Opp, Karl-Dieter 2014. X. Werte in der Wissenschaft: Das Wertfreiheitspostulat sowie XI. Sozialwissenschaften und soziale Praxis. In: Ders. Methodologie der Sozialwissenschaften. Wiesbaden. Springer: 239–274. (35)
Turner, Jonathan H. 2019. The More American Sociology Seeks to Become a Politically-Relevant Discipline, the More Irrelevant It Becomes to Solving Societal Problems. In: The American Sociologist 50(4): 456–487. (32)
Die „Grundsätze der analytisch-empirischen Soziologie (beschlossen von der Mitgliederversammlung der Akademie für Soziologie am 25. September 2019)“ https://akademie-soziologie.de/wp-content/uploads/2023/10/Grundsaetze-der-analytisch-empirischen-Soziologie_AS_2019.pdf
Holland-Cunz, Barbara 2003. Die Vision einer feministischen Wissenschaft und der Betrieb der normal science. In: Niekant, Renate/Schuchmann, Uta (Hg.). Feministische ErkenntnisProzesse. Zwischen Wissenschaftstheorie und politischer Praxis, Opladen: 27–50. (24)
„Es gibt insofern eine Krise der Sozialwissenschaften im Hinblick auf ihre Funktion in der Gesellschaft. Die Konfliktlinie innerhalb der Sozialwissenschaften verläuft dort, wo die analytische Distanzierung misslingt und die Grenze zum engagierten Aktivismus verschwimmt. Analytische Distanzierung gilt dann als strukturkonservativ. Statt einer angeblich affirmativen Beobachterperspektive wird eine kritische Teilnehmerperspektive eingenommen und politische Soziologie mit soziologischer Politik verwechselt. Diese Alternative ist so eingeführt und stabil, dass es am Ende an Urteilskraft fehlt. […] Ich würde es umkehren: Wir brauchen eine kritische Beobachterperspektive, damit die affirmative Teilnehmerperspektive ein bisschen aufgebrochen wird. Ich würde sagen, dass sich die wissenschaftliche Perspektive zunächst mal distanzieren muss. Das tun wir zu wenig. Und aus der Distanz wird dann deutlicher, wie sehr das, was ich vorhin etwas metaphorisch Gewaltenteilung oder etwas soziologischer Differenzierung genannt habe, die Möglichkeitsbedingung und Begrenztheit allen Tuns ist.“
→ Diese Ausage wurde im Kontext zu Klimaaktivismus getätigt
Quelle: Unfried, P., H. Welzer, (2020), „Ordnung und Fortschritt. Wir haben keine Zeit mehr. Was tun? Armin Nassehi, Soziologe, über neues Denken zur Lösung der Klimakrise“, in: taz Futurzwei (11); URL: https://taz.de/Armin-Nassehi-zur-Loesung-der-Klimakrise/!170174/ [letzter Aufruf: 23.11.2023]
„Da die Vernunft keine inhaltlichen Ziele setzt, sind die Affekte alle gleich weit von ihr entfernt. Sie sind bloß natürlich.“ (106 f.)
Quelle: Horkheimer, Max, Theodor W. Adorno, and Waltraud Beyer, editors. 1989. Reclams Universal-Bibliothek Philosophie, Geschichte, Kulturgeschichte, vol. 1325, Dialektik der Aufklärung: Philosophische Fragmente. Leipzig: Reclam.
passend zu den Diskussionen dieser Sitzung empfehle ich sehr die Arte-Dokumentation »Forschung, Fake und faule Tricks« von Pascal Vasselin und Franck Cuveillier von 2020 gesehen (https://www.youtube.com/watch?v=mWTv9Z-OMrY). Sie behandelt viele Themen, die wir in der Sitzung angesprochen haben, auch das Verhältnis von Populismus und Wissenschaft. Auch den ›Heidelberger Aufruf‹ gegen eine Klimabewegung und Klimapolitik fand ich äußerst interessant. Außerdem habe ich so einen neueren Zweig der Wissenssoziologie bzw. Wissenschaftstheorie kennengelernt, die Agnotologie.
Ich möchte die Texte von Karl-Dieter Opp (2014), Jonathan Turner (2019) und der Akademie für Soziologie (2019) als mehr oder weniger dezidierte Kritik kritischer Sozialtheorie lesen und sie anhand einiger Aspekte wiederum zu kritisieren versuchen.
