Die Wiedervereinigung Deutschlands im Jahr 1990 war ein historischer Moment, der die Hoffnungen auf ein vereintes und starkes Deutschland weckte (vgl. Mau 2019: 121 f.). Doch die Realität nach der Wiedervereinigung war komplexer als erwartet. Die DDR hatte eine eigene Kultur und Identität, die nach der Wiedervereinigung teilweise verloren gegangen ist (vgl. ebd.: 212 f.).
„Eine (soziale) Gruppe ist im sozialpsychologischen Verständnis eine Ansammlung von Individuen, die sich selbst als Mitglieder derselben sozialen Kategorie wahrnehmen, ein bestimmtes Maß an emotionaler Bindung an diese Kategorie aufweisen und einen gewissen sozialen Konsens über die Beurteilung und ihre Mitgliedschaft in dieser Gruppe aufweisen“ (Geschke 2012).
Um im Alltag überhaupt handlungsfähig zu sein, ordnen wir uns und andere permanent zu derartigen sozialen Gruppen zu. Dabei ist jeder Mensch zugehörig zu mehreren verschiedenen Gruppen. Um unsere Gruppenzugehörigkeit einzuordnen findet stets auch eine Abgrenzung zu anderen Gruppen statt. Diese Einordnung erfolgt nicht nur durch unser Selbstverständnis, sondern in gewissem Maße auch durch die Zuordnung, die andere uns zuschreiben. (vgl. ebd.)
Die Gruppe ‚der Ostdeutschen‘ wurde seit der Wende besonders relevant, da zwei Gruppen (Ost- und Westdeutsche), die die letzten 40 Jahre unter äußerst unterschiedlichen staatlichen Systemen gelebt hatten und geprägt wurden, nun aufeinander trafen. Die gefühlte Vormachtstellung der Westdeutschen, die daraus resultierte, dass die Ostdeutschen vor ihrem gescheiterten Staatssystem standen, sorgte in einigen Bereichen für einen Ablauf der Wende, der Nachteilig für die Ostdeutschen war (vgl. Mau 2019: 133 f.). Durch Abwertungen und daraus teils bis heute resultierenden Benachteiligungen erfuhren viele Ostdeutsche einen Schock in ihrem identitären Selbstverständnis (vgl. ebd.: 233). Nachfolgend sollen die Abwertungen, die Ostdeutschland nach der Wende erfahren hat, erläutert werden. Anschließend soll diskutiert werden, welche Folgen und Reaktionen aus derartigen Entwertungen resultieren.
Zur Wende fanden große Bemühungen statt, das Wirtschafts- und Wohlstandsniveau Ostdeutschlands möglichst schnell an das westdeutsche anzupassen. So waren alle Konsumgüter nun auch in Ostdeutschland zu erwerben und die Löhne wurden umgehend nach der Wende an das westdeutsche Niveau angepasst (vgl. Struck 2018: 4). Gleichzeitig erfolgte ein Wechsel „alle[r] Eliten und institutionellen Ordnungen“ (ebd.). Diese „Rundumerneuerung“ eines gesamten Systems fand in äußerst kurzer Zeit statt und sorgte für große Umbrüche, auch im privaten Leben (vgl. ebd.: 2). So ging die Wende beispielsweise auch mit einer dramatischen Kündigungswelle in Ostdeutschland einher. In den Jahren 1990 bis 1995 wurden 50% aller Arbeitenden entlassen (vgl. ebd.: 9). Diese und viele weitere Umbrüche sorgten für eine starke Abwanderung von jungen qualifizierten Ostdeutschen nach Westdeutschland oder ins Ausland (vgl. Struck 2018: 4). Diese Fachkräfte fehlen in Ostdeutschland teilweise bis heute und haben zudem zu einer „demographischen Schieflage“ (Mau 2019: 233) beigetragen (vgl. ebd.: 190-194). Der Osten Deutschlands hat durch die Wende einen starken Umbruch erlebt, der auch zu Abwertungen im sozialen und kulturellen Bereich führte.
Der Begriff der kulturellen Abwertung lässt sich auf die Herabsetzung der kulturellen Leistungen, Traditionen und Werte einer bestimmten Gruppe beziehen. Nach der Wende stand die DDR als gescheitertes Staatssystem da. Dies sorgte dafür, dass es bei der Wiedervereinigung an vielen Stellen mehr um eine Anpassung der Ostdeutschen an die westdeutschen Standards und Erwartungen ging, als um eine Vereinigung auf Augenhöhe (vgl. Kowalczuk 2020: 26 f.).
