„Arbeit ist eines der großen Themen des Menschen, ja sie ist auf das Engste verknüpft mit dem Menschsein schlechthin und kann verstanden werden als eine spezifisch menschliche Form des Umgangs mit der Umwelt. Über ihren konkreten Zweck hinaus, die Schaffung von materiellen und immateriellen Werten, trägt körperliche und geistige Arbeit auch bei zur Selbstkonstitution und Entfaltung des Menschen und ist damit „Quelle allen Reichtums und aller Kultur““
- Gothauer Programm 1875 (s. Conze 1979: 204)
Diese Begriffsauffassung von Arbeit der SPD in ihrem Parteiprogramm aus dem Jahre 1875 beschreibt den Hintergrund der Menschlichkeit der Arbeit. Genauer formuliert zeigt sie die grundsätzliche Idee der menschlichen Begründung von Arbeit. Diese Auffassung wird von Marx in „Die Neue Zeit“ (1980) kritisiert. Ihm zufolge ist „die Natur ebensosehr Quelle der Gebrauchswerte […] als die Arbeit, die selbst nur die Äußerung einer Naturkraft ist, der menschlichen Arbeitskraft“ (Marx 1890: 563). Marx führt seine Definition aus: „denn grade aus der Naturbedingtheit der Arbeit folgt, daß der Mensch, der kein andres Eigentum besitzt als seine eigene Arbeitskraft, in allen Gesellschafts- und Kulturzuständen der Sklave der andren Menschen sein muß, die sich zu Eigentümern der gegenständlichen Arbeitsbedingungen gemacht haben. Er kann nur mit ihrer Erlaubnis arbeiten, also nur mit ihrer Erlaubnis leben.“ (Marx 1890: 536). Die Steuerung des Nutzens durch Arbeit und dadurch die Beherrschung des Menschen ist somit mit der Vergesellschaftung von Arbeit möglich. Also kann ein Mensch, der als einziges Eigentum die Arbeitskraft besitzt, von Menschen, die sich die gegenständlichen Arbeitsbedingungen aneignen, ausgebeutet werden. Ob Arbeit also als naturbedingte Ausführung der menschlichen Eigentümer oder als Nutzarbeit unter menschlicher Unterdrückung anderer arbeits-beherrschenden Menschen ausgeübt wird, hängt von der Vergesellschaftung der Arbeitsbedingungen ab, also von der herrschenden Gesellschaftsform. Die Ausnutzung des menschlichen Eigentums (der Arbeit) zum Profit der herrschenden Menschen beschreibt Marx ebenfalls im kommunistischen Manifest: „Die Bourgeoisie hat alle bisher alle ehrwürdigen und mit frommer Scheu betrachteten Thätigkeiten ihres Heiligenscheins entkleidet. Sie hat den Arzt, den Juristen, den Pfaffen, den Poeten, den Mann der Wissenschaft in ihre bezahlten Lohnarbeiter verwandelt“ (Marx/Engels 1848: 5). Infolgedessen ist die Arbeit in der kapitalistischen Gesellschaft ein menschliches Eigentum, welches strukturell ausgenutzt wird, um den arbeitenden Menschen zum für die Herrschaft arbeitenden Menschen in Marx Klassendefinition zum „Proletarier“ zu unterdrücken. Um die Unterdrückung der herrschenden Klasse zu eliminieren und eine gesellschaftsorientierte, selbstverwirklichende Arbeitswelt zu erschaffen, benötigt die Gesellschaftsordnung einen sozialistischen Grundgedanken.
Der sozialistische Gedanke, bzw. der Sozialismus, konstituiert eine Gesellschaftsordnung ohne Ausnutzung des Menschen durch den Menschen. Die Arbeit wird in einer sozialistischen Gesellschaft zur wohl wichtigsten Kategorie überhaupt (vgl. Roth 2004: 8). Die Gesellschaft schafft eine gerechte Verteilung ihrer Produktionsgüter, indem alle arbeitenden Menschen nur Arbeit für das gesellschaftliche Gesamtprodukt leisten. Das bedeutet, dass alle erarbeiteten Produktionsgüter ausschließlich für das gesellschaftliche Gut geschaffen werden. Arbeit und Bedürfnis sollten allein der neuen Gesellschaft im Sinne sozialer Gleichheit zu Grunde liegen (vgl. Conze 1979: 196). Somit wird die private Aneignung von Arbeit und die daraus entstehende exklusiv private Nutzung der Produktionsgüter in einer sozialistischen Gesellschaft ausgeschlossen. Der Arbeitssinn und die Motivation zu Arbeiten sollte vom Menschen ausgehen und als eine Forderung gesehen werden, „welche jeder arbeitskräftige Bürger der Gesellschaft abtragen muss“ (Conze 1979: 196).
