Wie entsteht Wissen? Wer ,,schafft“ Wissen und wer entscheidet, was Wissen ist? Welchen Einfluss haben die Faktoren Geschlecht und Sozialisation in einem bestimmten Milieu auf die Sicht des Forschenden? Können objektive Erkenntnisse überhaupt entstehen, wenn die Herkunft einer Person ihre Theorie und Forschung beeinflusst?
Donna Haraway ist eine feministische Wissenschaftlerin, die sich mit diesen Fragen, der Rolle von Positionalität in der Objektivitätsdebatte, befasste und den Diskurs damit maßgeblich beeinflusste. Mit ihrem Konzept des ,,situierten Wissens“ fordert sie anstelle vorgeblich objektiver Standpunkte eine Wissenschaft, die sich gegen Neutralität und Universalität von Wissen ausspricht und zugibt, von historischen und kulturellen Einflüssen geprägt zu sein. Sie schlägt einen Gegenentwurf zum Idealbild des Forschenden vor, der losgelöst von seiner gesellschaftlichen Position Wissen produziert, das aufgrund scheinbarer Distanz zum untersuchten Objekt neutralere Erkenntnisse verspricht. Denn dies sei, so Haraway, realitätsfern und somit nicht möglich.
Um eine feministische Definition von ,,Objektivität“ zu erlangen, möchte Haraway den vorherrschenden Konsens in der Debatte um Objektivität aufzeigen und kritisiert diesen scharf. In diesem Kontext fällt die starke Rhetorik der Autorin auf, die ein dichotomes Verständnis von WisschenschaftlerInnen hat: auf der einen Seite sieht sie das imaginierte ,,sie“, gemeint sind männliche Wissenschaftler und Philosophen, die durch Geldmittel und Einfluss den wissenschaftlichen Diskurs dominieren. Dem gegenüber spricht Haraway von ,,wir“ als die ,,Anderen“, denen zugesprochen wird eine begrenzte Perspektive und eine Verzerrung in ihrer Sicht zu haben und aus diesem Grund nicht körperlos sein und objektive Erkenntnisse erreichen zu können. Die von der Autorin als ,,wir“ bezeichneten sind aus dem wissenschaftlichen Diskurs bis dato weitgehend verdrängt.
Um zu erläutern, wie es dazu kam, dass einige Menschen den Übergang aus der Position des markierten Körpers ,,in den erobernden Blick von nirgendwo“ (S.80) schafften, greift Haraway auf die Metapher der Vision zurück. Anders als im Deutschen, wo ,,Vision“ weitgehend als Einbildung begriffen wird, meint Vision in diesem Kontext sowie tatsächlich wahrnehmbare Tatsachen als auch Objekte der Vorstellung. Unter einem unmarkierten Körper versteht Haraway im Allgemeinen den weißen Mann, der die Macht hat ,,zu sehen, ohne gesehen zu werden sowie zu repräsentieren und zugleich der Repräsentation zu entgehen“ (S.80). Markierte Personen sind beispielsweise Frauen oder Menschen des globalen Südens, denen nicht zugetraut wird, objektive Erkenntnisse erlangen zu können. Diese Entkörperung der unmarkierten Personen schafft die Basis für eine Männer dominierte, rassistische und militarisierte Gesellschaft, in der die grenzenlose Macht von Wissenssubjekten ausgeht, die sich von jeglichem Zugeständnis menschlicher Befangenheit distanzieren. Im postmodernen Zeitalter hat die Sicht einer unendlichen Vision vollkommen neue Dimensionen angenommen: durch technische Hilfsmittel wird das Gefühl vermittelt, dem menschlichen Blickwinkel seien keinerlei Grenzen gesetzt. Beispielsweise durch die Rekonstruktion digitaler Signale aus dem All wird der Anblick ferner Planeten für den Menschen plötzlich real sichtbar gemacht. Die Vorstellung, Menschen seien in der Lage, alles und jeden sehen und erkennen zu können sieht Haraway höchst kritisch. Sie bezeichnet diesen Größenwahn als ,,göttlichen Trick“.
