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Lexikon

Daseinsvorsorge

Daseinsvorsorge ist als Begriff an sehr spezifische Kontexte geknüpft und findet daher im allgemeinen Sprachgebrauch weniger Verwendung.

Nach dem deutschen Staats- und Verwaltungsrechtler Ernst Forsthoff, der in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts maßgeblich auf die Entwicklung und Formung des Begriffs einwirkte, bezeichnet es das Sorge Tragen für die Schaffung und Aufrechterhaltung allgemeiner Lebensumstände, die in einer Gesellschaft als mehr oder weniger elementare Basis der Lebenserhaltung definiert werden. Im Übergang vom Industrie- zum Wohlfahrtsstaat wurde es zu einer seiner Hauptaufgaben erklärt, durch staatliche Bereitstellung und Betreibung von Infrastrukturen und Institutionen Verantwortung für die Daseinsvorsorge seiner Bürger*innen zu übernehmen. So soll jeder Mensch u. A. über fließend Wasser und Strom, Zugang zu ärztlicher Versorgung, Zugang zu Lebensmittelversorgung, Anbindung an Verkehrsnetze sowie Zugang zu Kulturangeboten und (besonders schulischer) Bildung verfügen.

Das Konzept von Daseinsvorsorge ist mit den Werten und Idealen von Gerechtigkeit, Chancengleichheit, sozialer Integration und gesellschaftlicher Teilhabe eng verbunden. Die Einbettung eines Jeden in umfassende Strukturen soll die moderne differenzierte Gesellschaft eines Staates „einen“, indem bei den Bedürfnissen des Individuums angesetzt wird. Demgegenüber kann Daseinsvorsorge auch für individuelle und ökonomische Abhängigkeit, Einschränkung und Kontrolle stehen. Wie weit Daseinsvorsorge gehen soll und wie weit der Staat Verantwortung dafür zu tragen hat, ist eine Streitfrage.

Dekommodifizierung

Als in Europa im 19. Jahrhundert beim Übergang von der Agrar- zur kapitalistischen Industriegesellschaft die institutionellen Stützen der ländlich-feudalen und ständischen Gesellschaft beseitigt wurden und traditionelle Sicherungsformen verloren gingen, wurde die Arbeitsleitung Jener, die das Land verlassen und in die Städte abwandern mussten, „kommodifiziert“, d.h. zur Ware gemacht (engl. „commodity“ = Ware). Vom Verkauf der Arbeitskraft auf dem Arbeitsmarkt (Lohnarbeit) hing die materielle Existenz der ArbeitnehmerInnen und ihrer Familien fortan ab. Ausbeutung in der Frühphase der Industrialisierung (z.B. 85-Std.- Woche, Kinderarbeit, Hungerlöhne), Unfall, Krankheit und Beschäftigungslosigkeit gefährdeten unmittelbar die Grundlage ihrer Existenz. Für die Industriearbeiterschaft wurde ein neues System sozialer Sicherung notwendig. Dekommodifizierung bedeutet in diesem Zusammenhang die Unabhängigkeit von ArbeitnehmerInnen und BürgerInnen von Erwerbseinkommen und Markt im Falle von Krankheit, Unfall, Alter oder Arbeitslosigkeit durch ein entwickeltes soziales Sicherungssystem. Der Grad der Dekommodifizierung ist je nach Wohlfahrtsregime unterschiedlich ausgeprägt.

Dörflichkeit

Mit dem Begriff „Dörflichkeit“, wollen die Autorinnen Claudia Neu und Eva Barlösius eine Erweiterung des Begriffes „Ländlichkeit“ schaffen. Dörflichkeit wird hier als eine spezifische Ausprägung von Sozialität verstanden und bietet damit eine umfassendere Perspektive auf das Leben in der (Dorf)Gemeinschaft. Die Form der Sozialität wird als ein aktives Miteinander verstanden, das eben nicht nur auf den ländlichen Raum begrenzt ist, sondern sich auch außerhalb eines Dorfes entwickeln kann.