Marx sieht die Arbeit als „eine von allen Gesellschaftsformen unabhängige Existenzbedingung des Menschen, ewige Naturnotwendigkeit, um den Stoffwechsel zwischen Mensch und Natur, also das menschliche Leben zu vermitteln“ (Marx 1876: 28:9). Arbeit ist also der wesentliche, universell angeforderte Aspekt der menschlichen „Selbstverwirklichung“ (vgl. Conze 1979: 200). Sie gilt als Grundlage der Mensch-Natur Beziehung und somit auch als eine unumgehbare Funktion einer gerechten Gesellschaftsordnung. Folgend ist die Selbstverwirklichung durch die gesellschaftsorientierte Arbeit in einer kapitalistischen Gesellschaftsordnung nicht möglich, da sie nicht mit der Ausnutzung der Arbeitseigenschaft der Menschen von anderen herrschenden Menschen erreicht werden kann. In einer sozialistischen Gesellschaftsordnung arbeitet der Mensch nur im Sinne der Gesellschaft und nicht von sich selbst. Ebenso benötigt der Sozialismus die Arbeitsbeteiligung der gesamten Gesellschaft, um die notwendigen Produktionsgüter für die Erhaltung der Gesellschaft zu erschaffen. Wer nicht arbeitet, lebt „von fremder Arbeit und eignet sich auch seine Kultur auf Kosten fremder Arbeit an“ (Marx 1890: 563). Der nicht-arbeitende Mensch leistet nicht seinen angeforderten gesellschaftlichen Anteil der Arbeit und erfüllt seine Verlangen und somit auch seine „Existenzbedingung“ (Marx 1876: 28:9) mit der Arbeit anderer Menschen. In einer sozialistischen Gesellschaftsordnung gibt es keine:n Trittbrettfahrer:in, also die gezielte Ausnutzung fremder Arbeit, obwohl die Möglichkeit der eigenen Arbeit existiert. Durch das Fehlen des kapitalistischen Drucks der Klassenordnung nach erarbeiteten Kapital arbeitet der/die sozialistische/r Arbeiter:in rein im Sinne der eigenen Selbstverwirklichung und Erhaltung der Gesellschaft nach seinen/ihren Kapazitäten. Wie Marx es formuliert: „Jeder nach seinen Fähigkeiten, Jedem nach seinen Bedürfnissen“ (Marx 1890: 567).
Die DDR folgte als erster Arbeiter- und Bauernstaat in der Geschichte Deutschlands, der sozialistischen Staatsideologie des Marxismus-Leninismus, initiiert von der sowjetisch beeinflussten Führung der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED). Die Deutsche Demokratische Republik verstand ihre Staatsordnung als antifaschistisch-demokratische Führung der Arbeiterklasse und Aufbauphase des Sozialismus – im Gegensatz zum kapitalistischen Imperialismus des Westens (vgl. Deuerlein 1966: 20). Geprägt unter stalinistischer Observanz, richtet sich das sozialistische Deutschland nach der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Ordnungsstruktur der Sowjetideologie und somit auch nach dem Grundsatz der Produktion materieller Güter für die gesellschaftliche Weiterentwicklung (vgl. Deuerlein 1966: 22).
