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Die Kategorisierung von Vielfalt: Versprechen, Defizite und Probleme. Ein Blick auf die Diversitätspolitik an Universitäten, insbesondere an der Universität Freiburg
Dieses Wiki befasst sich mit der Kategorisierung von Vielfalt, mit einem Schwerpunkt auf den Gefahren, die diese Differenzierung in verschiedene Dimensionen birgt und der Repräsentanz der Dimensionen im akademischen Diskurs. In vier Teilen sollen folgende Fragen beantwortet werden:
- In welchen Dimensionen lässt sich Vielfalt fassen? Welche institutionellen Maßnahmen bestehen, um Diskriminierung aufgrund der verschiedenen Dimensionen entgegenzuwirken?
- Welche Gefahren ergeben sich aufgrund der Kategorisierung von Diversität? Was bedeutet „postkategoriales Denken“ in diesem Kontext?
- Welche Form nimmt der Diversitätsdiskurs im akademischen Feld an? Welche Probleme bestehen?
- Welche politische Agenda verfolgt die Universität Freiburg um eine Gleichstellung der Studierenden zu befördern?
Dimensionen von Vielfalt
Zur Fassung der Unterschiede und Gemeinsamkeiten der Menschen unterscheidet die Charta der Vielfalt sieben Kerndimensionen von Vielfalt.1)
- Alter (Lebensalter eines Individuums)
- Ethnische Herkunft und Nationalität: Die Abstammung eines Menschen und seine damit verbundenen äußerlichen oder sprachlichen Eigenheiten, angefangen von der Hautfarbe über die Zugehörigkeit zu einem Volk oder einer Volksgruppe bis hin zu Sprache oder Dialekt.2) Der Begriff der ethnischen Herkunft folgt dem Gedanken, dass gesellschaftliche Gruppen durch eine Gemeinsamkeit der Staatsangehörigkeit, Religion, Sprache, kulturellen und traditionellen Herkunft und Lebensumgebung gekennzeichnet sind.3)
- Geschlecht und geschlechtliche Identität: Die Geschlechtsidentität meint das Empfinden eines Menschen, einem Geschlecht anzugehören.4) Das empfundene Geschlecht muss nicht mit dem Geschlecht übereinstimmen, das ein Mensch bei der Geburt zugewiesen bekommen hat. Das Personenstandsgesetz (PStG) 2018 sieht vier mögliche Geschlechtseinträge vor: weiblich, männlich, divers, keine Angabe.5)
- Körperliche und geistige Fähigkeiten: Körperliche Fähigkeiten bedeuten motorische Fähigkeiten und körperliche Belastbarkeit.6) Geistige Fähigkeiten sind solche, die es ermöglichen Informationen aufzunehmen, aus dem Gedächtnis abzurufen und praktisch umzusetzen, sich mit anderen auszutauschen, Neues zu lernen, zu planen und Entscheidungen zu treffen. Dazu gehören zum Beispiel die Wahrnehmung, Aufmerksamkeit, Merkfähigkeit, Denk- und Problemlösefähigkeit und das Sprachvermögen.7)
- Religion und Weltanschauung: Religion bezeichnet Glaubensvorstellungen, die sich auf ein Jenseits beziehen, d.h. auf eine den Menschen übersteigende Wirklichkeit. Weltanschauungen sind Überzeugungen über die Stellung des Menschen in der Welt.8)
- Sexuelle Orientierung (sexuelle Neigung)
- Soziale Herkunft: Die soziale Herkunft einer Person umfasst den angestammten oder ererbten sozialen Status einer Person und die soziale Situation der/des Einzelnen.9)
Jede dieser Dimensionen besitzt diverse Ausprägungen. Es existieren verschiedene Gesetze, die Diskriminierung, die aufgrund der verschiedenen Ausprägungen erfahren wird, verhindern sollen. Das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) von 2006 benennt Rasse, ethnische Herkunft, Geschlecht, Religion oder Weltanschauung, Behinderung, Alter und sexuelle Identität als die zentralen Dimensionen von Diskriminierung und möchte letztere verhindern bzw. beseitigen.10) Jenseits der sozialen Herkunft handelt es sich bei den Definitionen zu den Kerndimensionen von Vielfalt (siehe oben), um solche die im Sinne des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes fungieren. Allerdings sei auf folgende Aspekte hingewiesen: Die sexuelle Identität im AGG umfasst die sexuelle Orientierung und die Geschlechtsidentität (BECK) und die soziale Herkunft findet im AGG noch keine Berücksichtigung als Diskriminierungsmerkmal. Außerdem verbietet das AGG Diskriminierung gegenüber Behinderten und spricht somit die Personengruppe der Betroffenen an und nicht den Prozess des Diskriminierens aufgrund von körperlichen oder geistigen Fähigkeiten.