Funktionale Differenzierung

Bereits für Klassiker in der Soziologie (Marx, Weber, Durkeim, Simmel) spielt die Theorie der sozialen Differenzierung eine bedeutende Rolle. Der Begriff der funktionalen Differenzierung wird in der Soziologie vor allem von dem deutschen Soziologe Niklas Luhmann geprägt. Die funktionale Differenzierung beschreibt in Luhmanns Systemtheorie, dass sich innerhalb eines sozialen Systems einzelne Teilsysteme herausbilden, die er Funktionssysteme nennt. Die einzelnen Funktionssysteme erfüllen jeweils eine Aufgabe für das Gesamtsystem und lassen sich beispielsweise in das System des Rechts, der Wissenschaft, der Politik oder der Religion unterteilen.

Habitualisierung

Habitus
Der Begriff des Habitus wird in der Soziologie vor allem von dem französischen Soziologen Pierre Bourdieu geprägt. Der Habitus beschreibt die erworbene Haltung einer Person und meint ein kohärentes System von Handlungsschemata. Der Habitus ist somit das inkorporierte Soziale einer Person. Akteure eignen sich den Habitus im Laufe ihrer Lebensgeschichte an - sie können dem Habitus nach Bourdieu nicht entkommen. Der Habitus beinhaltet somit eine starke Betonung von Routine und Gewohnheiten.

Habitualisierung
Der Begriff der Habitualisierung geht auf Bourdieus Begriff des Habitus zurück und kann innerhalb der Soziologie der wissenssoziologischen Theorie der Habitualisierung zugeordnet werden. Da es eine Vielzahl an Ausführungen zu dem Begriff der Habitualisierung gibt, wird hier auf die Soziologen Schütz, Berger und Luckmann zurückgegriffen. Habitualisierung bezieht sich darauf, dass individuelle Handlungsvollzüge, vor allem körperliche Fertigkeiten, zum Gewohnheitswissen werden. Habitualisierung setzt dabei Typisierung voraus. Um Handlungen wiederholen zu können, müssen wir sie und die für sie als charakteristisch erfahrenen Umstände typisieren können.

Infrastruktur

Infrastrukturen in wissenschaftlicher Theorie
Infrastrukturen wurden seit der Verwendung des Begriffs unterschiedlich wissenschaftlich betrachtet. Dabei lässt sich eine Entwicklung von einem rein technischen, funktionalen Verständnis zu ihrer Definition als elementare Bausteine des Sozialstaates beobachten, welche durch allgemeine Lebensvorsorge gesellschaftliche Teilhabe ermöglichen. Dieser wissenschaftlich begründete Perspektivenwandel geht mit dem Wandel von der industriellen Gesellschaft zur wohlfahrtsstaatlichen einher. Schließlich rückten immer weitere Komponenten als die bloße „Eigentumsform” der Infrastrukturen ins Bild: ihre Definition als institutionelle Arrangements soll komplexere Aussagen über die spezifischen Organisationsformen von Infrastrukturen ermöglichen. Über die wirtschaftliche und politische Perspektive hinaus weisen Theorien von Infrastrukturen als „boundary objects“ und Netzwerken, welche in ihnen vor allem Orte der Kommunikation und der sozialen Interaktion sehen. Die zunehmende Untersuchung der Wechselwirkung von Sozialität und Infrastruktur könnte auf den Wandel von der wohlfahrtsstaatlichen zur Wissensgesellschaft hinweisen (Barlösius 17-32).

Infrastrukturen im heutigen Sprachgebrauch
Untersucht man die Verwendung des Begriffes Infrastruktur außerhalb wissenschaftlicher Auseinandersetzungen damit, zeichnet sich ein Verständnis dieser als besonders sozial interaktiver Orte und Strukturen ab, die in ihrer Stabilität und Notwendigkeit eine Bedingung und zentrale Säule (oder Säulen) des „gesellschaftlichen Zusammenlebens“ bilden, anstatt vordergründig ökonomisch zu agieren (Barlösius 33-40).

