Inhaltsverzeichnis

Kulturelle Entwertung und ihre Folgen

Literatur:

Primärliteratur: Mau, Steffen 2020: Lütten Klein: Leben in der ostdeutschen Transformationsgesellschaft, 3. Auflage, Berlin, Suhrkamp, II. Transformationen: Kapitel 6.

Sekundärliteratur: Foroutan, Naika und Kubiak, Daniel 2018: Ausschluss und Abwertung: Was Muslime und Ostdeutsche verbindet. In: Blätter für Deutsche und Internationale Politik 2018, Heft 7.


Kapitel 6: Mentale Lagerungen

Kernthesen:

1. Erfahrungsunterschiede der Generationen

In welcher Lebensphase man sich als Ostdeutscher zu Zeit der Wende befand ist maßgeblich dafür, wie die Wende erlebt wurde. Die Massenarbeitslosigkeit, welche nach der Wende in Ostdeutschland auftrat, war ein existenzbedrohendes Problem, welches die jeweilgen Generationen unterschiedlich betrifft, beeinflusst und letzlich auch prägt (vgl. S.200-204).

2. Entwertung des Erbes der DDR

Da die DDR ein gescheitertes System war, sollten nach der Wende schnellstmöglich jegliche Symbole, Mentalitäten und sonstige Relikte der DDR verschwinden und an ideologischem Wert verlieren. Nach der Wiedervereinigung wurde daher das kulturelle sowie soziale Erbe der DDR entwertet. Damit wurden die Ostdeutschen jeglichen positiven Bezugnahmen auf ihr bisheriges Leben(swerk) beraubt.

Aus Angst das Land könnte erneut gespalten werden, wurden positive Bezugnahmen auf die DDR als Ostalgie abgestempelt. „So entstand eine nahezu groteske Konstellation, in der gerade das Verschweigen von Differenz und unterschiedlichen Sozialisationserfahrungen zur Voraussetzung einer erfolgreichen Vereinigung wurde“(S.212).

3. Ostdeutsche als „Bürger zweiter Klasse“

Das Selbstverständnis von Westdeutschland als überlegen, gepaart mit der Heruntersetzung der DDR-Kultur drängt die Ostdeutschen in die Position der Unterlegenen. Aufgrund dieser Entwertung fühlen sich Ostdeutsche nach der Wende vermehrt als „Bürger zweiter Klasse“ (S. 208f.).

4. Aufleben der Ostdeutschen Identität

Als Reaktion auf die Entwertung der eigenen Kultur und Geschichte bilden ‚die Ostdeutschen‘ eine gemeinsame Identität. Neben der Abgrenzung nur als ehemaliger DDR Bürger den Osten verstehen zu können, steht die Erinnerungskultur im Vordergrund. Die Tendenz einer „Weichzeichnung der Erinnerungsbilder“(S.214) ist zu erkennen.

ABER: Ostdeutsch sein ist kein starker Bezugspunkt, dafür ist die Gruppe zu heterogen und die Menschen zu individuell. (vgl. S.211)

5. Analogie zwischen Ostdeutschen und Migranten

Zur Erinnerung: Analogie wird verwendet um:

1. Zu zeigen, dass Diskriminierung nicht an den diskriminierten Gruppen selbst liegt, sondern strukturelle Ursachen hat

2. Neuen Blickwinkel zu ermöglichen

3. Soziologische Theorien, die für eine der Gruppen entwickelt wurden, auch auf die andere Gruppe anwenden zu können

4. Empathie zwischen den von der Benachteiligung betroffenen Gruppen hervorzurufen

Mehr Informationen siehe Wiki: Im Schleudersitz in die (wirtschaftliche) ‚Problemzone‘

Migranten und Ostdeutsche werden vielen ähnlichen Stereotypen unterworfen. (Spätestens) Bei derartigen Parallelen zwischen eigentlich so unterschiedlichen Gruppen sollte die Frage gestellt werden, ob von diesen Gruppen nicht einfach nur ein Bild erzeugt wird, das ihnen selbst die Verantwortung für ihre Benachteiligung zuschiebt. Da es in der Diskriminierung dieser beiden Gruppen so auffälige Parallelen gibt, wird immer wieder eine Analogie zwischen ihnen thematisiert. (vgl. Foroutan et al. 2019: S.2f.)

