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Warum feministische Erkenntnistheorie?

Intro

Sowohl Waltraud Ernst als auch Patricia Hill Collins verhandeln in ihren Texten die Bedeutung widerständigen Wissens im westlich-androzentrisch geprägten Wissenschaftsdiskurs, wobei sie je andere Zugänge wählen. Während es Ernst um die Fragen geht, inwiefern feministische Wissenschaften einen neuen erkenntnistheoretischen Zugang zu wissenschaftlich erfahrbarer Wirklichkeit eröffnen und wie sich feministische Erkenntnistheorie von anderen erkenntnistheoretischen Zugängen zur Wirklichkeit unterscheidet (Ernst 1999: 22), geht es Collins darum, wie verschiedene widerständige Wissensprojekte durch Intersektionalität in Dialog gebracht werden und damit als ernstzunehmndes Wissen im westlich-androzentrischen Wissenschaftsdiskurs ihr kritisches Potenzial entfalten können.
Somit befassen sich beide Texte eingehend mit der Frage, wie Erkenntnistheorie neu gedacht und das bestehende Primat der „allgemeinen“ Wissenschaften dekonstruiert werden kann.

Zentrale Stichworte: Subjekt - Objekt, Marginalität - Universalität, Historizität - Neutralität, Sozialwissenschaft - Naturwissenschaft, Gegenstandsbereich – Erkenntnisinteresse

Waltraud Ernst: Feministische Erkenntnistheorie

Waltraud Ernst unternimmt in ihrem Text den Versuch, den Sinn und die Notwendigkeit feministischer Erkenntnistheorie herauszustellen, wobei diese an eben jenen Punkten deutlich werden, an denen feministische Erkenntnistheorie im momentan (bzw. damaligen) bestehenden positivistischen Wissenschaftsdiskurs auf Widerstand stößt (Ernst 1999: 22f.).

So wird feministischer Erkenntnistheorie vorgehalten, nicht frei von sozialen Interessen und Involviertheiten zu sein. Es mangele ihr an Allgemeinheit, die gerade für eine wissenschaftliche Erkenntnistheorie unabdingbar sei (vgl. ebd.: 22). Ernst Waltraud zeigt jedoch durch kritischen Einbezug des damaligen feministischen Forschungstandes auf, dass keine wissenschaftliche Erkenntnis allgemeine Gültigkeit beanspruchen kann, sondern stets partikulares Wissen darstelle (vgl. ebd.: 34). Keine Person sei dazu imstande, Wissen zu erzeugen, das über ihre soziohistorische Positionierung hinausreicht und damit unabhängig von sprachlichen, politischen, ökonomischen, materiellen und sozialen Gegebenheiten ist (vgl. ebd.: 46). Das Selbst ist somit immer mit der Welt verbunden, was eine Verwobenheit der Subjekt- und Objektposition zur Folge hat, die sich in jeglicher wissenschaftlichen Erkenntnis widerspiegele (vgl. ebd.: 44). Da die dominierenden, positivistisch geprägten westlichen Wissenschaften die soziohistorische Gebundenheit wissenschaftlicher Erkenntnis abstreiten, blendeten sie den Umstand aus, dass sich die vorherrschenden sozialen Machtverhältnisse, insbesondere die hierarchisierende Unterordnung von Frauen, aber auch anderer sozialer Positionierungen, in wissenschaftlichen Aussagen über die Wirklichkeit einschreiben. Genau diesen Umstand gelte es durch feministische Erkenntnistheorie aufzudecken (vgl. ebd.: 49).

Doch durch seine Aufdeckung würden die vorherrschenden Machtstrukturen, die den wissenschaftlichen Diskurs auszeichnen, noch längst nicht aus der Welt geschaffen (vgl. ebd.: 50). Die Relevanz feministischer Erkenntnistheorie erschöpfe sich also weiterhin darin, Personen (im Fall des Feminismus Frauen) aus der ihnen in androzentrischer Weise zugedachten Position zu emanzipieren (vgl. ebd.: 54). Da sich eine Person in ihrer Subjektposition der Erkenntnis nun eben niemals von ihrer sozialen Positionierung lösen könne und damit jegliche wissenschaftliche Erkenntnis in Interdependenzen und Verhältnissen mit anderen Personen entstehe, ist es für die Realisierung der Emanzipation notwendig über die epistemische Ebene hinaus auch moralische und politische Argumentationen einzubeziehen (vgl. ebd.: 59).