Infrastrukturelles Regime

Der Begriff des Regimes wird in der Zusammensetzung eines „infrastrukturellen“ Regimes als deskriptiver und nicht als theoretisch hergeleiteter Begriff verwendet. Mit ihm soll betont werden, dass Infrastrukturen sozial strukturierend sind und damit Ergebnis sozialer Prozesse und Strukturen und sie zugleich sozial strukturierend wirken, also soziale Strukturierungen hervorbringen beziehungsweise vorhandene soziale Strukturen festigen.

Infrastrukturelle Strukturierung

Durch das Zusammenwirken der vier Charakteristika „Vorleistungen, Sozialität, Regelwerk und Verräumlichungen“ der Infrastrukturen entsteht eine bestimmte Strukturierungsweise, welche als infrastrukturelle Strukturierung bezeichnet werden kann. Diese Strukturierungsweise wirkt auf das soziale Feld der jeweiligen Infrastruktur und auf die Prozesse der sozialen Integration und Vergesellschaftung, indem sie beispielsweise Erwartungen formt, Teilhabe und Teilnahme gestaltet und Handlungen standardisiert. Mit dem Begriff infrastrukturelle Strukturierungsweise sollen Wirkungen von Infrastrukturen untersucht und Veränderungen von Infrastrukturen rekonstruiert werden.

Kanonische Eigenschaften

Mit dem Begriff der kanonischen Eigenschaften meint Barlösius solche Eigenschaften einer Infrastruktur, die einem infrastrukturellen Regime als Richtschnur dienen und dieses typischerweise charakterisieren. Um zu prüfen, inwiefern die aktuelle Forschungsinfrastrukturierungen das Muster einer neuen infrastrukturellen Strukturierungsweise vorgibt, wendet Barlösius zwei Schritte an. 1.: Sie führt Parallelen zu den kanonischen Infrastrukturen Telefon, Elektrizität und Schienen an, die das wohlfahrtsstaatliche infrastrukturelle Regime der Industriegesellschaft prägten. 2.: Sie gleicht ab, inwiefern der Wandel in der Forschungslandschaft auch in anderen Feldern sichtbar wird und bettet die Entwicklungen in einen größeren Kontext.

Konzeption

Mit einer Konzeption ist bei Barlösius „eine Art Grundriss“ gemeint, der die Eigenschaften von Infrastrukturen charakterisiert. Der Begriff der Konzeption ist nicht mit einer Theorie gleichzustellen, er soll aber „mehr leisten als eine bloße Bedeutungsbestimmung“. Zum einen soll sie empirisch-analytisch nutzbar sein und zum anderen so theoretisch fundiert, dass sie von ähnlichen Konzepten unterschieden werden kann.

Policy making infrastructure

Der Begriff „policy making infrastructure“ geht auf Adam C. G. Cooper zurück und beschreibt Infrastrukturen, die Wissen schaffen sollen, auf Basis dessen Politik betrieben wird. Es handelt sich um dauerhafte Einrichtungen, die eigens für den Staat geschaffen wurden und nach seinen Anforderungen forschen. In Deutschland sind das Ressortforschungseinrichtungen, die meist den Ministerien unterstellt sind und für diese arbeiten.

Soziale Wechselwirkungen

Der Begriff der sozialen Wechselwirkungen geht auf den deutschen Soziologen Georg Simmel zurück. Simmel untersucht Wechselwirkungsaktivitäten als Alternative zur entweder beim Individuum oder der Gesellschaft ansetzenden Perspektive. Als soziale Wechselwirkungen sind nach Simmel die permanent neu zu knüpfenden sozialen Beziehungen zu verstehen. Damit entfernt sich Simmel von einem statischen Gesellschaftsbegriff und setzt diesem den Bergriff der Vergesellschaftung entgegen. Für Simmel existiert die Gesellschaft dort, wo mehrere Individuen in Wechselwirkungen miteinander treten.