Maus Kritik an der Analogiebildung: Diese Analogiebildung fokussiert sich vor allen Dingen auf die Stereotype die den Gruppen gemein sind und damit die persönliche Herabwertung. Wichtiger sind aber strukturelle Benachteiligungen (vgl. S.217).

Hinweis: Mehr Informationen zu dieser Analogiebildung unten, unter „Ausschluss und Abwertung: Was Muslime und Ostdeutsche verbindet“

6. Selbstlob als Schutz

Als Folge der kulturellen Entwertung sowie der Erfahrung struktureller Benachteiligung konstruieren Ostdeutsche teils eine Moralische Überlegenheit als Schutz/Reaktion.

Westen als „materialistischer Individualismus“ (S.218) und Osten als „moralischer Kollektivismus“ (S.218).

Solidarität der Ostdeutschen ist ein zweischneidiges Schwer. Untereinander ist sie teils durchaus ausgeprägt, aber gegenüber Fremden ist dadurch umso mehr Misstrauen zu beobachten. (vgl. S.220).

→ Persönliches Fazit: Es ist schwierig und kritisch auf gemeinsame (Charakter)Eigenschaften riesiger heterogener Gruppen zu schließen→ Gefahr der Pauschalisierung

Diskussionsfragen

Kernthese 1: Was sind Vorteile einer solchen Generationenaufteilung und was lässt sich vielleicht aber auch kritisieren?

Kernthese 2: Frage 1: „In Arbeiten zu indigenen Völkern spricht man recht unbefangen von den […] kulturell Enteigneten, die über ihre hergebrachten kulturellen Artefakte und Repertoires nicht länger verfügen können.“ (S.210)

→ Ist der Begriff der „kulturell Enteigneten“ auch für Ostdeutsche akkurat?

Frage 2: Siehst Du „die Beschreibung der DDR vor allem als Diktatur […] als Verzerrung der historischen Realität“? (S.213)

Kernthese 4: „»Sondermentalitäten« oder »Abgrenzungsidentitäten« wurden kritisch gesehen und zum Teil vehement abgelehnt. Der Vorwurf der Geschichtsvergessenheit schwang dabei ebenso mit wie die Warnung vor einer Ost-West-Spaltung, die durch massive Transferzahlungen und Aufbauhilfen doch gerade überwunden werden sollte“ (S.212).

→ Wie stehst Du zu diesem Vorwurf? Inwieweit stellen derartige Identifikationen mit den ostdeutschen Wurzeln eine Gefahr für eine Spaltung dar?

Kernthese 5: Mau schreibt, dass die Analogiebildung zwischen Migranten und Ostdeutschen zwar „eingefahrene Sichtweisen aufstören“ (S.217) kann, bezweifelt aber, dass dadurch „Erkenntnisgewinne für den ostdeutschen Transformationspfad zu erzielen sind“ (ebd.)

→Lassen sich aus Deiner Sicht durch die Analogie neue Erkenntnisse gewinnen?

Ausschluss und Abwertung: Was Muslime und Ostdeutsche verbindet

Inhaltszusammenfassung/Grundaussage:

Sowohl Ostdeutsche als auch Migranten bzw. Muslime sehen sich mit ähnlichen Stereotypen konfrontiert, das führt dazu, dass sie auf ähnliche Weise diskriminiert werden.

Gemeinsamkeiten der Abwertung von Ostdeutschen und Muslimen

→ „Jammer-Ossis“ bei den Ostdeutschen und „Opferperspektive“ bei den Muslimen (S.4)

→ Verlassen des Heimatlandes bei Migranten und die großen Änderungen nach der Wiedervereinigung bei Ostdeutschen (S.7)

Strukturelle und soziale Folgen dieser Abwertung

                                                        Abbildung 1: Nettoeinkommen im Vergleich (Quelle: Foroutan et al. 2019: S.12)

Soziologische Folgen dieser Abwertung

Die Begriffe „ostdeutsch“ und muslimisch“ sind mittlerweile zu politischen Begriffen geworden. Das sorgt dafür, dass die Personen selbst sich in diese Kategorien einordnen, sich ihnen zugehörig fühlen, auch wenn sie nicht in der DDR geboren sind oder Religion für diese Menschen bisher nie eine große Rolle gespielt hat. (vgl. S.8)

„Das von außen an Personen herangetragene Bild wird von ihnen selbst aufgenommen und bespielt, und zwar in unterschiedlichen Facetten. Es kann internalisiert oder auch bekämpft werden.“ (S. 9)