Patricia Hill Collins: Intersektionalität und Projekte widerständigen Wissens

Patricia Hill Collins leitet das Kapitel Intersektionalität und Projekte widerständigen Wissens mit der wesentlichen Bedeutung von Wissensprojekten unterdrückter Menschen für Theorien des Widerstands ein (vgl. Collins 2023: 119). Sie konzeptualisiert Intersektionalität als Projekt widerständigen Wissens, das unterschiedliche Wissensprojekte zusammenführen könne (vgl. ebd.: 120). Widerständiges Wissen versteht Collins dabei als Kritik an sozialen Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten. In dem Kapitel befasst sich Collins mit der Critical Race Theory, der (queer-)feministischen Theorie und der postkolonialen Theorie als drei Formen kritischer Theoriebildung, die in enger Verbindung mit Projekten widerständigen Wissens stehen (vgl. ebd).

Im Anschluss an die Critical Race Theory der 1990er Jahre kritisiert Collins das Postulat des Universalismus innerhalb westlicher Sozialtheorien, das gleichzeitig Konzepte wie Race, Rassismus und Antirassismus vernachlässige (vgl. ebd.: 125). Sie adressiert diverse Formen epistemischer Macht innerhalb des US-amerikanischen Kontextes, wie sie unter anderem von Afroamerikaner*innen, Indigenen Menschen, Muslim*innen, Immigrant*innen aus Jamaica, Cuba und Nigeria erlebt werden und den Zugang zur (akademischen) Wissensproduktion versperren. In der Festlegung der Grenzen der Sozialtheorie würden rassistische Hierarchien reproduziert und bestimmt, wer sich als Erkenntnissubjekt geltend machen könne (vgl. ebd.: 126). Daraus leite sich laut Collins die Notwendigkeit kollaborativer Wissensprojekte ab (vgl. ebd.: 127). Die Betrachtung von Intersektionalität als Projekt widerständigen Wissens hebe die politische Dimension des Wissens hervor. So ziele auch Intersektionalität als Projekt widerständigen Wissens darauf ab, sozialen Ungleichheiten innerhalb ineinandergreifender Machtsysteme Widerstand zu leisten (vgl. ebd.: 131).

Anhand feministischer Theorie und Politik lasse sich die Problemstellung diskutieren, inwiefern wissenschaftliche Anerkennung das kritische Potenzial widerständiger Wissensprojekte unterlaufe (vgl. ebd.: 139). Collins betont daran anschließend die zentrale Bedeutung der stetigen Selbstreflexion für kritische Theoriebildungsprozesse, insbesondere dann, wenn sie innerhalb der Wissenschaften bereits etabliert seien. In einer kurzen Zusammenfassung zentraler Ansatzpunkte der postkolonialen und dekolonialen Theorie weist Collins schließlich auf eine gängige Strategie der intersektionalen Analyse hin, die diese mit dekolonialen und postkolonialen Ansätzen teile: das Aufgreifen eines bestimmten Themas und das Aufdecken von Abwesenheiten bzw. Verstrickungen in vorherrschende Narrative (vgl. ebd.: 154).

Um der Gefahr der Homogenisierung widerständigen Wissens als Wissenschaft der Minderheiten zu entgehen, schließt Collins ihre Überlegungen mit dem Ansatz Doing Critical Theory (vgl. ebd.: 160f.). In der Formulierung tritt bereits wörtlich ein Bekenntnis zur Praxis hervor. Dieses gründe auf der wechselseitigen Beziehung zwischen Handeln und Ideen (vgl. ebd.: 160). Collins formuliert die Möglichkeit einer kritischen Theorie mittels der Praxis, innerhalb derer unmittelbare Erfahrungen und soziales Handeln als angemessene Methode zur Analyse von Widerstand fungieren (vgl. ebd.). Ziel einer so ausgestalteten kritischen Sozialtheorie sei es, „die Art von Wissen zu schaffen, die sozialen Wandel voranbringt.“ (ebd.: 163)

