In dieser Sitzung beschäftigen wir uns auf Grundlage der Seminarliteratur mit der Frage, wer die Geschichte der Intersektionalität erzählen darf, auf welche Weise kritische Wissensprojekte von epistemischer Macht beeinflusst sind und wie intersektionale Theoriebildung modifiziert werden kann, damit sich weiter in Richtung einer kritischen Sozialtheorie entwickelt.
Wir legen dabei einen besonderen Fokus auf Patricia Hill Collins Konzept des Dialogischen Engagements als methodologische Praxis der Intersektionalität und Dick Pels' soziale Rollenkonzeptionen zur Verortung von situiertem Wissen: die einer/s Fremden („the „outsider within““ (Pels 1996: 73)) und die einer/eines intellektuellen Fürsprecherin/Fürsprechers („spokesperson or the („organic“) intellectual“ (Pels 1996: 76)).
Patricia Hill Collins kritisiert, dass die erstmalige Verwendung des Begriffs Intersektionalität, der in zwei Artikeln der US-amerikanischen Juristin Kimberlé Crenshaw 1989/91 erstmals aufzutauchen schien, im akademischen Betrieb als Geburtsstunde bzw. Nullpunkt der Zeitrechnung von Intersektionalität gedacht wird. Dieses Prägungs-Narrativ bringt Collins mit einem altbekannten kolonialen Narrativ in Verbindung, „das Crenshaw als furchtlose Entdeckerin positioniert, die im Zuge ihrer Entdeckung [von Intersektionalität] (…) das Recht auf seine Namensgebung erhält“ (Hill Collins 2023: 166).
Epistemologie ist Collins zufolge die Theorie der Regeln, die wir zur Bewertung von wissenschaftlichem Wissen heranziehen. Hieran ist die Frage geknüpft, weshalb und unter welchen Vorbedingungen wir bestimmte Dinge für wahr halten (vgl. Collins 2023: 167). Epistemische Macht kann demnach als ein Vermögen definiert werden, z.B. die Geschichte der Intersektionalität zu schreiben, oder auch konkret oder indirekt zu benennen, welche Akteur*innen unter welchen Bedingungen zur Mitsprache und Theoriebildung berechtigt sind.
Epistemologie (wer darf erzählen/was ist Wissen?) und Methodologie (welche Version dieser Geschichten ist glaubhaft/am glaubhaftesten?) bilden zwei wichtige Dimensionen der intersektionalen Theoriebildung. Die Methodologien, entlang derer wissenschaftliche Theorien gebildet werden, können die bestehenden Machtverhältnisse nun entweder reproduzieren oder ihnen widerstehen (vgl. Hill Collins 2023: 168).
Hill Collins schlägt in diesem Zusammenhang eine alternative Erzählweise der Geschichte der Intersektionalität vor, „die sich stärker an den kritischen Traditionen von Projekten widerständigen Wissens orientiert“ (Hill Collins 2023: 170). Unter anderem deutet sie Crenshaws' Aufsätze zu einem wichtigen Wendepunkt um, der selbst Teil eines breiter angelegten Projekts widerständigen Wissens ist. Ziel besagter Projekte ist bis heute die Dekolonisierung von akademischen Wissensformen im Kontext ihrer Entstehung, indem auf heterogene Wissen- und Interpretationsgemeinschaften zurückgegriffen wird (vgl. Hill Collins 2023: 172).
Interpretationsgemeinschaften bilden für Hill Collins den Rechtfertigungskontext dafür, was innerhalb einer Gruppe als legitimes (sozialtheoretisches) Wissen akzeptiert wird (Epistemologien). Dazu zählen z.B. Fakultäten, Studienfächer, Fachgebiete, Unterrichtspraktiken usw.. Die Zugehörigkeit zu bestimmten privilegierten Interpretationsräumen (sog. „Communitys of Inquiry“) bringt ihren Mitgliedern wiederum eine beachtliche epistemische Macht ein (vgl. Hill Collins 2023: 174ff.).
Diese häufig homogenen Zusammenschlüsse von Gleichgesinnten sind, so Hill Collins, schlechter dazu in der Lage, neue Ideen zu entwickeln, besonders, wenn es darum geht, die Perspektive von Nicht-Privilegierten in ihrer Forschung abzubilden. „[I]hre[n] ideologischen Bemühungen um Gleichheit, Inklusivität und einem Gefühl der Zugehörigkeit über fest verankerte Praktiken“ (Hill Collins 2023: 178) zum Trotz, reproduzieren sie bestehende soziale Abstufungen und bringen Menschen zum Schweigen (vgl. Hill Collins 2023: 179).