- 1. Programm der SED 1963
Die Staatsführung der DDR beschloss am 12. April. 1961 nach dem Vorschlag des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes (FDGB), das Gesetzbuch der Arbeit der Deutschen Demokratischen Republik im Anschluss an die vorübergehende Gesetzesregelung der Arbeit der DDR von 1950. Das Gesetzbuch sieht vor, die neuen sozialistischen Produktionsverhältnisse in der deutsch-demokratischen Planwirtschaft zu regeln und dem deutschen Volk die sozialistische Arbeitsdisziplin und -moral beizubringen. Neben der Ausrottung der Verherrlichung imperialistischer und militaristischer Ideale mithilfe der Lehre aus der deutschen Geschichte beschreibt das Buch die Befreiung der Ausbeutung und Unterdrückung der Arbeiterklasse durch den Sozialismus. Die Konstitution vom „einzig rechtmäßigen“ (vgl. Gesetzblatt der DDR 1961: I) deutschen Staat verspricht seinem Volk die Freiheit und die sozialen Rechte der Werktätigen, „wie das Recht auf Arbeit, das Recht auf gleichen Lohn für gleiche Arbeit, das Recht auf Bildung, das Recht auf Erholung und das Recht auf Gesundheits- und Arbeitsschutz sowie auf materielle Versorgung bei Krankheit, Invalidität und Alter“ (Gesetzblatt der DDR 1961: I), welche die entscheidenden sozialistischen Errungenschaften für die Werktätigen ermöglichen soll (vgl. ebd.). Die Arbeit soll sich vom alten Charakter der Konkurrenz befreien und die kameradschaftliche Zusammenarbeit sowie die gegenseitige Hilfe in der Arbeits- und Sozialwelt etablieren (vgl. ebd.). Es soll ein gesellschaftlicher und demokratischer Zentralismus geschaffen werden, in welchem Werktätige die Möglichkeit haben, an der Wirtschaft und Staatsordnung mitbestimmen können: Das Ziel der sozialistischen Demokratie ist die Verwirklichung der schöpferischen Tätigkeiten der gesellschaftlichen Massen (vgl. ebd.). Die Vertretung der Werktätigen in der Planung der Wirtschafts- und Staatsordnung ermöglichen die Freien Deutschen Gewerkschaften.
Die leninistische und original-sowjetische Funktion der Gewerkschaften im Sozialismus ist es, als eine Art Instrument der Partei zu fungieren und die „Avantgarde-Rolle für das Proletariat einzunehmen“ (Genosko 1991: 99). Sie sollten die sozialistische bzw. kommunistische Ideologie an die werktätige gesellschaftliche Masse bringen. Die sozialistischen Gewerkschaften erfüllen neben der kontrollierenden Kategorie der Planerfüllung auch bewusst die erzieherische Kategorie im Sozialismus. Sie müssen einen Bildungsauftrag erfüllen, welcher den Menschen die sozialistische Arbeitsmoral der Selbstverwirklichung und das Pflichtbewusstsein der Arbeits- und Planerfüllung beibringt. Insgesamt waren Gewerkschaften im Sinne Lenins „zum einen Interessenvertretungen mit Schutzaufgaben für ihre Mitglieder, zum anderen aber auch „Erfüllungsgehilfe“ der Partei bei der Verwirklichung der Wirtschaftspläne“ (Genosko 1991: 100).
Der Freie Deutsche Gewerkschaftsbund sollte die Rolle der original-sowjetischen Funktion der Gewerkschaft in der DDR einnehmen. Im Gegensatz zu Lenins Gewerkschaftsideal galt der FDGB aber vielmehr als gewerkschaftliche Massenorganisation. Damit sind die gesellschaftlichen Mitbestimmungs- und Mitwirkungsrechte auf der gewerkschaftlichen Ebene gemeint, welche nach der alten DDR-Verfassung Art. 44 und 45 im Gesellschaftssystem der DDR verankert sind (vgl. Genosko 1991: 101). In der Staatsordnung galt der FDGB als bedeutsamster Machtfaktor neben der SED (vgl. ebd.). Die leninistische Funktion der Gewerkschaft als Bildungsauftrag kommunistischer und sozialistischer Herrschaftsinteressen war für den FDGB untergeordnet (vgl. ebd.). Er vertrat vielmehr die Rolle der wirtschafts- und sozialpolitischen Mitbestimmung, was auch deutlich wurde durch die Eingebundenheit der FDGB-Mitglieder auf allen Ebenen der SED-Gliederung (vgl. ebd.). Die Gewertschaft stellte also in der DDR eher eine politisch-konstitutive Funktion dar als eine gesellschaftskontrollierende Funktion in Lenins Sozialismus.
Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion und der darauf folgenden Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten geriet das jetzt einheitliche Deutschland in einen fundamentalen ökonomischen und sozialen Umbruch (vgl. Timmermann 1997: 5). Der Transformationsprozess von der sozialistischen Planwirtschaft zur kapitalistischen Marktwirtschaft bringt einen gesellschaftlichen Strukturwandel mit sich. Die Reallokationsprozesse der gesellschaftlichen Ressourcen für die Produktion neuer Güter und Dienstleistungen, die Umstrukturierung der gesellschaftlichen Ressourcennutzung und die nun offenen Konkurrenzbeziehungen der Wirtschaft in den neuen Bundesländern erschwerten den produktiven Transformationsprozess (vgl. ebd.). Die Strukturwende war mit der ausführlichen Entwertung des allgemeinen Humankapitals Ostdeutschlands verbunden: „Das Humankapital Ostdeutschlands wurde stärker entwertet als der grundsätzliche hohe Stand beruflicher Bildung auf den ersten Blick vermuten lässt“ (Schmidt-Schönbein 1997: 57). Die Systemabhängigkeit des Humankapitals wird den ostdeutschen Arbeiter:innen zum Verhängnis. Die sozialistisch beeinflussten Ideologien, Lebensstrukturen, moralischen Werte und Sichtweisen sowie das technische Wissen sozialistisch-struktureller Arbeitsverhältnisse passen sich nicht den kapitalistischen Qualifikationsanforderungen des bundesrepublikanischen Arbeitsmarktes an. Diejenigen ostdeutschen Arbeiter:innen, die trotz sozialistischer Bildung großes Humankapital besitzen, zieht es nach Westdeutschland. Die DDR-Gesellschaft mangelt an Innovationsfähigkeiten; sie kann sich nur schwer der Bundesrepublik anpassen (vgl. Timmermann 1997: 5).
Die Privatisierung der staatlichen DDR-Betriebe und ihrer Ressourcen erweist sich auch nicht als leicht. Jegliche Umstrukturierungen benötigen neue Manager und Investoren, die die sozialistisch-strukturierten Betriebe „verwestlichen“ bzw. privatisieren und an die kapitalistische Marktwirtschaft anpassen (vgl. Schmidt-Schönbein 1997: 60). Viele neu strukturierte Betriebe entlassen zahlreiche Arbeiter:innen (vgl. ebd.). Die kapitalistische Arbeitsordnung, in welcher keine direkte Arbeitspflicht herrscht, hat es nicht nötig, jedem Menschen Arbeit zuzusichern. Dabei ermöglicht die kapitalistische wirtschaftliche Konkurrenz der/dem Arbeiter:in zwar, mehr wirtschaftliche Initiative zu ergreifen und eigenständig Privatkapital aufzubauen, aber auch ihn/sie in eine soziale und wirtschaftliche Klasse zuzuordnen. Menschen mit geringem Humankapital werden weniger auf dem Arbeitsmarkt berücksichtigt. Die kapitalistische Konkurrenzgesellschaft ordnet somit die DDR-Arbeiter:innen aufgrund ihres sozialistisch geprägten Humankapitals den Menschen mit kapitalistisch-geprägten Humankapital unter und erschweren ihnen den Weg in die bundesrepublikanische Gesellschaftsordnung.
Mit dem Verlust der Erwerbsarbeit verlieren viele DDR-Arbeiter:innen ihre Lebensroutinen. Die sozialen Kontakte und materiellen Sicherheiten, welche in der sozialistischen Gesellschaft durch den zentralistisch-geprägten Arbeitsplatz versichert worden sind, verfallen in der kapitalistischen Gesellschaft (vgl. Vogel 1996: 82). „Der Transformationsprozeß konstituiert mithin einen spezifischen Erfahrungshorizont der Arbeitslosigkeit“ (Vogel 1996: 82). Zusammengefasst erlebt die DDR-Gesellschaft eine umfassende Veränderung der sozialen Lebensverhältnisse. Im Zuge der Arbeitslosigkeit verändern sich die Regeln und Normen alltäglichen Handelns sowie die Maßstäbe, an denen andere bemessen werden und an denen der Mensch selbst bemessen wird (vgl. Vogel 1996: 83). Es entsteht eine soziale und materielle Kluft zwischen DDR- und BRD-Bürger:innen; die sozialen Positionskämpfe etablieren ein „Nicht-Mithalten-Können“ der DDR-Bürger:innen. Sie gelten innerhalb der BRD-Gesellschaft als untergeordnet und sozial ausgeschlossen, weil sie in der kapitalistischen Arbeitsideologie bzw. „im Wettbewerb der Erwerbsarbeit“ mit der BRD-Gesellschaft nicht mithalten können (vgl. ebd.). Die gesamte DDR-Gesellschaft wird kollektiv sozial deklassiert (vgl. ebd.). Indessen beweist sich die Schwierigkeit der erwerbsbiografischen Anpassung der arbeitslosen DDR-Bürger:innen unter den neuen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen.