Thematische Bezugspunkte

Collins 2023 Ernst 1999
Die politische Dimension des Wissens „Zudem hebt eine Betrachtung von Intersektionalität als Projekt widerständigen Wissens die politischen Dimensionen des Wissens hervor. Ebenso wie Critical Race Theory in ihrer Funktion als Projekt widerständigen Wissens darauf abzielt, Widerstand gegen Rassismus zu leisten, könnte auch Intersektionalität als Wissensprojekt darauf gerichtet sein, den sozialen Ungleichheiten innerhalb ineinandergreifender Machtsysteme Widerstand zu leisten.“ (131) „Da dieses Erkenntnisinteresse eingebunden ist in einen sozialen Prozeß, stellt sich erneut die Frage nach dem Zusammenhang des epistemischen Interesses mit jenem des politischen und moralischen.“ (44)
Feministische Wissensproduktion als sozialer Emanzipationsprozess „Westliche Sozialtheorien legen weitaus mehr Wert darauf, die soziale Ordnung zu erklären als darauf, politischen Widerstand genauer zu untersuchen, geschweige denn hervorzubringen. So gesehen sind Formen von Spezialwissen, die den Widerstand in den Mittelpunkt seines Handelns stellen, federführend bei der kritischen Theoriebildung über soziale Ungerechtigkeiten sowie über die Formen, die der Widerstand gegen solche Ungerechtigkeiten annehmen könnte.“ (160) „Feministische Theorie ist also weder eine Theorie der Frau noch eine Theorie des Geschlechts, sie kann nicht über ihren Gegenstandsbereich definiert werden, sondern eher über ein gemeinsames Erkenntnisinteresse, das heißt, die Produktion von Wissen zur Aufdeckung und Transformation von epistemischen und sozialen Geschlechterhierarchien und von Wissen zur Emanzipation von Personen aus gegebenen Positionierungen in Geschlechterhierarchien.“ (32)
Das Verhältnis von Partikularität und Universalismus „Im Hinblick auf eine mögliche kritische Theoriebildung veranschaulichen die angeführten Fallbeispiele die verscheidenen Dimensionen voneinander abhängiger Prozesse einer externen kritischen Theoriebildung, die ihren Blick auf äußere Umstände richtet, sowie einer internen kritischen Theoriebildung, die sich internen Strukturen widmet.“ (121f.) „Die kritische Theoriebildung in Bezug auf die Intersektionalität stützt sich auf die dialogische Auseinandersetzung mit und zwischen verschiedenen Wissensprojekten. So sind die Grenzen zwischen Critical Race Theory, feministischer Theorie und postkolonialer Theorie fließend, wobei sich Intellektuelle für ihre Arbeiten, sofern sie disziplinäre Grenzen überschreiten, an Ideen aus vielen Bereichen bedienen.“ (164) „In einer feministischen Erkenntnistheorie geht es also weder um eine Suche nach einer universalen Einheitlichkeit von Wissen und Wirklichkeit, noch um eine Auflösung in relative Partikularismen, sondern um eine Anerkennung dessen, daß sowohl Wissen als auch Wirklichkeit in einem heterogenen multilateralen historischen Prozeß stattfinden.“ (47)
Das Verhältnis von epistemischer Positionierung und sozialer Positionierung „Auf ihrem Weg hin zu einer kritischen Sozialtheorie bedient sich Intersektionalität auch feministischer, antirassistischer, dekolonialer und anderer politischer Projekte, in denen theoretische Auseinandersetzungen mit dem Thema Widerstand eng mit der Praxis verknüpft sind. Innerhalb solcher Projekte sind Race, Klasse, Gender, >Ethnizität<, Nation, Sexualität, BeHinderung und Alter nicht bloß Kategorien, die für eine bessere Handhabung innerhalb der akademischen Forschung entworfen wurden. Vielmehr kennzeichnen diese Begriffe auch die wichtigen Traditionen widerständigen Wissens, die von unterdrückten Menschen ins Leben gerufen werden und deren widerständiges Wissen eine Kritik an der von ihnen erlebten sozialen Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten ist.“ (120) „In bezug auf die Erörterung des Perspektivismus bedeutet dies, daß eine epistemische Perspektive nicht notwendig oder vollständig durch die soziale Positionierung des diese Perspektive hervorbringenden epistemischen Subjekts erklärt werden kann.“ (42)
Epistemische Macht „Seit Langem geben privilegierte weiße Männer in der Sozialtheorie in Europa und Nordamerika den Ton an und genießen als Theoretiker einen erleichterten Zugang zu […] epistemische[r] Macht […].“ (125) „Die Frage nach dem Realismus naturwissenschaftlicher Erklärungen ist ein zentraler und schwieriger Aspekt im Rahmen feministischer Argumentation. Sie berührt das Verhältnis zwischen epistemischen, moralischen und politischen Behauptungen. Epistemische Behauptungen scheinen moralischen und politischen vorauszugehen, gleichzeitig scheinen moralische und politische Standpunkte diese jedoch zu motivieren.“ (58)

