Im Folgenden möchte ich das Kapitel II.4 „Unterschichtung, Überschichtung“ von Steffen Mau (Mau 2020: 166) in Hinblick auf die Komplexität von Ungleichheit untersuchen. Nach einer Einleitung stelle ich die Kernthesen von Mau vor, definiere den Begriff der Ungleichheit und stelle Ansätze der Analyse von Ungleichheit vor. Im Anschluss beziehe ich die Analyseansätze auf das Kapitel von Mau. Zuletzt folgt eine kritische Auseinandersetzung mit der Darstellung von Mau.
Leseempfehlung für Seminarteilnehmende:
Es existieren verschiedene Definitionen von sozialer Ungleichheit. Im Folgenden wird die Definition nach Lucassen (2016: 67 in Derix 2022: 17, Sozial- und Migrationshistoriker) verwendet: Soziale Ungleichheit ist „unequal access to social, economic, and political resources“. Man kann an dieser Definition jedoch kritisieren, dass sie Aspekte des Besitzes und damit der Grundvoraussetzungen ausklammert.
Da Ungleichheit ein Komplexes Thema ist, wird ein Rahmenmodell benötigt anhand dessen man Ungleichheit analysieren kann. Nach Derix (2022) muss Ungleichheit unter Beachtung verschiedenster Faktoren erfolgen, um die Erfassung der Raum- und Zeitspezifik von Ungleichheiten in ihrer Komplexität zu gewährleisten (Derix 2022: 30).
„Die größte Herausforderung der aktuellen historischen Forschung zu sozialer Ungleichheit besteht darin, die Vielzahl der Faktoren, Felder und Akteur*innen von Ungleichheit sowie binnenstaatliche und grenzüberschreitende Ungleichheiten zueinander in Beziehung zu setzen. Wünschenswert sind Forschungsperspektiven, die es erlauben, die Raum- und Zeitspezifik der Ungleichheiten in ihrer Komplexität zu erfassen und dabei zugleich den Blick auf das Zusammenspiel von auf Dauer gestellter Struktur und situativer Erfahrung und Performanz freizugeben.“ (Derix 2022, 30)
Folgende Aspekte sollten Beachtung finden (keine Vollständigkeit der Auflistung):
1. Die Verzeitlichung von sozialer Ungleichheit (Derix 2022: 18)
2. Reichweite bzw. räumlicher Zuschnitt (18f.)
3. Verschiedene Dimensionen und Faktoren im intersektionalen Zusammenspiel (19):
4. Wahrnehmung von sozialer Ungleichheit (27)
Im Seminar wurden die Studierenden aufgefordert relevante Aspekte bei der Analyse von Ungleichheit zu nennen. Es entstand das folgende Schaubild, welches Aspekte von Derix enthält (wie z.B. Einkommen), aber auch weitere Faktoren hinzufügt (wie Diskriminierungserfahrungen):
Derix (2022) beschreibt weitere relevante Aspekte und Forschungsansätze. Ich möchte nun auf einzelne Punkte der Ungleichheits-Untersuchung von Derix (2022) in Verbindung zur Wiedervereinigung Deutschlands anhand des Textes von Mau (2020) setzen.
Ich möchte die Ungleichheit von West- und Ostdeutschland anhand der Analysestruktur von Derix (2022) und den Inhalten des Kapitels 4 (Mau 2020: 166-185) analysieren. Da unterschiedlichste Faktoren und deren Interaktionen Beachtung finden sollten, ist es mir nur möglich exemplarisch einzelne Faktoren mit geeigneten Textstellen zu verbinden.