Soziales Feld

Der Begriff des sozialen Felds geht in der Soziologie auf die Feldtheorie des französischen Soziologen Pierre Bourdieu zurück. Ähnlich wie in konkurrierenden Theoriemodellen geht auch Bourdieu davon aus, dass sich die Gesellschaft über einen fortschreitenden Differenzierungsprozess in verschiedene Sektoren unterteilt, die er soziale Felder nennt. In den differenzierten Gesellschaften können das politische, religiöse, wissenschaftliche, künstlerische, das Feld der Ökonomie, des Rechts, der Bürokratie… unterschieden werden. Bourdieu strebt keine vollständige Erfassung aller bestehenden Felder an, es sind also Erweiterungen möglich. Zwischen den einzelnen Feldern besteht nach Bourdieu kein hierarchisches Verhältnis. Entscheidend ist, dass jedes Feld nach je eigenen Gesetzen funktioniert, die sich auf andere Felder nicht übertragen lassen. Ein Feld ist dadurch ein autonomer Mikrokosmos innerhalb des sozialen Makrokosmos.

Stratifizierung

Beim Kriterium der Stratifizierung geht es um die Wirkung des Wohlfahrtsstaates auf die soziale Ungleichheit. Esping-Andersen betont in diesem Zusammenhang, dass der Wohlfahrtsstaat nicht einfach nur auf bestehende Ungleichheit reagiere und diese verringere, sondern vielmehr ein eigenes System der Stratifizierung sei.

Temporalisierung

Temporalisierung beschreibt in diesem Kontext einen Prozess der mit dem Wandel von substanzielle zur relationalen Raumbestimmungen einhergeht und beschreibt eine Verzeitlichung geografischer Entfernungen (Beispiel: Arbeitsmarkt und Pendler:innen). Entfernungen werden zunehmend nicht mehr in räumlicher, sondern in zeitlicher Dimension bemessen. Auch geht es weniger um die lokal fixierte Gewährleistung von Infrastruktur sondern darum wieviel Zeit man braucht um anderorts lokalisierte Infrastrukturen zu erreichen (vgl. 122). Das hat eine Entterritorialisierung des Zugangs und der Erreichbarkeit infrastruktureller Vorleistungen und Sozialität zu Folge.

Wissensgesellschaft

Das Zeitalter der Industriegesellschaft geht zu Ende. An seine Stelle tritt die Wissensgesellschaft, so die Theorie der Vertreter*innen dieses Begriffes. In der Wissensgesellschaft bekommt Wissen eine viel größere Bedeutung als vorher. Nicht alltägliches Wissen, sondern wissenschaftliches und technisches Wissen. Es hat eine wichtige wirtschaftliche Rolle und wird zu einer eigenständigen Produktivkraft. Das Leben in einer Wissensgesellschaft wird tiefgreifend vom Wissen mitgestaltet.

Wohlfahrtsstaatliche Industriegesellschaft

Für Barlösius soll der Begriff wohlfahrtsstaatliche Industriegesellschaft nicht die Leistung einer systematischen Gesellschaftscharakteristik erbringen. Vielmehr soll er lediglich zwei Entwicklungslinien der Gesellschaft skizzieren: zum einen die Implementation eines Wohlfahrtsstaates und zum anderen der Übergang von einer Agrarproduktion zu einer Industrieproduktion.

Wohlfahrtsregime

Das jeweilige Arrangement der Wohlfahrtsproduktion zwischen Staat, Markt und Familie wird als „Wohlfahrtsregime“ bezeichnet.

Quellen

Barlösius, Eva (2019): Infrastrukturen als soziale Ordnungsdienste: ein Beitrag zur Gesellschaftsdiagnose, Frankfurt New York.

Knoblauch, Hubert (2003): Habitus und Habitualisierung. Zur Komplementarität von Bourdieu mit dem Sozialkonstruktivismus. In: Rehbein, Boike et. al. (Hg.): Pierre Bourdieus Theorie des Sozialen. Probleme und Perspektiven. Konstanz: UVK, S. 187-201.

Schroer, Markus (2017): Soziologische Theorien. Von den Klassikern bis zur Gegenwart. Paderborn: Wilhelm Fink.