Unter testimonialer Autorität versteht sie die Möglichkeit einer Person, die ihr in einer bestimmten Interpretationsgemeinschaft zugesprochen wird, sich auszudrücken und gehört zu werden (vgl. Hill Collins 2023: 181).
Epistemische Gewalt bedeutet, den Erzählungen unterdrückter Menschen keinen Glauben zu schenken, sodass deren Ideen verdrängt werden, und kann nach Hill Collins über Praktiken des Silencings ausgedrückt werden. Dazu zählt sie testimoniale Erstickung und testimoniale Einschüchterung, die Wissensträger*innen bis zur internen Selbstzensur bringen können, um überhaupt angehört zu werden (vgl. Hill Collins 2023: 183f.).
Hill Collins argumentiert, dass epistemischer Widerstand als „kollektives Unterfangen“ (Hill Collins 2023: 187) entsteht, sobald Silencing-Praktiken abgelehnt werden. Identitätspolitiken können ihrem Verständnis nach dabei helfen, indem sie die Erfahrungen von vergleichbar unterdrückten Menschen als Quellen epistemischer Handlungsmacht aufwerten. Gleiches gilt für Standpunkt-Epistemologien, die der Autorität und Positionsbezogenheit von Erfahrungswissen Geltung verschaffen (vgl. Hill Collins 2023: 187-190).
Hill Collins macht den Antrieb zur Veränderung als wichtigen Kern von Sozialtheorien aus und plädiert dafür, sämtliche Wissenschaftsdiskurse miteinander in einen Dialog treten zu lassen und bestehende Ideen für Anliegen der Intersektionalität anzupassen oder umzufunktionieren, auch solche der westlichen und kritischen Sozialtheorie (vgl. Hill Collins 2023: 199). Dies beinhaltet auch den engagierten Dialog zwischen und zu aktivistischen Projekten außerhalb des akademischen Settings.
Für Methodologien heißt das: solche zu entwickeln, „die mehrere Ausdrucksformen von epistemischem Widerstand in einem breiteren Kontext von epistemischer Macht einbeziehen können“ (Hill Collins 2023: 200). Dialogisches Arbeiten bedeutet für Hill Collins unter anderem, das Verfolgen einer abduktiven Analyse, bei der nicht schon im Vorhinein eine übergeordnete Theorie bzw. Epistemologie als Bezugsrahmen gewählt wird, dem später andere Theoriebausteine untergeordnet werden. Vielmehr ist das Aufstellen von Hypothesen (Abduktion), aus denen Vorhersagen abgeleitet werden (Deduktion), für deren vorläufige Verifikation Fakten gesucht werden (Induktion), ein fortlaufender, auf sich selbst bezogener und nicht zuletzt kollaborativer Forschungsprozess (vgl. Hill Collins 2023: 202ff.).
Wissen, das auf diese Weise generiert wird, bleibt so ständig etwas Vorläufiges und das Ziel des abduktiven Vorgehens ist zuvorderst, „demokratische Partizipation vonseiten der Menschen, die vermutlich von der Forschung betroffen sein könnten“ (Hill Collins 2023: 205).
Patricia Hill Collins schlägt zur Weiterentwicklung von Intersektionalität zur kritischen Sozialtheorie eine stärkere Betonung der Entwicklung ihrer „internen kritischen kognitiven Architektur“ (Hill Collins 2023: 210) vor. Darüber hinaus sollte Intersektionalität ihrer Argumentation folgend dazu imstande bleiben, sowohl das koloniale Wissen zu kritisieren als auch diejenigen Methodologien, die ihre eigene kritische Theoriebildung bestimmen. In Bezug auf ihre Grundannahmen und Praktiken sollte die Intersektionalität demgemäß einen selbstreflexiven und kritischen Blick wahren (vgl. Hill Collins 2023: 210).
Gerade in der Entwicklung eines dialogisch-methodologischen Ansatzes, der inklusiv und demokratisch gestaltet wird, sieht Hill Collins ein Potenzial der Intersektionalität, die kritische Analyse von Interpretationsgemeinschaften, Theorien und Projekten widerständigen Wissens voranzutreiben (ebd.). Ein Hauptanliegen ist es ihr dabei, dass innerhalb der Intersektionalität mehr Dialoge zustande kommen.
„In einer Welt, die durch Unterschiede wie zwischen David und Goliath geprägt ist, die durch dominante westliche Epistemologien und die damit verbundenen Methodologien gesteuert wird, kann die Intersektionalität nicht einfach davon ausgehen, dass sie nach denselben Regeln spielen kann wie alle anderen“ (Hill Collins 2023: 208).