3. Verschiedene Dimensionen und Faktoren im intersektionalen Zusammenspiel (Derix 2022: 19):
4. Wahrnehmung von sozialer Ungleichheit (Derix 2022: 27)
Nach Schäfers (2021) ist die BRD dem zweiten Einstellungsmuster zuzuordnen. Ungleichheit wird meist akzeptiert, solange Chancengleichheit besteht. Im Gegensatz dazu habe die DDR nach kommunistischer Ideologie das „Prinzip der Gleichheit zur Basis der Gesellschaftsordnung“ gemacht und hatte daher das dritte Einstellungsmuster. Nach der Wende mussten sich also die Ostdeutschen an ein System gewöhnen, in welchem wichtige Ressourcen wie „Vermögen, Eigentum, Einkommen, Macht und Prestige“ (Schäfers 2021) ungleich verteilt sind und dies nur zu verurteilen ist, wenn diese Verteilung nicht auf Chancengleichheit beruht. Gleichzeitig stellten ehemalige Ostdeutsche häufig die Verlierer der Ressourcenverteilung nach 19990 dar (Mau 2020: 166ff.).
Die Studierenden erhielten den Auftrag die Ungleichheit von Ost- und Westdeutschland in Form von Aquarien darzustellen. Sie sollten drei Aquarien gestalten, die verschiedene Aspekte darstellen: DDR (vor der Wende), BRD (vor der Wende), BRD (nach der Wende). Dabei entstanden teilweise unterschiedliche Interpretationen und Einschätzungen.
1. Abbildung: Mir springt in dieser Darstellung als erste die starke Teilung der „Fische“ im Aquarium DDR aus. Dies soll womöglich den großen Unterschied zwischen der Normalbevölkerung und den SED-Parteifunktionären der DDR in den späteren Jahrzehnten darstellen. Nach der Wende scheinen mehrere Fische aus der BRD zu Raubfischen geworden zu sein, die über den anderen Fischen stehen und sie angreifen. Die Fische aus der DDR scheinen sich unterordnen zu müssen.
2. Abbildung: In dieser Darstellung lässt sich meines Erachtens nach der Wende eine tendenzielle Unterschichtung der BRD durch Ostdeutsche (Fische) feststellen. Es liegt eine recht strikte Trennung zwischen den Ost- und Westdeutschen vor. Es ist außerdem zu beachten, dass das Aquarium der DDR keine Wasserpflanzen oder ähnliches enthält, was auf die schlechtere wirtschaftliche Stellung hindeuten könnte.
3. Abbildung: Die Fische der DDR sind sehr gleichförmig dargestellt. Es fällt auch hier auf, dass das DDR-Aquarium keine Wasserpflanzen enthält und zusätzlich einen niedrigeren Wasserstand aufweist. Nach der Wende scheinen sie sich in das Gesamtbild der Gesellschaft einzuordnen.
4. Abbildung: Hier fällt direkt die Einheitlichkeit der ostdeutschen Fische und Wasserpflanzen auf. Im Aquarium der BRD scheint mehr Vielfalt zu herrschen. Nach der Wende scheinen zwar mehr Fische der DDR unten zu schwimmen, jedoch liegt im Vergleich zu den anderen Darstellungen eine tendenziell stärkere Durchmischen vor.
Mau bezeichnet die Folgen der Wende als eine Überschichtung des Ostens (u.a. durch Elitentransfer) und eine Unterschichtung Westdeutschlands (Mau 2020: 166).
Diese Aussage soll im Seminar kritisch diskutiert werden. Ein Ansatz ist es die Aussage mit der These der tendenziellen Unterschichtung Deutschlands durch die Zuwanderung ethnischer Minderheiten zu vergleichen:
„Der Schweizer Soziologe Hoffmann-Novotny (1987, 48) hat die Zuwanderung von ethnischen Minderheiten in die hochindustrialisierten Gesellschaften Westeuropas als „Unterschichtung“ der Aufnahmeländer bezeichnet, d. h. „die Einwanderer treten in die untersten Positionen der Sozialstruktur des Einwanderungslandes ein“. Es ist sinnvoll, diesen Begriff im Hinblick auf die Situation in Deutschland etwas zu relativieren und von „tendenzieller Unterschichtung“ zu sprechen. Denn die zugewanderten Menschen sind nicht alle in der deutschen Unterschicht platziert, aber sie sind in den unteren Schichten häufiger anzutreffen als in den oberen. Oder etwas allgemeiner formuliert: Je niedriger die soziale Schicht ist, umso größer ist der Anteil der Migranten, und je höher die soziale Schicht ist, umso kleiner ist dieser Anteil.“ (Geißler 2014: 288)
Beim Vergleich ergibt sich die Frage, ob auch in Bezug auf Ost- und Westdeutschland der Begriff der Über-/ Unterschichtung eingeschränkt werden sollte (z.B. tendenzielle Unterschichtung).
