die Standpunkte der Untergeordneten nie eine unvermittelte Sicht ermöglichen, sondern vielmehr „bewegliche“ Standpunkte als Analysekategorien benötigt werden, und darauf, dass eine allzu starke Rollenübernahme der Entmächtigten durch Intellektuelle gewisse Risiken birgt (vgl. Pels 1996: 84).

Er hält es ebenso für erforderlich, dass diese (Für-)Sprecher*innenschafft von intellektuellen Eliten als Gruppen mit einer aufmerksamkeitslenkenden Sonderstellung stärker durch diese reflektiert wird. Wenn sich das epistemologische Subjekt („the outsider within“) nun theoretisch gleichzeitig an mehreren sozialen Standpunkten befindet („third position“), argumentiert Pels, verliert es seine partikulare Subjektivität zugunsten eines transzendenten Deutungsanspruches als vermittelte Analysekategorie (vgl. Pels 1996: 91).

5. Fragen und Diskussion

  1. Welchen Einfluss haben die soziodemografische Beschaffenheit einer Interpretationsgemeinschaft und ihre epistemischen Maßstäbe auf ihre eigene kritische Untersuchung?
  2. Können Intellektuelle in homogenen Interpretationsgemeinschaften angemessen die anderen Standpunkte von Unterdrückten verstehen, ohne dass sie dieselbe Unterdrückung erfahren haben?
  3. Seht ihr Gefahren für die Wissensgenerierung, wenn intellektuelle Gruppen über die Standpunkte unterdrückter Gruppen schreiben?
  4. Wer hat die Möglichkeit, epistemischen Widerstand zu leisten?
  5. Kann die epistemische Macht methodologisch derart eingeschränkt werden, dass demokratische Forschung möglich wird und akademische Wissensformen dekolonisiert werden?

6. Literatur