Gruppe 1 (Pro)

NF Es wird immer gefragt, was so ein Vergleich eigentlich bringt. Oder es kommt der Vorwurf, dass wir durch den Vergleich die Gruppen gleich- setzen würden. Das stimmt aber nicht. Komparative Analysen sind in den Sozialwissenschaften eine gängige Analysemethode. Wenn man soziale Gruppen miteinander vergleicht, die als vollkommen unterschiedlich wahrgenommen werden, dann sind Ähnlichkeiten, die gefunden werden, zum Beispiel in der Abwertung dieser Gruppen, in der Positionierung dieser Gruppen in der Gesellschaft oder in der Nicht-Repräsentation dieser Gruppen eben ein starker Hinweis darauf, dass es vielleicht gar nicht so sehr um gruppenspezifische Abweichungen geht, sondern eventuell um systemische Benachteiligung oder andere Dinge. Und wenn dem so ist, stellt sich die Frage, ob wir uns mehr systemrelevanten Diagnosen hinwenden sollten. Wir haben die letzten Jahre sehr stark damit verbracht, soziale Konflikte über die Minderheiten selbst zu erklären. Wir haben die Konflikte im Falle der Ostdeutschen zum Beispiel sehr stark mit einem spezifischen DDR-Bezug erklärt, damit, dass sie die DDR durchlebt haben, dass die Ostdeutschen deswegen nicht demokratisch sein können, weil sie ja noch nie Demokratie gelernt haben etc. Damit wird nicht nur Rechtspopulismus erklärt, sondern auch die Ungleichheit gleich irgendwie mitlegitimiert – also zum Beispiel, dass die Ostdeutschen weniger in Elitepositionen vertreten sind. Im Falle der Muslime wird es oft kulturell erklärt: Die sind so, weil ihre Kultur so ist, weil sie aus archaischen, paternalistischen Systemen kommen, weil sie noch nicht reif sind, Elitepositionen einzunehmen. Weil sie angeblich noch nicht integriert sind oder es möglicherweise nie lernen, wie Thilo Sarrazin behauptet hat. Wir haben immer sehr viel über die sozialen Gruppen selbst gesprochen und weniger über systemische Diskriminierungseffekte. Das führt natürlich dazu, dass Menschen in Entscheider*innen-Positionen dieses Privileg auch dadurch begründen können, dass die abgewerteten Gruppen gar nicht in der Lage seien, Elitepositionen einzunehmen.

Auszug aus: Aus Lierke, Lydia et al. (Hrgs.) 2020: Erinnern stören: Heft, Kathleen 2020: Die Migrantisierung der Ostdeutschen? Im Gespräch mit Naika Foroutan https://www.rosalux.de/publikation/id/43063/erinnern-stoeren