Gruppe 3 (Contra)

Diese Sichtweise behauptet letztlich, dass die Ostdeutschen gänzlich unbeteiligt waren an dem Prozess, der zu den dramatischen Transformationen in Ostdeutschland führte. Tatsächlich haben viele Menschen in Ostdeutschland die rasanten Veränderungen seit 1989 als Zumutung und Überforderung empfunden. Nicht wenige hegen deshalb einen Groll gegen die aktuellen Verhältnisse. Damit ist aber weder die Frage beantwortet, wie es zum dramatischen Wandel der politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse in der DDR bzw. Ostdeutschland kam, noch, wer dafür jeweils verantwortlich war. Unklar bleibt auch, warum die Mehrheit der Ostdeutschen bei der Volkskammerwahl im März 1990 und später – insbesondere in den 1990er Jahren – die Regierungen in Bund und in den Ländern immer wieder bestätigte. Sicher ist nur, dass die Deutsche Einheit und die damit verbundene Politik der sozialen und ökonomischen Transformationen in Ostdeutschland kein Schicksal war, das über die DDR-Bürger:innen hereinbrach. Vielmehr handelte es sich um Mehrheitsentscheidungen, die vor allem aus den ökonomischen, ökologischen und sozialen Zuständen des untergegangenen SED-Staat herrührten und damit erklärt werden können. „Der Westen“ hat „den Osten“ nicht einfach übernommen, sondern die Ostdeutschen haben sich Westdeutschland angeschlossen, und die Gründe dafür waren vielfältig und schwerwiegend. Schon deshalb sind die Ostdeutschen keine Migrant:innen im eigenen Land, denen ihre Heimat verlustig gegangen ist, wie wiederholt formuliert wurde. Von manchen ostdeutschen Akteur:innen wurde sogar die These aufgestellt, die ostdeutschen Länder seien eine Art Kolonie „des Westens“. Beide Behauptungen vereinfachen die Verhältnisse in Vergangenheit und Gegenwart auf höchst problematische Weise, wenn z.B. aus disparaten Tatbeständen, wie Elitenbildung und Eigentumsstruktur in der ostdeutschen Gesellschaft, die Forderung nach einer Solidaritätsgemeinschaft „der Ostdeutschen“ begründet wird. So werden aber die Gegensätze und Konflikte in Ostdeutschland weitgehend ignoriert. Und das Opfer-Narrativ in Ostdeutschland nur bestätigt. Dies ist umso problematischer, wenn man bedenkt, dass es letztlich besonders den rechtsradikalen Menschenfeinden in die Hände spielt, denn es stützt deren Vorstellung von Gleichheit nach Herkunft, die darüber entscheidet, wer welche soziale Unterstützung und gesellschaftliche Anerkennung verdient. Das aber ist das praktische Gegenteil von innergesellschaftlicher Solidarität, die nach der Bedürftigkeit von Menschen fragt, und zwar von allen Menschen in Ostdeutschland, wie auch in der übrigen Bundesrepublik.

Auszug aus: Poutrus, Patrice G. 2022, Bundeszentrale für politische Bildung: Fremd im eigenen Land? Ostdeutsche als Migrant:innen? Eine skeptische Entgegnung. https://www.bpb.de/themen/migration-integration/kurzdossiers/507194/fremd-im-eigenen-land-ostdeutsche-als-migrant-innen-eine-skeptische-entgegnung/ [Abrufdatum: 11.12.2022]