Fragen und Problemstellungen

1. „Kann Marginalisierung nur in Form von Vereinnahmung theoretisch relevant gemacht werden, sobald sie nicht diejenige der Person des Subjekts der Erkenntnis ist?“ (Ernst 1999: 40f.) Stichwort: Verhältnis Subjekt- und Objektposition

2. Können unmittelbare soziale Erfahrungen als Ausgangspunkt von Erkenntnis bzw. Wissensproduktion gesetzt werden? Welche Probleme gehen eurer Meinung nach damit einher?

- Problem: Was ist überhaupt wissenschaftliches Wissen? Muss es universalistisch/verallgemeinerbar sein?
- Nach Collins: Perspektiven in Dialog bringen

- Wer spricht für wen?
- Alltagserfahrung sollte in wissenschaftlichem Wissen auch berücksichtigt werden → Perspektiven, die aus Situiertheit entstehen
- soziale Positionierung wissenschaftlich erfassbar → soziale Positionierung bringt partikulares Wissen hervor
- Spannung zwischen partikularem und inversalen Perspektiven → Universalismus ist nicht möglich, da Wissen situiert ist → wird aber versucht anzustreben

- Können sich marginalisierte Personen vernetzten, um Veränderung stärker voranzutreiben?
- Problem, nicht wahrgenommen zu werden → strukturelles Problem
- marginalisierte Personen auch Differenzen, die Vernetzung erschweren und die durch teilweise provoziert werden
- Involviertheit in Alltag erschwert es

3. Wie ist das Verhältnis von epistemischer Positionierung und sozialer Positionierung vermittelt?

- Muss nicht vermittelt sein, vereinfacht aber Wissensgewinn
- Erkenntnis erst möglich durch die Existenz der sozialen Positionierung
- Wie findet Einbezug der sozialen Positionierung statt?
→ epistemische und soziale Positionierung nicht trennbar denkbar, müssen aber nicht übereinstimmen
sollten sie übereinstimmen?
- Problem der Machtstrukturen: Bsp. Texte über POC von POC werden weniger häufig gelesen als von weißen Männern - über wen und mit wem findet der Prozess der Erkenntnis statt → Einbezug der privilegierten Seite wichtig („alleyship“), weil die Teil der Machtstrukturen sind
- Kooperation kann aber auch schwierig sein

- Sind Machtstrukturen in die Person eingeschrieben?
- sollte Bestandteil wissenschaftlicher Erkenntnisgewinnung sein → Bsp. Klassismus in Universität
- wie kann wissenschaftliches Wissen über Machtstrukturen vermittelt werden? → Vermittlung an soziale Positionierung anpassen? → wenn ja, wie machbar? (beispielsweise über Satire)
- Wie kann Vermittlung stattfinden zwischen Wissenschaft und „Alltagswelt“? → Hierarchien vermeidbar? kaum, aber geht vor allem um Anerkennung
- Bsp. bei Collins: Theorie und Aktivismus und deren Verhältnis?

4. Kann die feministische Erkenntnistheorie ein neues Wissenschaftsparadigma begründen? Warum?

5. Was bedeutet es für eine Erkenntnistheorie, wenn sie mit dem Ziel des Widerstands affiziert ist? Welche Konsequenzen bezüglich der Beziehung zwischen Handeln und Ideen leiten sich daraus ab?

6. „Wie ist es dem Feminismus als politischem Projekt möglich, seine kritische Schärfe innerhalb der Wissenschaft beizubehalten?“ (Collins 2023: 135) Wie wirkt sich die Anerkennung/Etablierung eines widerständigen Wissenschaftsprojekts innerhalb der Wissenschaft auf dessen kritisches Potenzial aus?

7. Weitere Punkte oder Fragen eurerseits?

Literatur

Ernst, Waltraud 1999. Feministische Erkenntnistheorie. In: Dies. Diskurspiratinnen, Teil 1: 22-60.

Hill Collins, Patricia 2023. Intersektionalität und Projekte widerständigen Wissens. In: Dies. Intersektionalität als kritische Sozialtheorie, Kapitel 3. Münster: 119–165.