Institutionelle Maßnahmen zur Vorbeugung von Diskriminierung
Richtlinien der Europäischen Union zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung
Zwischen 2000 und 2004 beschloss der Rat der Europäischen Union vier Behandlungsrichtlinien, die das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz 2006 in deutsches Recht umsetzt.11)
- Antirassismusrichtlinie (2020) zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung ohne Unterschied der Rasse oder der ethnischen Herkunft12)
- Rahmenrechtliche Beschäftigung (2000) zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen hinsichtlich des Zugangs zur Beschäftigung, zur Berufsbildung und zum beruflichen Aufstieg sowie in Bezug auf die Arbeitsbedingungen13)
- Gender Richtlinie (2002) zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung bezüglich der Diskriminierung aufgrund des Geschlechts14); Neufassung durch die Richtlinie 2006/54/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. Juli 2006 zur Verwirklichung des Grundsatzes der Chancengleichheit und Gleichbehandlung von Männern und Frauen in Arbeits- und Beschäftigungsfragen
- Richtlinie zur Gleichstellung der Geschlechter (2004) beim Zugang zu und bei der Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen (Gleichstellung der Geschlechter außerhalb der Arbeitswelt)15)
Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz von 2006
Das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz trat am 18. August 2006 in Kraft und ist Teil des Gesetzes zur Umsetzung europäischer Richtlinien zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung vom 14. August 2006.
Ziel des Gesetzes
§1 Ziel des Gesetzes: Ziel des Gesetzes ist es Benachteiligungen aus Gründen der Rasse oder wegen der ethnischen Herkunft, des Geschlechts, der Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Identität zu verhindern oder zu beseitigen. 16)
Begründung zum Gesetzesentwurf
Der Gesetzesentwurf fußt auf der Grundkenntnis, dass alle Menschen Träger:innen der verschiedenen in den Richtlinien genannten Kategorisierungen sind. Anerkannt wurde, dass allerdings nicht alle Personen in gleichem Maße von Diskriminierungen betroffen sind. Eine schlechtere soziale Lage bestimmter Gruppen kann anhand kategorisierungsbezogener Unterschiede beschrieben werden.17)
Inhalte
Das Gesetz ist in sieben Abschnitte gegliedert.
- Allgemeiner Teil: Im allgemeinen Teil sind Ziel des Gesetzes, die Anwendungsbereiche und Begriffe definiert. Es wird auf die Zulässigkeit einer unterschiedlichen Behandlung unter bestimmten Umständen eingegangen.18)
- Schutz der Beschäftigten vor Benachteiligung: Der Abschnitt ist unterteilt in das Verbot der Benachteiligung, die Organisationspflichten des Arbeitgebers und die Rechte der Beschäftigten.19)
- Schutz vor Benachteiligung im Zivilrechtsverkehr (Diskriminierung im öffentlichen und gesellschaftlichen Leben)20)
- Rechtsschutz: Dieser Abschnitt definiert Antidiskriminierungsverbände und bestimmt deren Befugnisse.21)
- Sonderregelungen für öffentlich-rechtliche Dienstverhältnisse22)
- Antidiskriminierungsstelle des Bundes und Unabhängige Bundesbeauftragte oder Unabhängiger Bundesbeauftragter für Antidiskriminierung: Mit diesem Abschnitt wurde die Antidiskriminierungsstelle des Bundes errichtet, unter der Leitung eines Unabhängigen Bundesbeauftragten für Antidiskriminierung. Der Abschnitt bestimmt ferner, welche Anforderungen an das Amt der/des Unabhängigen Bundesbeauftragten für Antidiskriminierung gestellt werden und welche Rechtsstellung und Einschränkungen sie/er erfährt.23)
- Schlussvorschriften: Der letzte Abschnitt betont die Unabdingbarkeit des Gesetztes.24)
Umsetzung (in der Theorie)
Dieses Video der Antidiskriminierungsstelle des Bundes erklärt, wie das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz helfen kann, wenn eine Person Diskriminierung erlebt und wie das AGG die Antidiskriminierungsstelle des Bundes unterstützt. Grundsätzlich findet das Gesetz Anwendung in zwei Lebensbereichen: Im Arbeitsleben und in Alltagsgeschäften.25) Wenn Beschäftigte im Beruf diskriminiert werden, dann haben sie zum einen das Recht sich bei ihrem/ihrer Arbeitgeber:in darüber zu beschweren und können zum anderen ein Recht auf Entschädigung und Schadensersatz zu klagen. Dasselbe gilt für Alltagsgeschäfte, etwa eine Diskriminierung in einem Restaurant bei der Tischvergabe, an einem Einlass vor einer Diskothek, im Fitnessstudio oder bei der Wohnungssuche.26) Das Gesetz legt fest, wann eine ungleiche Behandlung aufgrund der Vielfaltsmerkmale zulässig ist und wann nicht. Jede Person die sich diskriminiert fühlt kann sich an die Antidiskriminierungsstelle des Bundes wenden und hat dort Anspruch auf eine Beratung.