Es gibt die in feministischen Wissenschaftskritiken weit verbreitete Annahme, dass eine Perspektive aus Sicht von unterworfenen Standpunkten objektiveres Wissen generiert, als ,,die von den strahlenden Weltplattformen der Mächtigen herab“ (Sandra Harding). Auch Haraway stimmt dem zu, warnt jedoch vor einer zu undifferenzierten Herangehensweise: es besteht die Gefahr, dass Sichtweisen von unten romantisiert oder sogar angeeignet werden, denn auch das Sehen von unten birgt das Risiko der Verzerrung. Aus diesem Grund bedarf auch die Perspektive vom Standpunkt der Unterworfenen stets einer kritischen Überprüfung und Interpretation: ,,Die Standpunkte der Unterworfenen sind keine ,unschuldigen` Positionen“ (S.84) Menschen nehmen des Weiteren niemals zur Gänze eine Position ein, weder die eines/einer Privilegierten noch eines/einer Unterdrückten: ,,Das erkennende Selbst ist in all seinen Gestalten partial und niemals abgeschlossen, ganz, einfach da oder ursprünglich, es ist immer konstruiert und unvollständig zusammengeflickt“ (S.86)
Das Bewusstsein einer Person sich einer bestimmten Identität zugehörig zu fühlen, kommt nicht von nirgendwo. Haraway erläutert: ,,Wir sind uns selbst nicht unmittelbar präsent. Selbsterkennung erfordert eine semiotisch-materielle Technologie, die Bedeutung mit Körper verknüpft“ (S.85). Die (selbst-) Zuschreibung und Identifikation von Menschen wird also von der Gesellschaft beeinflusst, beziehungsweise geschaffen. Für Entscheidungen, die das Erkennende Selbst trifft, muss es Verantwortung übernehmen und kann dafür zur Rechenschaft gezogen werden.
Eine der Gemeinsamkeiten der verschiedenen Disziplinen auf dem breiten wissenschaftlichen Spektrum, ist die Darstellung von Forschungsobjekten als passive und inaktive Gegenstände, denen erst durch Wissenschaft eine Bedeutung zugesprochen wird. Diese Annahme stößt vor allem Feministinnen negativ auf, die so das Konzept von Gender als soziales Geschlecht gefährdet sehen. Mit der verfestigten Ansicht vom biologischen Geschlecht (,,Sex“) wird der ,,fragile[n] Raum für sozialen Konstruktivismus und kritische Theorie samt der […] Möglichkeit einer aktiven und verändernden Intervention“ (S.92) eliminiert. Haraway sieht die Ursprünge für dieses Bild, das erforschte Objekt als Ressource für wissenschaftliche Projektion zu nutzen, in der Geschichte des ,,weißen kapitalistischen Patriarchats […] die alles in eine anzueignende Ressource verwandelt, wobei das Wissensobjekt selbst nur noch Materie für die […] Tat des Erkennenden ist“(S.92). So wird dem betrachteten Objekt jeglicher Selbstwert abgesprochen.
Haraway fordert, dass das Wissensobjekt nicht länger als Ressource, sondern als aktive*r Agent*in angesehen wird: die Erforschten sollen nicht als ,,Leinwand oder Grundlage oder Ressource und schließlich niemals als Knecht eines Herren“ (S.93) betrachtet werden, da ihnen so ihrer Handlungsfähigkeit abgesprochen wird. Um objektive Erkenntnisse zu erlangen ist es jedoch nötig, diese Handlungsfähigkeit anzuerkennen, denn ,,die Kodierungen der Welt stehen nicht still, sie warten nicht darauf, gelesen zu werden“ (S.94)
In Bezugnahme auf die Analyse der Wissenschaftlerin Katie King, in welcher vorgestellt wird, wie Literatur produziert wird, versucht Haraway herauszustellen, wie die Produktion von Wissen organisiert ist, um die Idee des situierten Wissens zu erweitern. Hierbei stellt sich beginnend die Frage, ob sich Kings Annahmen über die Literatur auf die biologische Debatte übertragen lässt, also ob ,,biologische Körper in demselben strengen Sinn wie Gedichte ,,produziert“ oder ,,generiert““ (S.96) werden. Haraway ist von dieser These überzeugt und spricht dem Wissensobjekt so eine aktive Bedeutung bei der ,,körperlichen Produktion“ (S.96) zu. Sie stellt jedoch klar, dass kein Anspruch auf eine endgültige, universelle Gültigkeit darauf, ,,was zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt als objektives Wissen gelten kann“ (S.96) besteht.
Kaiser, Susanne (2021): Politische Männlichkeit. Wie Incels, Fundamentalisten und Autoritäre für das Patriarchat mobilmachen. 2. Aufl. Berlin: Suhrkamp Verlag. Kapitel 6: Biologismus als Angriff auf die Demokratie. S.198-207.
Haraway, Donna (1995): Situiertes Wissen. Die Wissenschaftsfrage im Feminismus und das Privileg einer partialen Perspektive. In: Hammer, Carmen/Stieß, Immanuel: Die Neuerfindung der Natur. Primaten, Cyborgs und Frauen. Frankfurt/New York: Campus: 73-97.