Menschen für die „Ostdeutsche„ oder „Muslimische Identität“ bisher keine große Rolle gespielt hat merken also, dass sie von anderen aber sehr wohl in diese Gruppen eingeordnet werden. Darauf kann dann auf unterschiedliche Weisen reagiert werden (vgl. S.9f.):

1. Bewusstes Abgrenzen von der Gruppe, die Zugehörigkeit abweisen

2. Sich der Gruppe zugehörig bekennen und diesen Status nutzen um für die Gruppe zu sprechen und einzustehen

3. Bewusst und trotzig die Stereotype verinnerlichen und bespielen



Materialien für das Seminar

Text 1 (zu Kernthese 1):

Die Kaufhalle hieß jetzt Supermarkt, Jugendherbergen wurden zu Schullandheimen, Nickis zu T-Shirts und Lehrlinge Azubis. In der Straßenbahn musste man nicht mehr den Schnipsel entlochen, sondern den Fahrschein entwerten. Aus Pop-Gymnastik wurde Aerobic, und auf der frisch gestrichenen Poliklinik stand eines Morgens plötzlich «Ärztehaus». Die Speckitonne verschwand und wurde durch den grünen Punkt ersetzt. Mondos hießen jetzt Kondome, aber das ging uns noch nichts an. […] Die Dinge hießen einfach nicht mehr danach, was sie waren. Vielleicht waren sie auch nicht mehr dieselben.“ (Hensel 2002: 21f.)

Text 2 (zu Kernthese 2):

Alte Namen und Kindheitshelden flogen wie Bälle durch den Raum: welche Schlümpfe man am liebsten hatte, welches Schlumpfkind mit wem verwandt war und wie sie auf Italienisch, Deutsch oder Spanisch hießen. Lieblingsfilme wurden ausgetauscht; Lieblingsbücher beschworen und erhitzt die Frage debattiert, ob man den Herrn der Ringe, Pippi Langstrumpf, Donald Duck oder Dagobert lieber mochte, Lucky Luke oder Asterix und Obelix verschlungen hatte. Ich musste an Alfons Zitterbacke denken, erinnerte mich an den braven Schüler Ottokar und hätte gern den anderen vom Zauberer der Smaragdenstadt erzählt. Ich sah Timur und seinen Trupp, Ede und Unku, den Antennenaugust und Frank und Irene vor mir, mir fielen Lütt Matten und die weiße Muschel, der kleine Trompeter und der Bootsmann auf der Scholle wieder ein. Einmal versuchte ich es, hob kurz an, um von meinen unbekannten Helden zu berichten, und schaute in interessierte Gesichter ohne Euphorie. Mit einem Schlag hatte ich es satt, anders zu sein als all die anderen. Ich wollte meine Geschichten genauso einfach erzählen wie die Italiener, Franzosen oder Österreicher, ohne Erklärungen zu suchen und meine Erinnerungen in Worte übersetzen zu müssen, in denen ich sie nicht erlebt hatte und die sie mit jedem Versuch ein Stück mehr zerschlugen. Ich verstummte, und um ihre Party und ihr schönes warmes Wir-Gefühl nicht länger zu stören, hielt ich den Mund. Ich überlegte, was ich stattdessen mit meiner Kindheit anfangen könnte, in welches Regal ich sie stellen oder in welchen Ordner ich sie heften könnte. Wie ein Sommerkleid war sie anscheinend aus der Mode geraten und taugte nicht einmal mehr für ein Partygespräch. Ich nahm noch einen Schluck aus dem Weinglas und beschloss, mich langsam auf den Weg zu machen. (Hensel 2002: 24)

Text 3 (aus Sekundärtext):

„So sind Muslimischsein und Ostdeutschsein zunehmend zu Merkmalen des „Andersseins“ avanciert. Sie benennen nicht mehr bloß deskriptiv eine religiöse Orientierung oder eine regionale Herkunft, sondern sind zu politischen Kategorien geworden, die mit einer neuen Form der Identitätspolitik einhergehen. Daher bezeichnen sich auch solche Menschen verstärkt als ,muslimisch„, für die Religion zuvor keine entscheidende Rolle gespielt hat. Das lässt sich in ähnlicher Weise bei Menschen beobachten, die nach 1990 in den neuen Bundesländern geboren worden sind. Obwohl sie nicht in der DDR aufwuchsen, nehmen sie sich doch als Ostdeutsche wahr, vor allem dann, wenn die negativen Seiten Ostdeutschlands thematisiert werden.“ (Foroutan et al. 2019: 8)