Das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz wurde in den letzten Jahren vermehrt kritisiert. Neben umstrittenen Definitionen und kontroversen Fristen, bildet der kategoriale Ansatz, welchem das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz folgt und welcher somit die Rechtspraxis beherrscht, einen streitigen Kritikpunkt.29) Auf letzteren soll in diesem Wiki mit Blick auf den Ansatz des „Postkategorialen Denken“ eingegangen werden.
Kritik am allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz unter dem Stichwort ‚Postkategoriales Denken‘
Das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz bestärkt durch seine bloße Existenz das sogenannte Kategoriendilemma. Dieses spielt auf folgende Probleme an:
- Gruppenrechte verfestigen kollektive Identitäskonzepte: Der Begriff der kollektiven Identität umfasst alle Vergemeinschaftungs- und Vergesellschaftungsvorgänge, die zu deutlich abgrenzbaren sozialen Einheiten führen.30) Im Diskurs wird zwischen essentialistischen und konstruktivistischen Konzepten kollektiver Identität unterschieden. Beiden Ansichtsweisen gemein ist die Selbst- und Fremdidentifikation verschiedener Gruppen, welche eine kollektive Identitätsbildung bezwecken.31) Die Auffassung eines „Wir und Ihr/Sie“ birgt einige Gefahren, so basieren Diskriminierungen vielfach auf Fremdzuschreibungen.32) Das AGG soll der Diskriminierung aufgrund verschiedener Merkmale entgegenwirken. Doch durch die Kategorisierung dieser, werden Selbstbeschreibungen und Fremdzuschreibungen bestärkt. Diskriminierungsmerkmale wie ethnische Herkunft, Rasse, Behinderung oder Geschlecht, zwingen Betroffene dazu sich in die etablierten Merkmalsgruppen einzuordnen und somit eine Gruppenzugehörigkeit anzunehmen.33)
- Das Gesetz setzt voraus, dass Personen sich mit jeweils einer Ausprägung jeder Dimension identifizieren können. In vielen Fällen fällt dies Betroffenen schwer. So handelt es sich beispielsweise bei der sexuellen Orientierung oder der Geschlechtsidentität um umstrittene Konstrukte, welche für viele Personen sensible Themen und Kategorien, in welche sie sich nicht einordnen können, darstellen.34)
- Wenn es Menschen nicht gelingt, sich in die Kategorien einzuordnen und auch, wenn Ausgrenzungen mehrdimensional funktionieren, kann Schutzbedürftigkeit juristisch vielleicht gar nicht festgestellt und auf die Diskriminierung somit nur unzureichend reagiert werden.35)
- Formulierungsproblem: Das AGG verbietet Diskriminierung gegenüber Behinderten und spricht somit die Personengruppe der Betroffenen an und nicht den Prozess des Diskriminierens aufgrund von körperlichen oder geistigen Fähigkeiten und/oder diejenigen die diskriminieren. Das Verbot gegenüber der Diskriminierung von einer Personengruppe, beinhaltet die Implikation, dass diese per se schutzbedürftig ist.36)
Doris Liebscher und Kolleg:innen analysierten die Rechtspraxis zu den einzelnen Ungleichheitsdimensionen. Ihre Analyse ergab, dass Schutzrechte oft nur aufgrund eines essentialistischen und biologischen Verständnisses von Diskriminierungsmerkmalen gewährt werden.37) Die Folge hiervon sind nicht gerechtfertigte Ausschlüsse vom Schutz vor Diskriminierung und oft „wenig effektiv aufgestellte, monokausal und nicht intersektional orientierte“ positive Maßnahmen in der Rechtswirklichkeit. 38)
Postkategoriales Denken
Postkategorial meint die Überwindung der Kategorisierung, wie sie die Gesetzesartikel und politische Agenden gegen Diskriminierung vorschreiben (Post als ein Nach bisherigem, an gruppistischen Kategorien ausgerichtetes Recht).39)
Liebscher und Kolleg:innen stellen folgende Forderung auf um Postkategoriales Denken im Recht zu verwirklichen und mithilfe derer Umsetzung dem Kategoriendilemma entgegengewirkt werden kann:
„Statt spezifische Merkmale für die Inanspruchnahme von Schutzrechten vorauszusetzen, sollten diese vielmehr als kontingente Eigenschaften verstanden werden. Wir sprechen uns deshalb für eine juridische Benennungspraxis aus, die auf Handlungen, Prozesse und Verhältnisse rekurriert und Diskriminierungen als in diese eingebunden entgegenwirkt.“ 40)
Die Verfasser:Innen fordern außerdem eine Kritik und Reformierung der Zuordnungen (auf die Kategorien bezogen) und eine Ersetzung der kategorialen Termini.41)
„Eine unsere Vorschläge umsetzende gesetzliche Formulierung könnte lauten: Diskriminierung, insbesondere rassistische, sexistische, ableistische, heterosexistische, linguizistische, genetische Diskriminierung und Diskriminierung anknüpfend an Lebensalter und Religion (etc.) ist unzulässig. Ergänzend dazu wäre Diskriminierung in den Gesetzesbegründungen zu definieren als Praxen von Stigmatisierung, Benachteiligung und Ausgrenzung von gesellschaftlicher Teilhabe, Teilnahme und Anerkennung, die auf gesellschaftlich erzeugten Gruppen beruhen.“ 42)
Diversitätsdiskurs im akademischen Feld
Soziale Herkunft als die vergessene Seite des Diversitätsdiskurses
Der Bericht „‚Deconstructing Diversity‘: Soziale Herkunft als die vergessene Seite des Diversitätsdiskurses“ von Jürgen Gerhards und Tim Sawert aus dem Jahr 2018, thematisiert einen problematischen Paradox im Diversitätsdiskurs an deutschen Universitäten.
Hauptthese
Obwohl die soziale Herkunft die zentrale Dimension von Benachteiligung und somit fehlender Diversität ist, erhält sie im Diversitätsdiskurs an deutschen Universitäten kaum Beachtung.43) Der Diskurs über die Benachteiligung verschiedener gesellschaftlicher Gruppen scheint somit entkoppelt zu sein und bedarf einer empirischen Rückbindung. 44)
Hintergrund
Diversität begreifen die Autoren nicht als neutralen Begriff zur Beschreibung von natürlicher und gesellschaftlicher Vielfalt, sondern als ein erstrebenswertes Ziel und zugleich ein politisches Programm.45) Gleichstellung und Antidiskriminierung sind die wesentlichen Bestreben innerhalb dieses Programms. Auch innerhalb des akademischen Feldes, erfährt Diversität als politisches Programm eine hohe Relevanz. Jedoch richtet sich der Diversitätsbegriff, je nach Feld an verschiedene Gruppen und deren Gleichstellungspolitik. Es ist der fortlaufende Diskurs, der dabei die Relevanz oder Vernachlässigung bestimmter Merkmale definiert.46)
Innerhalb des wissenschaftspolitischen Diskurses der Universitäten scheint es in erster Linie um Gleichbehandlung bezüglich der Merkmale Geschlecht und sexuelle Orientierung zu gehen. Dies zeigt eine Analyse der Autoren.47) Teilweise werden beide Dimensionen um weitere Merkmale ergänzt, nur das Charakteristikum der sozialen Herkunft scheint mit einer Ausnahme (an der Universität zu Köln) keinen Platz auf der Agenda zu finden.48) Außerdem verweisen die Autoren darauf, dass Diversitätspolitik meist Repräsentationspolitik und selten Anerkennungspolitik ist, wobei letztere auf die Förderung von Respekt und Anerkennung benachteiligter Gruppen zielt.49)
Die Autoren setzen sich das Ziel, den Diversitätsbegriff, wie er an den Universitäten verwendet wird, zu dekonstruieren und daraufhin zu prüfen, ob und in welchem Maße Personen durch eine spezifische Diskursordnung an deutschen Universitäten ausgeschlossen werden.50)
Methodisches Vorgehen
In ihrem Bericht folgen sie der „Argumentationslogik des Diversitätsdiskurses“, die häufig aus einer Unterrepräsentanz auf die Diskriminierung der Gruppe schließt.51)