Im der Zeit nach der Wende mussten viele Schwierigkeiten bewältigt werden. So zum Beispiel die Frage, wie damit umzugehen ist, dass zwei Gesellschaften, die über die letzten 40 Jahre völlig unterschiedliche politische Systeme erlebt haben, nun wieder vereint werden sollten. Im Ziel, eine möglichst schnelle Wiedervereinigung zu ermöglichen, wurden die „Mitwirkungsmöglichkeiten im Strukturwandel“ (Struck 2018: 3) für Ostdeutschland stark eingeschränkt, was eine selbstbestimmte Verortung im (politischen) Raum erschwerte (vgl. ebd.: 2 f.).
Zusätzlich sorgte die fehlende Trennung zwischen Kultur und politischem System, unter dem erstere sich entwickelte dafür, dass Bezüge auf Ostdeutschland nun rechtfertigungsbedürftig waren (vgl. Mau 2019: 205 f.). Dadurch wurden die kulturellen Errungenschaften Ostdeutschlands herabgesetzt, was erhebliche Auswirkungen auf das Selbstwertgefühl und die Identität ,der Ostdeutschen‘ hatte und auch heute noch hat (vgl. ebd.: 208 ff.). Damit kann ein Gefühl der Entfremdung und des Verlusts einhergehen, bis hin zu dem Gefühl „Bürger zweiter Klasse“ (Foroutan et al. 2019: 22) zu sein. Immerhin empfindet über ein Drittel ,der Ostdeutschen‘ so (vgl. ebd.).
Der Begriff der sozialen Abwertung bezieht sich auf die Diskriminierung und Ausgrenzung einer bestimmten Gruppe in der Gesellschaft. In Ostdeutschland wurde dies oft in Form von wirtschaftlicher und politischer Benachteiligung zum Ausdruck gebracht. Nach der Wiedervereinigung wurde die ostdeutsche Wirtschaft schnell privatisiert und reorganisiert, was zu einer hohen Arbeitslosigkeit und einem Mangel an wirtschaftlichen Möglichkeiten führte (vgl. Kowalczuk 2020: 28f.). Bis heute ist die wirtschaftliche Leistung Ostdeutschlands bei „zwei Dritteln des Westens stehen[geblieben]“ (ebd.: 30). Die Änderungen der Wende kamen sehr plötzlich und stellte viele Leben auf den Kopf. Massenarbeitslosigkeit folgte in den Jahren nach der Wende in Ostdeutschland (vgl. ebd.: 21) und bis heute ist die Arbeitslosenrate in Ostdeutschland höher (vgl. Foroutan/Kubiak 2018: 6). Dies ist besonders folgenschwer vor dem Hintergrund, dass Arbeit in Deutschland einen hohen Stellenwert genießt und somit für die Frage nach der eigenen Identität wichtig ist (vgl. Struck 2018: 9). Zusätzlich zeigt sich eine dramatische Unterrepräsentation der Ostdeutschen in wichtigen Positionen (vgl. ebd.: 5) und sie verdienen durchschnittlich weniger als Westdeutsche (vgl. Foroutan et al. 2019: 12). Durch derartige Missstände fühlen sich viele Ostdeutsche von der Politik und der Gesellschaft im Stich gelassen und unverstanden. Die sozialen und kulturellen Abwertungen haben – in vielen Bereichen bis heute – erhebliche Auswirkungen auf die Lebensqualität und das Wohlbefinden der Ostdeutschen.
Der Begriff ‚des Ostdeutschen‘ ist mittlerweile stark politisiert und bringt daher die Notwendigkeit mit sich, sich in diesem Kontext selbst einzuordnen (vgl. Foroutan/Kubiak 2018: 8). Dabei ist es wichtig zu betonen, dass die Reaktionen auf kulturelle und soziale Entwertung sehr unterschiedlich sein können und von individuellen Faktoren abhängen. Auf die ständige Zuschreibung ‚anders‘ zu sein, kann mit unterschiedlichen Mechanismen reagiert werden: Grundsätzlich können Personen sich entweder von der Gruppe lossagen, oder sich ihr zuordnen.
Unter anderem sorgen die negativen Stereotype, die mit Ostdeutschland verbunden werden, in manchen Fällen dafür, dass Ostdeutsche versuchen, dieser Gruppe ‚der Ostdeutschen‘ nicht zugeordnet zu werden, was beispielsweise durch das Verschweigen der Herkunft geschieht oder durch den Versuch, aus der Gruppe auszutreten, indem man sich wirksam von ihr abgrenzt (vgl. Foroutan/Kubiak 2018: 8 f.).
