In diesem Zusammenhang sei auf einen Kritikpunkt verwiesen, den die ostdeutsche Soziologin Katharina Warda schon vor einiger Zeit formulierte: Im vorgestellten ostdeutschen Opfer-Narrativ kommen Migrant:innen und BPoC in bzw. aus Ostdeutschland schlicht nicht vor. Diese Menschen haben aber vor und nach der Deutschen Einheit in Ostdeutschland Erfahrungen mit der ostdeutschen Mehrheitsgesellschaft machen müssen, die sich nicht in eine Anklage an „den Westen“ – wer oder was das auch sein sollte – einbauen lassen und wohl auch deshalb darin nicht vorkommen. Ähnlich undifferenziert erscheint auch das Bild von den Migrant:innen zu sein, die gleichsam als rein westdeutsche gesellschaftliche Gruppe markiert werden, weil die Migrationsgeschichte der DDR ausgeblendet wird. Auch die migrantische Bevölkerung ist eine sehr heterogene Gruppe mit sehr unterschiedlichen Erfahrungen hinsichtlich der Migrationswege, Statusgewährung und Integrationserfahrungen. Auch ist es zweifelhaft, dass beobachtete soziologische Ähnlichkeiten von abstrakten Großgruppen – Ostdeutsche hier und Migrant:innen in Westdeutschland da – zu tatsächlichen Interessengemeinsamkeiten führen können. Dieser Zweifel entsteht konkret aus der Unfähigkeit oder dem Unwillen, den virulenten Rassismus in Ostdeutschland als ein spezifisch ostdeutsches Problem anzuerkennen. Darüber hinaus sind aber auch sehr grundsätzliche Zweifel angebracht, weil soziale Ungleichheit und rassistische Ausgrenzung keine identischen Phänomene sind, auch wenn diese gleichzeitig auftreten. Nichtsdestotrotz gibt es in Ostdeutschland eine weit verbreitete Unzufriedenheit. Ihre Gründe sind so vielfältig wie der Osten es ist. Gerade die ökonomischen Verhältnisse hierzulande sind aber keineswegs allein auf die ostdeutschen Länder beschränkt, sondern waren und sind Teil eines Veränderungsprozesses nach der Überwindung der kommunistischen Herrschaft, der ganz Mittel- und Osteuropa erfasst hatte. In Ostdeutschland vollzog sich eine radikale Privatisierungslogik, die auf Regulierungsskepsis und Marktglauben beruhte – und vor eben diesem historischen Kontext betrachtet werden sollte. Manche nennen das Ergebnis Turbo-Kapitalismus, andere Neoliberalismus. Auf jeden Fall gewannen dabei nur wenige, viele mussten den Preis dafür bezahlen – und dies nicht nur in Ostdeutschland. Diese Fehlentwicklungen müssen benannt und wo möglich in der Gegenwart korrigiert werden.
Auszug aus: Poutrus, Patrice G. 2022, Bundeszentrale für politische Bildung: Fremd im eigenen Land? Ostdeutsche als Migrant:innen? Eine skeptische Entgegnung. https://www.bpb.de/themen/migration-integration/kurzdossiers/507194/fremd-im-eigenen-land-ostdeutsche-als-migrant-innen-eine-skeptische-entgegnung/ [Abrufdatum: 11.12.2022]