Die Autoren weisen daraufhin, dass Diskriminierung jedoch nur eine von mehreren möglichen Ursachen für das schlechte Abschneiden bestimmter Gruppen bezüglich der Übergangschance zu Universitäten ist.53)
Die Untersuchung richtet sich also nach der Frage, ob und in welchem Maße verschiedene Merkmale einer Person sich auf die Wahrscheinlichkeit auswirken, zur Gruppe der Studierenden zu gehören.54) Hierfür wird die Repräsentativität verschiedener Merkmalsträger:innen betrachtet. Gerhards und Sawert untersuchen außerdem die Frage, ob es eine Kombination verschiedener Merkmale gibt, die zu einer Verstärkung von Benachteiligungen führt.55)
Für ihre Untersuchung beziehen sie sich auf die Daten des sozioökonomischen Panels (SOEP). Es handelt sich um eine Wiederholungsbefragung, die kontinuierlich seit über drei Jahrzehnten auf Bundesebene in Deutschland durchgeführt wird. Es wurden die Übergangsquoten in die universitäre Ausbildung bei 18- bis 30-Jährigen für die verschiedenen Personengruppen ermittelt.56)57)
Ergebnisse und deren Konsequenzen
Gerhards und Sawert konnten beweisen, dass es Personen aus unteren sozialen Schichten sind, die am stärksten von Ungleichheiten bezüglich des Zugangs zu Universitäten betroffen sind.
Dimensionen:
- Geschlecht: Im Jahre 2017 betrug der Anteil an weiblichen Studentinnen in Deutschland 48,5%. Die Gleichstellung von Frauen beim Zugang zu Universitäten kann folglich als abgeschlossen angesehen werden.58)
„Die erreichte Parität von Männern und Frauen unter Studierenden hat zu einer doppelten Verschiebung des Gleichstellungsdiskurses im akademischen Feld geführt. Zum einen steht nun weniger der Zugang zur Universität im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, sondern die Frage der Anerkennung von Frauen im universitären Alltag, zum Beispiel durch gendergerechte Sprache. Zum anderen hat sich der Fokus des Diskriminierungsdiskurses auf neue Ungleichheitsdimensionen verlagert, und zwar besonders auf die Benachteiligung hinsichtlich sexueller Orientierung (und sexueller Identität).“ 59)
- Sexuelle Orientierung: Der Vergleich des Anteils heterosexueller mit dem Anteil bi- oder homosexueller Personen, lässt eine „Überrepräsentativität“ der Bi- und Homosexuellen an Universitäten in Deutschland erkennen. Es muss jedoch berücksichtigt werden, dass Faktoren wie Alter, Geschlecht, Interviewsituation und das Milieu der Universitäten, beeinflussen können, ob eine Person sich in der Befragung ihre sexuelle Orientierung preisgibt. Die Autoren konnten mithilfe verschiedener Überprüfungsmethoden der Daten jedoch zeigen, dass selbst eine Überschätzung des Studierendenanteils keine Unterrepräsentativität ergibt.60)
- Ethnische Zugehörigkeit: Die Autoren beschränkten sich in der Analyse auf Personen mit türkischen Wurzeln, da Migrant:innengruppen nicht als eine homogene soziale Gruppe betrachtet werden können. Dies liegt an dem unterschiedlichen Grad der Ablehnung, den sie in Deutschland erfahren. Die Ergebnisse zeigen eindeutig, dass Personen mit türkischem Migrationshintergrund zweiter oder dritter Generation, in der Gruppe der Studierenden deutlich unterrepräsentiert sind.61)
- Soziale Herkunft: Wie erwartet, zeigte die Analyse, dass Personen, deren Eltern einen geringeren Schulabschluss hatten, deutlich unterrepräsentiert sind (siehe hierzu Tabelle 1). Die Autoren begründen dies auch durch die „Nach oben“-Verlagerung des Einflusses der sozialen Herkunft auf die Bildung, in den letzten Jahrzehnten. Gemeint ist, dass die soziale Herkunft der Schüler:innen den Übergang von der Grundschule auf das Gymnasium immer weniger beeinflusst, dasselbe jedoch keineswegs bezüglich des Übergangs zur Universität behauptet werden kann.62)