Text 4 (aus Sekundärtext):

„Solche Pauschalisierungen erzeugen eine Reaktion, die einen identitären Bezugszusammenhang herstellt: Die Personen versuchen unsichtbar zu werden, um nicht als Angehörige dieser defizitären Gruppe erkannt zu werden. Sie bemühen sich, die Stereotype, die Witze und die Herablassungen zu ignorieren oder genauso laut mitzulachen. Oder sie versuchen, diese Gruppe glaubhaft zu verlassen, indem sie selbst als native informants besonders schlecht über sie berichten.“ (Foroutan et al. 2019: 8f.)


Text 5 (aus Sekundärtext):

„Parallel dazu sind zunehmend Stimmen zu hören, die sich dieser Verallgemeinerung verweigern und einfordern, dass ihre Geschichten und Perspektiven ebenfalls in das kollektive deutsche Narrativ eingeflochten werden. So wächst aus der negativen Flächenstereotypisierung auch eine neue ermächtigte muslimische, migrantische und ostdeutsche Identitätselite. [31] Das gilt oft selbst für ehemalige Dissidenten, die eine tiefe Abscheu gegenüber der DDR empfinden - und keineswegs im Verdacht der Nostalgie stehen sollten, wenn sie sich aktiv gegen eine pauschale Diffamierung von Ostdeutschen wenden. Und es gilt auch für linke, ehemals kommunistische und stark religionskritische Migranten aus dem Nahen Osten, die aus Abscheu vor antimuslimischem Rassismus eine neue Position als Muslime in der Gesellschaft annehmen.“ (Foroutan et al. 2019: 9)



Empfehlungen

Hensel, Jana 2002: Zonenkinder. Rowohlt Verlag.

Foroutan, Naika/Kalter, Frank/Canan, Coskun/Simon, Mara 2019: Ost-Migrantische Analogien I. Konkurrenz um Annerkennung Stereotype, Abwertungsgefühle und Aufstiegskonflikte: erste Ergebnisse einer bundesweiten Bevölkerungsbefragung. Berlin: DeZIM-Institut. (URL: https://www.dezim-institut.de/publikationen/publikation-detail/ost-migrantische-analogien-i-fa-5014/ [letzter Aufruf: 22.01.2023]).

Weidner, Sabrina 2023: Viele Frauen sagen, mir ging es in der DDR besser, veröffentlicht am 16.01.2023. (URL: https://www.deutschlandfunkkultur.de/feministisches-archiv-frauen-ddr-100.html [letzter Aufruf: 22.01.2023]).

Hillner, Carolin 2022: Ostkinder, veröffentlicht am 09.09.2022, 37 Grad Leben, zdf. (URL: https://www.zdf.de/dokumentation/37-grad-leben/ostkinder-102.html [letzter Aufruf: 22.01.2023]).

Sonstige Quellen

Aus Lierke, Lydia et al. (Hrgs.) 2020: Erinnern stören: Heft, Kathleen 2020: Die Migrantisierung der Ostdeutschen? Im Gespräch mit Naika Foroutan. (URL: https://www.rosalux.de/publikation/id/43063/erinnern-stoeren [letzter Aufruf: 22.01.2023]).

Struck, Olaf 2018: Aufschwung und Unzufriedenheit: Strukturwandel und Lebenssituation in Ostdeutschland. Bamberg: Otto-Friedrich-Universität Bamberg, Professur für Arbeitswissenschaft. (DOI: https://doi.org/10.20378/irbo-50703 [letzter Aufruf: 21.01.2023]).

Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (Hrsg.) 2021: Jahresbericht der Bundesregierung zum Stand der Deutschen Einheit. Berlin. (URL: https://www.bundesregierung.de/breg-de/suche/jahresbericht-der-bundesregierung-zum-stand-der-deutschen-einheit-1945314 [letzter Aufruf: 21.01.2023]).

Grabka, Markus 2014: Private Vermögen ist Ost und Westdeutschland gleichen sich nur langsam an. DIW Berlin. (URL: https://www.diw.de/sixcms/detail.php?id=diw_01.c.483799.de [letzter Aufruf: 20.01.2023]).