In seinem Artikel „Der wirtschaftliche Strukturwandel in Ostdeutschland und seine Folgen für den Qualifikationsbedarf“ (1997: 61-62) macht Thomas Schmidt-Schönbein einen Vorschlag für die Anpassung DDR-Arbeiter:innen in die kapitalistische Arbeitsordnung. Das Plädoyer ähnelt dem TWI-Programm, welches in den USA zur Sicherheit und Optimierung ihres Rüstungsprogrammes nach dem zweiten Weltkrieg durchgeführt wurde (vgl. Schmidt-Schönbein 1997: 61). Es beruht auf einem Schneeballverfahren, in welchem der/die Kursteilnehmer:in nach der Bewältigung des Programmes direkt zum/zur Ausbilder:in wird. Somit wird eine schnelle Verbreitung des Programmes versichert, ohne Qualitätsabnahmen befürchten zu müssen. Das Programm soll rein allgemeine Verhaltensstrategien und -ordnungen und keine technischen Inhalte vermitteln, um eine universelle Anwendung auf alle Betriebsbereiche bewirken zu können. Das Programm hat drei Trainingsbereiche:
Thomas Schmidt-Schönbein hofft, mit diesem Programm die sozialistisch geprägten Arbeiter:innen an die kapitalistische Arbeitsstruktur anzupassen, ohne auf umfassende zeitaufwendige Weiterbildungsprojekte zurückgreifen zu müssen. Das Trainingsprogramm könnte innerhalb kurzer Zeit die deutschen Betriebe durchlaufen, ohne weitere Fortbildung- und Umschulungsmaßnahmen.
Das staatliche Angebot für die Hilfe der Arbeitslosen der Nachwendezeit umfasst die Möglichkeit von Kurzarbeit, Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen (ABM) und Fortbildungs- und Umschulungsmaßnahmen (FuU)(vgl. Pannenberg/Helberger 1997: 77). Während die Kurzarbeit nur als temporäre Entlastung des Arbeitsmarktes gedacht ist, wird von den ABM und FuU als mittelfristige Maßnahmen eine zukünftige Brücken- und Strukturfunktion in der Arbeitsmarktpolitik erwartet (vgl. ebd.). Die Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen sind auf einem separaten „zweiten“ Arbeitsmarkt zugänglich und sollen als vorübergehende qualifikationslose Tätigkeiten den Einstieg in den „richtigen“ Arbeitsmarkt ermöglichen und nebenbei dem Arbeitslosen ein Einkommen sichern. Kritisiert werden die ABMs, da die Beschäftigten nicht mehr als arbeitslos gelten und somit die offizielle Arbeitslosenquote verringern, obwohl sie keinen festen Beruf und Einkommen haben. Fortbildungs- und Umschulungsmaßnahmen dienen hingegen der Verbesserung und Umstrukturierung des individuellen Humankapitals für die bessere Konkurrenzfähigkeit der sozialistisch geprägten Arbeiter:innen im kapitalistischen Arbeitsmarkt (vgl. Pannenberg/Helberger 1997: 81). Maßnahmen können in Form einer Ausbildungsinvestition, mit außerbetrieblichen Schulungen oder Weiterbildungsaktivitäten während des Berufslebens belegt werden (vgl. ebd.). Sie erhöhen die Warscheinlichkeit der Wiederbeschäftigung und gelten als stützende Funktion hinsichtlich der Einkommensentwicklung nach Erwerbsunterbrechungen der Arbeitslosen in der BRD-Gesellschaft (vgl. Pannenberg/Helberger 1997: 82). „So haben im Zeitraum von November 1989 bis November 1991 ca. 5 Mill. Personen, das sind etwa 47% der erwerbsfähigen Bevölkerung, an Maßnahmen der beruflichen Weiterbildung teilgenommen“ (Pannenberg/Helberger 1997: 83).