Tabelle 1: Anteil an Personen aus der Altersgruppe der 18-30-Jährigen, die studieren oder einen Hochschulabschluss haben, nach sozialer Herkunft (Eigene Berechnungen der Autoren, Hervorhebungen hier hinzugefügt)63)
Intersektionalität
Der Begriff der Intersektionalität (mehrdimensionale Diskriminierung) befasst sich mit der gleichzeitigen Diskriminierung aufgrund verschiedener personenbezogener Merkmale. Dass die Zusammensetzung verschiedener Merkmale die Übergangschance zur Universität verkleinert bzw. vergrößert, konnten die Autoren beweisen (siehe hierzu die Tabelle 2). Dabei bleibt allerdings das Merkmal „akademischer Hintergrund des Elternhauses“ das entscheidende Charakteristikum bezüglich der Frage, ob jemand studiert oder nicht.64)
Tabelle 2: Wahrscheinlichkeit, dass eine Person mit verschiedenen Merkmalskombinationen aus der Altersgruppe der 18-30-Jährigen studiert, beziehungsweise einen Hochschulabschluss besitzt (Eigene Berechnungen der Autoren, Hervorhebungen hier hinzugefügt65)
Schlussfolgerungen
Die Autoren beweisen, dass diejenigen Gruppen, die im Fokus der universitären Diversitätsdebatte und Gleichstellungspolitik stehen, unter den Studierenden eher leicht überrepräsentiert sind, während diejenigen Gruppen, die im „Klassifikationssystem der Diskursordnung“ keine oder kaum eine Rolle spielen, vor allem Personen mit einer niedrigen sozialen Herkunft in den Universitäten deutlich unterrepräsentiert sind.66) Das eigentliche Problem der Diversität liegt in diesem Kontext also im Bereich der sozialen Herkunft der Studierenden. Die Autoren weisen zum Schluss auf die begrenzte Reichweite der Analyse hin und betonen, dass die Übergangschance nichts über die Befunde in anderen gesellschaftlichen Bereichen oder höheren Hierarchiestufen der Universität aussagen.67) Da auch sie nur die Repräsentanz unter den Studierenden analysiert haben, appellieren sie an die weitere Untersuchung dessen, wie die unterschiedliche Repräsentanz, abseits und über den vermuteten Aspekt der Diskriminierung, erklärt werden kann.68)
Mikro-Datenerhebung im Seminar
Analog zu Jürgen Gerhards und Tim Sawert (2018) wurde innerhalb des Seminars „Theorien der Diversität“ (Sommersemester 2022) eine Mikro-Datenerhebung durchgeführt, so dass die Ergebnisse des Berichts mit den Angaben des Soziologie-Seminars verglichen werden konnten. Während die Daten des Berichts von Gerhards und Sawert auf Bundesebene erhoben wurden, handelte es sich bei dem Seminar um eine Stichprobe, welche lediglich aus Studierenden zusammengesetzt war, die sich für die Teilnahme an einem Diversitätsseminar entschieden hatten.
Hintergrund
Die Erhebung diente drei Zwecken:
- Die Ergebnisse des Berichts von Gerhards und Sawert besser nachvollziehen zu können
- Den Problemen, die mit dem Zwang zur Kategorisierung einhergehen, praktisch zu begegnen
- Einen Vergleich herstellen zu können zwischen den Ergebnissen von Gerhards und Sawert und denen des Diversitätsseminars
Vorgehen
Die Studierenden (7 Teilnehmer:innen) wurden dazu aufgefordert auf einem Zettel ihre geschlechtliche Identität, ihre sexuelle Orientierung, ihre ethnische Herkunft und den Abschluss ihrer Eltern zu notieren. Selbstverständlich wurde darauf hingewiesen, dass niemand dazu verpflichtet ist, an der Erhebung teilzunehmen und dass Kategorien ausgelassen werden können. Im Anschluss erfolgte eine anonyme Auswertung. Die Studierenden erhielten dann die Möglichkeit darüber zu diskutieren, wodurch die Ergebnisse der Mikro-Datenerhebung erklärt werden können. Die gesammelten Daten wurden im Anschluss vernichtet. Die Studierenden willigten einstimmig dazu ein, dass die Ergebnisse in diesem Wiki grob, ohne die Nennung absoluter Werte zusammengefasst werden dürfen.