1. Turner schreibt oft davon, dass es für Soziolog*innen in den USA, die nicht zu Diskriminierung im weitesten Sinne forschen1), schwierig werden würde, Wertschätzung oder überhaupt Akzeptanz in soziologischen Instituten zu bekommen.2) Auch wenn ich diese Behauptungen über die akademische Soziologie in den USA überhaupt nicht beurteilen kann, möchte ich einen anderen Vorstoß wagen, indem ich Turner antworte: Ja, im Prinzip genau richtig so!
Wenn mensch nämlich
(A) die Kontingenz von Entscheidungen (also z.B. den Möglichkeitscharakter von forscherischer Problemwahl, auch immer anders getroffen zu werden),
(B) die Knappheit u.a. wissenschaftlicher Ressourcen (finanziell, personell etc.) sowie
(C) die moralischen Ambitionen in der forscherischen Problemwahl (mindestens Empathie und Solidarität, aber auch subversive Ambitionen in Bezug auf Ungerechtigkeitsstrukturen) zusammenbringt,
so lässt sich aus Sicht einer solch charakterisierten kritischen Sozialtheorie fragen: Warum richtet sich Soziologie nicht danach aus, gesellschaftliche Probleme (z.B. Diskriminierung) ausführlich zu beschreiben und Erklärungsmodelle zu erarbeiten, die womöglich helfen, politische (Teil-)Lösungen anzugehen. So wäre die Virulenz und wissenschaftliche Priorisierung bestimmter Probleme durch die Leiderfahrungen gesellschaftlicher Akteur*innen zu begründen und konsternierte Forscher*innen wie Turner auf ihre Privilegien hinzuweisen, sich nicht mit bestimmten Problemen auseinandersetzen zu müssen. Wie lässt sich ruhigen Gewissens andere (Nischen-)Soziologie betreiben, wenn Soziolog*innen Essenzielles zu einer gerechteren Welt beitragen können?
2. Als zusätzlichen, aber eigenen Aspekt zu 1A würde ich auch noch die Kontingenz von Wissen erwähnen, die von der Mitgliederversammlung der Akademie für Soziologie adressiert wird, wenn sie davon ausgeht,
„dass Vorstellungen der Korrespondenz und Annäherung wissenschaftlicher Aussagen an eine wie auch immer verstandene Wirklichkeit und Wahrheit sinnvolle Orientierungen für wissenschaftliches Arbeiten sind. Sie [Akademie für Soziologie, F.G.] ist sich aber auch bewusst, dass es dafür keine objektive Begründung oder Sicherheit geben kann.“ (Akademie für Soziologie 2019, S. 2)
Diese Unsicherheit oder eben Kontingenz von wissenschaftlichen Aussagen würde ich als weiteres Argument dafür lesen, sich mit den dringenden gesellschaftlichen Problemen zu beschäftigen. Denn wenn sowieso nie sicher ist, ob und inwieweit wir uns wahrem Wissen annähern3), dann ist es womöglich geboten, sich intensiver und damit hoffentlich gewinnbringender mit den Fragen zu beschäftigen, deren Beantwortungen zu mehr gesellschaftlicher Gerechtigkeit führen könnten.
3. Als Letztes möchte ich auf Opps erstes Argument gegen das Wertfreiheitspostulat4) bzw. Opps vermeintliche Widerlegung eingehen.
„Argument 1: Eine Trennung von Wert- und Sachaussagen ist überhaupt nicht möglich, weil Begriffe wertgeladen sind.“ (Opp 2014, S. 244)
Macht- oder Herrschaftsstrukturen sind auch in Sprache eingelassen, die von ‚den Mächtigen‘ mit ihrer symbolischen Autorität und teils auch Gewalt konfiguriert werden. So sind die sprachlichen Strukturen z.B. in Bezug auf die Unterscheidungen von bestimmten Begriffen oder die Anschlussmöglichkeiten an bestimmte Offerten privilegierend und diskriminierend – und damit machtvoll. Auch wenn Wissenschaft die „denotative Bedeutung“ (Opp 2014, S. 245) anvisiert und die konnotative außeracht lassen will, verstrickt sie sich in ihrer Sprachverwendung in Sinnstrukturen, die machtvoll sind. So bringt Opp in diesem Zusammenhang die Beispiele von Kriminalität und Todesstrafe, ohne zu reflektieren, wie sinnvoll es aus solidarischer Perspektive ist, sich affirmativ auf diese gesellschaftlichen Herrschaftsformen zu beziehen und sie gar in Befragungen weiter unreflektiert in scheinbar legitimer Weise zu adressieren und damit zu normalisieren.