Um die Vielgestaltigkeit und Vieldimensionalität der Ungleichheitsstruktur besser zu erfassen, wurden gegen Ende der 1980er-Jahre Modelle der „sozialen Lagen“ entwickelt. Sie berücksichtigen neben den vertikalen zugleich auch horizontale Ungleichheiten. Mit horizontalen Ungleichheiten sind Ungleichheiten zwischen Männern und Frauen, alt und jung, verschiedenen Generationen oder auch Regionen, Verheirateten und Ledigen, Kinderreichen und Kinderlosen zu verstehen (bpb o.J.). Es fällt auf, dass Mau wenig auf horizontale Ungleichheiten eingeht.
Wenn man zum Beispiel die horizontalen Ungleichheiten von Deutschen und Personen ohne deutsche Staatsbürgerschaft betrachtet ergibt sich nicht das eindeutige Bild einer „generellen Unterschichtung der alten Bundesrepublik“ (Mau 2020: 166). Hier ist der Eindruck der Wende von Kira G., der 1944 in der Türkei geboren wurde und seit 1971 in (West-)Deutschland lebt:
„Die Öffnung des Ostens hat nicht nur uns, sondern unsere ganzen Kinder in die Arbeitslosigkeit getrieben, also sehr viele Ausländer wurden arbeitslos. Als die Mauer fiel, wurden die Ausländer entlassen. Sie wurden entlassen, und sie haben von dort [aus dem Osten] ihre eigenen Jugendlichen, die Arbeitslosen, genommen. […] Egal wohin wir gegangen sind, haben sie Ostler bevorzugt. Sie arbeiten für drei Mark, wir können nicht einmal für fünf Mark arbeiten. Also wenn wir für zehn Mark arbeiten, arbeiten die für drei Mark, also sind wir gegangen, sie haben uns entlassen. Andere Sorgen haben wir nicht, das ganze Problem ist die Arbeitslosigkeit.“ (Cil 2007: 154)
Bundeszentrale für politische Bildung. o. J. „Facetten der modernen Sozialstruktur“. bpb.de. Abgerufen 18. November 2022 (https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/izpb/198045/facetten-der-modernen-sozialstruktur/).
Cil, Nevim 2007: Topographie des Außenseiters. Türkische Generationen und der deutsch-deutsche Wiedervereinigungsprozess. Berlin. Verlag Hans Schiler.
Derix, Simone 2022: Die Gleichzeitigkeit der Ungleichheiten. Geschichtswissenschaftliche Perspektiven auf die Verteilung von Ressourcen 17–37. In: Gutsche, Victoria et al. 2022: Distinktion, Ausgrenzung und Mobilität - Interdisziplinäre Perspektiven auf soziale Ungleichheit. FAU Studien Gender Differenz Diversität Band 2. Erlangen. FAU University Press.
Mau, Steffen 2020: Lütten Klein: Leben in der ostdeutschen Transformationsgesellschaft, 3. Auflage., Berlin. Suhrkamp.
Schäfers, Bernhard. 2021. „Ungleichheit“. S. 929–931 in Handwörterbuch des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland, herausgegeben von U. Andersen, J. Bogumil, S. Marschall, und W. Woyke. Wiesbaden. Springer Fachmedien.