Ergebnisse
- Eine Mehrheit der Studierenden im Kurs gab an nicht heterosexuell zu sein.
- Über die Hälfte der Studierenden des Seminars gab an, dass die Eltern keine Akademiker:innen sind.
- Eine Person des Seminars gab das Geschlecht männlich an.
- Mehr als die Hälfte der Studierenden gaben an, Deutsch zu sein.
Diskussion
Es muss nochmals darauf hingewiesen werden, dass Gerhard und Sawert mit dem Begriff der Überrepräsentativität keine Mehrheit im akademischen Feld meinen, sondern eine erhöhte Wahrscheinlichkeit beschreiben, mit welcher eine Person, die ein bestimmtes Merkmal besitzt, studieren wird. Bestimmte Anteile im Seminar können also nicht tatsächlich mit den Ergebnissen von Gerhards und Sawert verglichen werden. Es können nur Auffälligkeiten bestimmten Thesen zugeordnet werden:
- Ein hoher Anteil nicht-heterosexueller Personen im Seminar legt eine Überrepräsentativität im Sinne von Gerhard und Sawert nahe, erlaubt allerdings auch keine Rückschlüsse auf ganze Personengruppen und deren Übergangswahrscheinlichkeiten zu Universitäten.
- Gerhards und Sawert kritisieren eine Unterrepräsentanz von Studierenden, deren Eltern keine Akademiker:innen sind. Dass über die Hälfte der Studierenden des Seminars angab, dass die Eltern keine Akademiker:innen sind, erstaunt in Anbetracht der Tatsache, dass die Wahrscheinlichkeit zu studieren auf Bundesebene bei Weitem höher ist, wenn die Eltern ebenfalls einen (Fach-)Hochschulabschluss absolviert haben (siehe Tabelle 1).
- Dass nur eine Person das Geschlecht männlich angab, unterstützt die Annahme, dass Frauen im Zugang zu Universitäten nicht mehr benachteiligt werden.
- Da die ethnischen Herkünfte derjenigen, die angaben nicht Deutsch zu sein, variierten und weil Gerhards und Sawert nur Deutsche und Personen mit türkischem Migrationshintergrund in ihre Studie einbezogen hatten, ist ein Vergleich beider Ergebnisse (des Seminars und der Studie) unsinnig. Allerdings bestärkt der hohe Anteil an Deutschen im Seminar die Annahme, dass sich der Übergang zu Universitäten für diese einfacher gestaltet.
- Den hohen Anteil an Studierenden mit nicht-akademischen Elternhaus und den hohen Anteil nicht-heterosexueller Personen im Seminar, erklärten die Studierenden durch die Inhalte dessen. Vermutet wurde, dass möglicherweise gerade Jugendliche, die bereits soziale Benachteiligung durch das Elternhaus erfahren haben, sich für Themen wie soziale Ungleichheiten oder Diskriminierung interessieren und sich deshalb für ein Seminar entscheiden, welches diesen Themen nachgeht. Interessant wäre es daher über das Seminar hinaus alle Soziologie-Studierende an der Uni Freiburg und/oder alle Studierende der Philosophischen Fakultät und/oder alle Studierende der Albert-Ludwigs-Universität zu befragen und die Anteile dann wiederum mit denen des Seminars zu vergleichen. So könnten zwar immer noch keine Aussagen über tatsächliche Über- oder Unterrepräsentanzen getroffen werden, allerdings könnten die unterschiedlichen Studienblasen erforscht werden.