Eine andere Reaktion bezweckt genau das Gegenteil: „Neo-Identifikationen“ (Foroutan/Kubiak 2018: 9) stellen eine selbstbestimmte Zuordnung zu einer Gruppe dar. Diese Einordnung ist als eine Reaktion auf die gesellschaftlichen Verallgemeinerungen, die beispielsweise ,den Ostdeutschen‘ zugeschrieben werden, zu verstehen (vgl. ebd.: 9).
1. So stellen sich manche Menschen ganz bewusst gegen die Stereotype, die heutzutage mit dem Begriff des Ostdeutsch-Seins verbunden sind, indem sie bewusst als Mitglied dieser konstruierten Gruppe auftreten. Es entsteht also eine Einordnung in die Gruppe ‚der Ostdeutschen‘ aus dem Gefühl der Ungerechtigkeit heraus. Das Entstehen sozialer Gruppen wird also verstärkt beziehungsweise geschieht teils erst durch die Konstruktion selbiger im Rahmen des öffentlichen Diskurses und den Medien (vgl. ebd.: 11).
2. Eine andere Reaktion auf die Abwertung ist das Annehmen der Stereotype. Auch dies ist eine Neoidentifikation. Der (ständigen) Konfrontation mit Vorurteilen wird mit einer teils „wiederständigen Performance“ (ebd.: 10) begegnet, indem Stereotype bewusst bespielt werden (vgl. ebd.: 9f.).
Im Bezug auf Ostdeutschland werden derartige Neoidentifikationen als „ostdeutsche Identität“ (Ganzenmüller 2020) definiert. Sie wurde von vielen Ostdeutschen als Reaktion auf die kulturelle und soziale Abwertung und Diskriminierung, der sie nach der Wiedervereinigung ausgesetzt waren, entwickelt. Eine ostdeutsche Identität zu entwickeln bedeutet dabei stets, sich mit der DDR auseinanderzusetzen und einen persönlichen Bezug zu ihr herzustellen. Ob dieser Bezug positiver oder negativer Natur ist, variiert dabei, es können gar positive wie negative Bezüge parallel zueinander bestehen (vgl. Ganzenmüller 2020).
Generell lässt sich die ostdeutsche Identität „als […] Akt der Selbstbehauptung gegenüber dem Westen interpretieren“ (ebd.). Sie resultiert also aus dem Gefühl der Benachteiligung und des Ausschlusses (vgl. ebd.) und basiert auf der Anerkennung und Wertschätzung der kulturellen Leistungen und Traditionen Ostdeutschlands sowie der Identifikation mit den Erfahrungen und Herausforderungen, die mit der Wiedervereinigung einhergingen – und versucht damit ein Gefühl der Anerkennung zurückzuerlangen, das in der Wiedervereinigung für viele verloren gegangen ist (vgl. Mau 2019: 210-215). Ein Gruppenbezug und damit die Festigung einer konstruierten Gruppe entstand also gerade durch die negativen Ausrufungen über Ostdeutsche (vgl. Ganzenmüller 2020).
Um dem Gefühl und auch der faktischen Diskriminierung von Ostdeutschen, etwa bei Führungspositionen, zu begegnen, ist das Konzept der Identitätspolitik ein fruchtbarer Ansatz. Darüber wurde in den letzten Jahren ausführlich diskutiert. Dabei werden die Bedürfnisse von einzelnen Gruppen in den Mittelpunkt gesellt mit dem Ziel, diese Gruppen zu stärken und ihre gesellschaftliche Stellung zu verbessern (vgl. Foroutan/Kubiak 2018: 11).
Die Diskussionen um Identitätspolitik sind im gesellschaftlichen Kontext kontrovers und vielfältig. Einige Menschen befürworten sie als eine Möglichkeit, um kulturelle und soziale Barrieren zu überwinden und eine gemeinsame Identität zu schaffen. Andere argumentieren, dass die Identitätspolitik das Potenzial hat, bestehende soziale Unterschiede zu verstärken oder dass sie „Polarisierung von Gesellschaften“ (Foroutan/Kubiak 2018: 11) führen kann.
