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SITUIERTES WISSEN UND STANDPUNKTE

Metamorphosen der Objektivität

Der Begriff „Objektivität“ wird täglich in der Wissenschaft gebraucht und ist in ständiger Diskussion. Was heutzutage dabei meist vollständig ausbleibt ist das Miteinbeziehen der Geschichte der Objektivität. Objektivität wird entweder als kulturneutrales und geschichtsloses Konzept gesehen oder ihr wird eine Geburtsstunde zugewiesen, seit welcher sie unverändert geblieben sein soll. Die Analysen der Wissenschaftshistorikerin Lorraine Daston zeigen aber, dass wissenschaftliche Geltungsansprüche nicht von der historischen Vorstellung der Objektivität zu trennen sind. Somit muss die Geschichte der Objektivität in die Diskussion mit einbezogen werden.

Als Grundlage ist also wichtig zu verstehen: Was ist moderne Objektivität?

Moderne Objektivität ist eine Vermischung von verschiedenen historischen Schichten und Konzepten. ⇒ Um zu verstehen, was wissenschaftliche Objektivität beanspruchen darf, muss diese Vermischung also aufgearbeitet und entwirrt werden.

Und wie wurde Objektivität und Wissenschaftlichkeit zuvor verstanden?

18. und Anfang 19. Jahrhundert:

19. Jahrhundert: Mechanistischer Objektivitätsbegriff:

⇒ Bezug zu heute: Es finden sich deutlich erkennbare Ablagerungen dieses Objektivitätsverständnisses in der Ökonomie der Wissenschaft.

Die jüngste Schicht: Aperspektivisches Objektivitätsverständnis

⇒ Bezug zu heute: Das Ideal der Aperspektivität dominiert das gegenwärtige Objektivitätsverständnis.

Die historischen Analysen sind für die feministische Diskussion des Objektivitätsbegriffs relevant, da sie zeigen, dass Objektivitätsbegriffe mit moralischen Vorstellungen verknüpft sind.

Situiertes Wissen und geteilte Wahrheit

In der Wissenschaft wird stark darüber diskutiert, wer Wahrheitsansprüche erheben darf und wer nicht. In diesem Zusammenhang ist auch das „situierte Wissen“ ein umstrittenes Thema. Vor allem neuere Ansätze aber stellen kulturelle und soziale Differenzen, sowie unterschiedliche Denkstile, Rationalitäten und Wissensformen als „situiertes Wissen“ in den Vordergrund. Damit wird der Forderung nach Aperspektivität nun Kultur- und Erkenntnisrelativismus entgegengestellt.

1. Wahrheitsansprüche

Ansätze wie die feministische Theorie und cultural studies sehen die Politisierung einer intellektuellen Praxis nicht im Widerspruch zu dem Anspruch auf Wissenschaftlichkeit. Diese Ansätze stellen sich vor allem die Frage, was sich zu wissen lohnt, für wen und wozu. Die enge Verbindung von emanzipatorischen Interessen und Wissens- und Wahrheitsansprüchen, welche für diese Ansätze eine wichtige Rolle spielt, ist die Fortsetzung einer philosophischen Tradition. Denn auch frühere PhilosophInnen und WissenschaftstheoretikerInnen wie beispielsweise Kant übten diese enge Verbundenheit aus. Jedoch wird diese Verbindung von Wahrheitsansprüchen und der eigenen Situiertheit vor allem von der klassischen Wissenschaft abgelehnt, denn laut ihr kann die Wahrheit nur aus „harten Fakten“ bestehen. Aufgrund dieser Haltung spricht sich Singer für eine Revision des Wahrheitsbegriffs aus, was bedeutet die wissenschaftlichen Objektivitätsansprüche zusammen mit den politisch-ethischen Orientierungen zu verhandeln. Zusätzlich muss auch die Beurteilung von wissenschaftlichen Fortschritten und Erfolgen an die emanzipatorischen Sinnfragen rückgebunden sein.

Die Wahrheit im Allgemeinen ist eine wissenschaftliche, wirtschaftskritische, politische und ethische Frage. Die Ansprüche auf Wahrheit sind somit an der Kreuzung von Wissenschaft, Ethik und Politik verankert. Jedoch liegt die Wahrheit nicht einfach „da draußen“, wie man meinen möchte. Denn die Subjekte der Erkenntnis sind selbst Beteiligte der Gesellschaft und können deshalb auch keine reine Realität abbilden. Somit liegt die Realität viel mehr „zwischen uns“, da auch die Welt „zwischen den Menschen liegt“ (Hannah Arendt). Das „situierte Wissen“ besagt außerdem, dass die Basis der Erkenntnis die natürlichen und die menschengeschaffenen Bedingtheiten sind. Diese Erkenntnis zeigt, dass das „Konstruieren“ kein freies Spiel der Erkenntnis ist, unabhängig davon, ob es sich auf die sozialen oder natürlichen Bedingungen bezieht.

2. Sozialkonstruktivistische Ansprüche

Um die Produktion von wissenschaftlicher Erkenntnis nicht als einfache Abbildung der Realität und gleichbleibende Forschungslogik zu erfassen, ist ein erkenntniskritischer Konstruktivismus ausschlaggebend. Jedoch ist eine vom Sozialkonstruktivismus inspirierte Forderung nach einer Soziologisierung der Rechtfertigung von Wissensansprüchen nicht ausreichend. Das würde heißen, dass man sich epistemologisch auf das Soziale begrenzt hätte.