Agenda der Universität Freiburg: Gender und Diversity
„Die Universität Freiburg versteht sich als Ort der Pluralität, der Weltoffenheit und des internationalen Austauschs. Forschung, Lehre, Weiterbildung und Administration gelingen am besten in einem Klima, das durch Neugier und Offenheit gekennzeichnet ist. Daher fördert die Universität die Verwirklichung von Gleichstellung und einen wertschätzenden Umgang mit Vielfalt unter Studierenden, Wissenschaftler*innen sowie Mitarbeitenden in Verwaltung, Service und Technik. Diskriminierendem Verhalten begegnet sie aufs entschiedenste.“ 69)
„Die Universität Freiburg vertritt ein erweitertes Gleichstellungsverständnis, das die Gleichstellung der Geschlechter ebenso in den Blick nimmt wie ethnische und soziale Herkunft, Alter, Religion und Weltanschauung, Behinderung, sexuelle Orientierung und geschlechtliche Identität sowie die Verschränkungen dieser Dimensionen miteinander.“70)
„Gleichstellung und Vielfalt werden an der Universität Freiburg als Querschnittsaufgabe verstanden, die alle Bereiche der Universität betrifft.“71)
Konkrete Unternehmungen
- Unterzeichnung der Charta der Vielfalt im Jahr 2009 durch die Universitätsleitung72)
- Teilnahme am Deutschen Tag der Vielfalt am 31. Mai73)
- Organisationseinheiten und Einrichtungen, die sich fachlich mit der Umsetzung von Gleichstellung und Vielfalt befassen
Auffälligkeiten
Mit Blick auf die Studie von Gerhards und Sawert fällt auf, dass in der Tat auch an der Uni Freiburg die Diversität in den Bereichen Geschlechtsidentität und Sexuelle Orientierung sehr gefördert wird. So existiert zum Beispiel das Amt der Gleichstellungsbeauftragten oder der Beauftragten für Chancengleichheit für die Anliegen von Frauen in Verwaltung, Service und Technik, der Master-Studiengang Gender Studies oder der Freiburger Gender-Kreis, ein Zusammenschluss aller Einrichtungen an der Universität Freiburg, die sich hauptberuflich mit den Themen Gender und Gleichstellung befassen. Ämter die sich mit der Förderung von Vielfalt hinsichtlich sozialer Herkünfte befassen, fallen zumindest auf den ersten Blick nicht ins Auge.
Eine Art Fazit und Anregung zum Weiterdenken
Fazit
Sowohl im Alltagsverständnis als auch auf gesetzlicher Ebene ist die Erkenntnis, dass die Kategorisierung von Vielfalt und Diskriminierung kritisch reflektiert werden muss, notwendig. Zwar erleichtert die Kategorisierung verschiedener Ausprägungen von Vielfalt das Bekennen von Diskriminierung und bietet die Möglichkeit juristisch gegen diese vorzugehen, allerdings birgt sie auch Probleme, die nicht ignoriert werden sollten. Sowohl das Benennen schutzbedürftiger Personengruppen im Gesetz, als auch der Zwang sich in diese einordnen zu müssen, dem Betroffene von Diskriminierung in der Rechtspraxis unterlegen sind, erweisen sich im Bestreben Diskriminierung zu verhindern und zu beseitigen als teilweise kontraproduktiv. Dass das Verständnis von Merkmalen für die Inanspruchnahme von Schutzrechten, entsprechend der Forderungen von Liebscher et al. (2012), als kontingente Eigenschaften, zu einer effektiveren Antidiskriminierungspolitik beitragen würde, erscheint angesichts der Mehrdimensionalität von Diskriminierung schlüssig. Dasselbe gilt für das Ersetzen bestimmter Termini, mit einem begrifflichen Fokus auf den diskriminierenden Personen und Handlungen anstelle des Fokus auf den Betroffenen.
Die Arbeit von Gerhards und Sawert hat außerdem verdeutlicht wie wichtig es ist, Defiziten im Antidiskriminierungsbestreben nachzugehen. Besonders dem Aspekt der sozialen Herkunft wird unzureichend Rechnung getragen, wie auch eine Auseinandersetzung mit der politischen Agenda der Universität Freiburg zeigt.
Grundsätzlich muss dieser Debatte im universitären Diskurs mehr Fläche bereitet werden, damit sie auch Studierende, die keine Sozialwissenschaft studieren erreicht. Wichtig ist es zu betonen, dass ein zusätzlicher Fokus auf der Dimension der sozialen Herkunft keinesfalls bedeuten soll, dass die Dimensionen Geschlecht, Geschlechtsidentität und sexuelle Orientierung zukünftig vernachlässigt werden sollen.
Quiz zum Testen der eigenen Kenntnisse zu Diversity-Themen
Der Verein „Charta der Vielfalt“ hat ein Online-Wissensspiel zum Testen der eigenen Kenntnisse zu Diversity-Themen erstellt. Zur Verfügung stehen drei verschiedene Quiz, ein Quiz anlässlich des Jubiläums der Charta (2022), ein Basic-Quiz und ein Pro-Quiz, in jeweils deutscher und englischer Sprache.
Klicken Sie hier um zu dem Quiz zu gelangen.74)