Berthold Vogel beschreibt in seinem Beitrag „Gesellschaftliche Rahmenbedingungen der Arbeitslosigkeitserfahrung und erwerbsbiografische Perspektiven von Arbeitslosen in Ostdeutschland“ (1996) drei verschiedene Anpassungsformen der Arbeiter:innen aus der DDR an die Wende. Zwei Kernfragen sind dabei: 1. „in welcher besonderen Weise die Arbeitslosigkeit von den Betroffenen im gesellschaftlichen Transformationsprozeß erlebt wird“ (Vogel 1996: 81), und 2. „welche erwerbsbiografischen Perspektiven Arbeitslose für sich unter den Bedingungen der tiefgreifenden Neuordnung des Wirtschafts- und Beschäftigungssystems sehen“ (Vogel 1996: 81). Vogel hat im Jahr 1994 101 Leitfaden-Interviews mit Arbeitslosen aus der DDR durchgeführt. Um eine breitere Vielfalt an Erfahrungen zu dokumentieren, richtet sich die „Sampleauswahl und -zusammenstellung nach den Kriterien „Geschlecht“, „Alter“, „Qualifikation“ und „Dauer der Arbeitslosigkeit“ […] an der vom Arbeitsamt für die Untersuchungsregion durchgeführten Strukturanalyse des Arbeitslosenbestandes Ende September 1993“ (Vogel 1996: 81).
→ Etwa ein Fünftel der Befragten sehen die Wende vor Allem in der Arbeitsstruktur als eine Neuorientierungsmöglichkeit ihrer erwerbsbiografischen Laufbahn. Diese Arbeitslosen nutzen die Situation, um ihrem Beruf oder Berufsfeld zu entkommen und mithilfe der Arbeitsvielfalt sowie der neuen arbeitsklassifizierten Aufstiegsmöglichkeiten in eine neue erwerbsbiografische Arbeitswelt einzusteigen. Ebenfalls ergibt sich die neue Möglichkeit, durch einen erwerbsbiografischen Aufstieg in der sozialen Klasse aufzusteigen. Trotzdem erkennen auch viele Arbeitslosen die Gefahr, „im Prozeß raschen gesellschaftlichen Wandels einen adäquaten beruflichen Neuanfang zu verfehlen und sozial abgehängt zu werden“ (Vogel 1996: 89). Es ergibt sich somit die Möglichkeit, in der Transformationsgesellschaft eine neue erwerbsbiografische Berufslaufbahn einzuschlagen, nur folgt ihr Unsicherheit und die Schwierigkeit der wirklichen Durchsetzung.
→ Etwa die Hälfte der Befragten werden in den zweiten Typ eingeordnet. Für diese Arbeitslosen ist die Wende eine Blockade der Arbeitsmöglichkeiten, da sie ihre bisherigen erwerbsbiografischen Ressourcen beibehalten möchten und in der BRD nach Anschlussarbeit suchen. Sie werden aufgrund fehlender qualifikatorischer und sozialer Ressourcen auf dem Arbeitsmarkt weniger berücksichtigt, unterliegen den Ressourcen der kapitalistischen Arbeiter:innen, und fallen in der sozialen Klassenordnung nach unten. Oft werden sie nur in Kurzarbeit „geparkt“ (Vogel 1996: 91) und in der neuen kapitalistischen Arbeitsstruktur ausgegrenzt. Meist gelingt es den ostdeutschen Arbeitslosen aber mit langer Wartezeit in erwerbsbiografisch ähnliche Berufe zu gelangen. Die Unsicherheit und Unübersichtlichkeit des neuen Arbeitsmarktes hält die Hoffnungen der Arbeitslosen aufrecht.
→ Knapp über ein Drittel der Befragten findet in der neuen Arbeitsstruktur keinen Anschluss. Sie werden aufgrund von bestimmten qualifikatorischen oder sozialen Ressourcen aus dem Arbeitsmarkt ausgeschlossen. Beispielsweise sind die Arbeitsmöglichkeiten für Arbeitslose nah am Rentenalter fast unmöglich. Ebenfalls müssen sich ehemalige DDR-Arbeiterinnen an die arbeitsspezifische Geschlechtsstruktur in der BRD angleichen; dort ist die traditionellere geschlechtliche Arbeitsdifferenzierung noch vorhanden. Daraus ergibt sich die soziale Deklassierung der Arbeitslosen, also die klassen-, alters- und geschlechtsspezifische Ausgrenzung der ehemaligen DDR-Arbeiter:innen auf dem neuen Arbeitsmarkt.
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