Die Stärke der sozialkonstruktivistischen und wissenschaftssoziologischen Ansätze ist die Problematisierung der gesellschaftlichen Bedingtheit von Wissenschaft. Denn dadurch werden die zentralen Punkte des positivistischen Wissenschaftsverständnis untergraben. Die Schwäche liegt dafür in der Einschränkung der Dimensionen von Erkenntnis und Wissen auf ein Verständnis der wissenschaftlichen Erkenntnis, welches sie nur als Produkt von sozialen Beziehungen erscheinen lässt. Dadurch lösen sich Wahrheits- und Objektivitätsansprüche im Sozialen auf.

Für das Paradigma des „situierten Wissens“ ist eine politisch-ethische Verbindlichkeit und Rückbindung an die kritische Gesellschaftstheorie ausschlaggebend, da es sich ansonsten in Beliebigkeit verlaufen würde. Denn die Behauptung von situiertem wissenschaftlichem Wissen ist noch lange kein emanzipatorisches Programm. Außerdem, wird unter „situiertem Wissen“ auch Unterschiedliches verstanden in den verschiedenen Ansätzen. Denn die Bestimmung von Situiertheit ist abhängig von den Auffassungen und Theorien, welche über die soziale Geschichte, sowie über die politischen und ethischen Perspektiven und das Wissenschaftsverständnis vorherrschen. In der proletarischen und materialistisch-feministischen Standpunkttheorie beispielsweise, wird die Situiertheit auf die Klassen- und/ oder Geschlechterverhältnisse bezogen. Jedoch wird dies immer häufiger kritisiert, da man einerseits eine Verbindung zwischen sozialen Verhältnissen und Denkweisen nicht unbedingt annehmen kann. Andererseits wird kritisiert, dass die Kategorien Klasse und Geschlecht unzureichend sind. Deshalb gilt als neueres, soziales Kriterium immer öfter die Marginalisiertheit. Im Gegensatz dazu wird das „situierte Wissen“ beispielsweise in der klassischen Wissenssoziologie so verstanden, dass Neutralität und Unparteilichkeit die Analysen leiten sollen.

3. Epistemologische Perspektiven

In der klassischen Erkenntnistheorie wird das empirische Subjekt der Erkenntnis kaum thematisiert, während es für feministische, cultural studies und postkoloniale TheoretikerInnen zentral ist, über wessen Erkenntnis gesprochen wird.

Die Aufgabe der Epistemologie ist es, Wissen und Macht als Wirklichkeitssinn, sowie Gerechtigkeit und Ermächtigung als Möglichkeitssinn zu befördern. In dem Raum zwischen dem Wirklichkeitssinn und dem Möglichkeitssinn kann politisch-ethisch orientierte Epistemologie emanzipatorisch Sinn machen.

Unter dem Begriff der Epistemologie sind verschiedene disziplinäre Zugänge subsumierbar (z.B. historisch, soziologisch-empirisch, etc.). Heutzutage ist die Philosophie aber kein Monopol mehr in der Erkenntnistheorie, denn die wissenschaftliche Erkenntnis ist mittlerweile eine soziale und kulturelle Aktivität und Praxis innerhalb einer gesellschaftlichen Ordnung. Die Aufgabe der philosophischen erkenntnistheoretischen Perspektiven ist in diesem Gemisch von Disziplinen wichtig, da Epistemologie auch Raum für Kritik und Utopie beinhalten muss. Doch gerade die Philosophie muss sich als erkenntnistheoretische Perspektive ständig rechtfertigen, obwohl gerade die Erkenntnistheorie der Philosophie grundlegende Fragen der ganzen Wissenschaft klärt und somit eine hohe Relevanz besitzt.

Die unterschiedlichen erfahrungswissenschaftlichen Unternehmen haben zusammen jedoch keine Beschreibung eines großen Ganzen. Denn die Ansätze arbeiten alle in Isolation und somit kann das Zusammenschließen der verschiedenen Ansätze nicht zu einer komplexeren Beschreibung führen, da die Teile nicht zusammenpassen.

Singer schlägt außerdem das Einführen der erweiterten Rationalität vor, denn sozialwissenschaftliche Daten sind schon in der Erhebung abhängig von den Einstellungen der WissenschaftlerInnen. Um eine erweiterte Rationalität zu ermöglichen, muss sich durch ethische und politische Reflexionen an den Strategien der Gerechtigkeit orientiert werden.

Ergänzende Literatur

Haraway, Donna: Die Neuerfindung der Natur. Primaten, Cyborgs und Frauen; Frankfurt a. M.: Campus Verlag 1995

Zu finden unter: https://link.springer.com/chapter/10.1007/978-3-322-80445-7_19

Besonders passend zu dem Thema „Situiertes Wissen und Standpunkte“ ist das Kapitel „Situiertes Wissen“ (Seite 34-73).

Quelle

Singer, Mona 2005. Geteilte Wahrheit. Feministische Epistemologie, Wissenssoziologie und Cultural Studies, Wien:

Kapitel 2.1 Metamorphosen der Objektivität (62–68) und 6. Situiertes Wissen und geteilte Wahrheit (259–273)

https://institut.soziologie.uni-freiburg.de/dokuwiki/lib/exe/fetch.php?media=lv-wikis:literatur:singer2005_geteilte-wahrheit.pdf