In Deutschland wurden Diskussionen über die Identitätspolitik in den Kontext der nationalen Identität eingebettet. Es gibt die Sorge, dass sie dazu beitragen könnte, die nationale Identität zu schwächen oder zu spalten, indem sie soziale Unterschiede betont und damit verstärkt oder gar erst konstruiert. Einige argumentieren jedoch, dass die Anerkennung und Förderung von Identitätspolitik dazu beitragen kann, die nationale Identität zu stärken, indem sie zu einem besseren Verständnis der kulturellen Vielfalt und Unterschiede innerhalb Deutschlands beiträgt und ein Gefühl der Zugehörigkeit und Identität innerhalb der Gesellschaft schafft (vgl. Ganzenmüller 2020). Gerade in Bezug auf Ostdeutschland, könnte sie helfen, die Anliegen von Ostdeutschen besser in die öffentliche Debatte einzubringen und damit das Gefühl, vom Staat vergessen worden zu sein, abzuschwächen. Gleichzeitig ist es schwer einzuordnen, ob Debatten zu ‚den Ostdeutschen‘ nicht zu einer weiteren Verstärkung dieser konstruierten Gruppe beitragen und damit eine Spaltung zwischen Ost und West verstärken könnten (vgl. ebd.).
Insgesamt bleibt die Debatte um die Identitätspolitik im gesellschaftlichen Kontext vielfältig und komplex und es gibt keine einfache Antwort darauf, wie sie am besten gefördert oder reguliert werden sollte. Letztlich ist es für eine gleichberechtigte Gesellschaft unabdingbar, den anderen Menschen zuzuhören und offen zu sein für eine Änderung der Gesellschaft und der Gewohnheiten zugunsten gleicher Rechte und Chancen für alle.
Die Reaktionen auf die kulturelle und soziale Abwertung Ostdeutschlands zeigen, wie wichtig Identität und Zugehörigkeit für das Wohlbefinden und die soziale Integration von Menschen sind. Der Identitätsverlust, der für viele mit der Wende 1989 einherging, hat also nicht nur psychisch, sondern auch soziologisch weitreichende Folgen. Im Falle der Wende wäre wohl eine Trennung zwischen ostdeutscher Kultur und dem politischem System, welches dahinter stand, hilfreich gewesen, ebenso wie eine bewusstere Selbsthinterfragung der Westens.
Es ist wichtig, dass wir uns bewusst sind, dass kulturelle und soziale Abwertung folgenreiche Auswirkungen auf das Selbstwertgefühl, die Identität und das Wohlbefinden von Menschen haben. Die Betonung von Gemeinsamkeiten ist für eine Gesellschaft fruchtbarer, als das Betonen von Unterschieden, weswegen es wichtig ist, Vorurteile und Diskriminierung zu bekämpfen und allen Menschen in unserer Gesellschaft Respekt und Wertschätzung entgegenzubringen.
Foroutan et al. (2019), Ost-Migrantische Analogien I. Konkurrenz um Annerkennung Stereotype, Abwertungsgefühle und Aufstiegskonflikte: erste Ergebnisse einer bundesweiten Bevölkerungsbefragung. Berlin: DeZIM-Institut. URL: https://www.dezim-institut.de/publikationen/publikation-detail/ost-migrantische-analogien-i-fa-5014/ [letzter Aufruf: 21.03.2023].
Foroutan, N., D. Kubiak (2018), „Ausschluss und Abwertung: Was Muslime und Ostdeutsche verbindet“, in: Blätter für Deutsche und Internationale Politik 2018, Heft 7.
Ganzenmüller, J. (2020), „Ostdeutsche Identitäten. Selbst- und Fremdbilder zwischen Transformationserfahrung und DDR-Vergangenheit“, in: Bundeszentrale für politische Bildung. URL: https://www.bpb.de/themen/deutschlandarchiv/308016/ostdeutsche-identitaeten/ [letzter Aufruf: 21.03.2023].
Geschke, D. (2012), „Vorurteile, Differenzierung und Diskriminierung - sozialpsychologische Erklärungsansätze“, in: Bundeszentrale für politische Bildung. URL: https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/130413/vorurteile-differenzierung-und-diskriminierung-sozialpsychologische-erklaerungsansaetze/ [letzter Aufruf: 21.03.2023].
Kowalczuk, I. (2020), „Unzufrieden in Ostdeutschland? Welche Rolle spielen Erfahrungen aus der DDR, der friedlichen Revolution und der nachfolgenden Transformation?“, in: Friedrich-Ebert-Stiftung (Hg.), Podiumsdiskussion. 30 Jahre Deutsche Einheit und das Erbe der SED-Diktatur.
Mau, S. (2019), Lütten Klein. Leben in der ostdeutschen Transformationsgesellschaft. Bonn.
Struck, O. (2018), Aufschwung und Unzufriedenheit: Strukturwandel und Lebenssituation in Ostdeutschland. Bamberg: Otto-Friedrich-Universität Bamberg, Professur für Arbeitswissenschaft. DOI: https://doi.org/10.20378/irbo-50703 [letzter Aufruf: 21.03.2023].