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Critical Whiteness Studies - Kritische Weißseinsforschung
Critical Whiteness Studies oder Kritische Weißseinsforschung ist eine Perspektive in der Analyse von Rassismus. Rassistische Diskriminierung tritt weltweit auf und durchdringt alle gesellschaftlichen Ebenen. Daher bezieht sich auch die kritische Weißseinsforschung auf verschiedene gesellschaftliche Ebenen und die Rolle von Weißsein als unausgesprochene Norm darin. Die Forschungsrichtung hat ihre Ursprünge im politischen Aktivismus und in den Kämpfen von afrikanischstämmigen Sklaven und ihren Nachkommen gegen Rassismus und um Freiheit und Gleichberechtigung.
Ursprünge
Die Anfänge der Critical Whiteness Studies werden US-amerikanischen Universitäten zugeschrieben.
Kerner (2016) beschreibt die Anfänge des Untersuchungs- und Thematisierungsfeldes der Critical Whiteness Studies als eine Integration von politischen Impulsen in die Wissenschaft in den 1980er Jahren. Zuvor habe sich die Forschung der Ethnic Studies über „Rasse“ und Ethnizität wie African American Studies oder Native American Studies vor allem auf nicht-weiße Bevölkerungsgruppen bezogen. Die politische Kritik zeigte auf, dass diese wissenschaftliche Praxis Weißsein als unsichtbare Norm wiederspiegle. Weiße seien also vermeintlich frei von „rassischer“ oder ethnischer Markierung und könnten somit ihre Position und damit zusammenhängende Privilegien ausblenden. Nicht-Weiße hingegen müssten sich unweigerlich mit ihrer Markierung und Abweichung von der weißen Norm auseinandersetzen. Damit „erscheint Rassismus als ein Randgruppenproblem, das in erster Linie die rassisierten und ehtnisierten Menschen selbst betrifft (Kerner 2016: 278).
Zur damaligen Zeit sollten also mit den Critical Whiteness Studies unsichtbare Normen von Weißsein sichtbar gemacht werden und Weißsein in der Analyse von Rassismus miteinbezogen werden. Bis dahin nicht berücksichtigte Strukturen und Mechanismen müssten ein Fokus der Rassismusforschung sein, so die Kritik.
„Schwarze TheoretikerInnen und AktivistInnen (People of Color, PoC) kritisierten so die bis dahin vorherrschende Praxis, rassistisch Diskriminierte zu Objekten von Forschung und politischem Handeln zu machen. Vielmehr sollten mit dem Whiteness-Konzept die Strukturen und Mechanismen untersucht werden, die dazu führen, dass Weiße vom Rassismus profitieren. Dies ermöglichte, Rassismus als etwas zu thematisieren, an dem alle beteiligt sind. Die Beteiligung aller, so wurde argumentiert, war vermittelt über Institutionen, Räume und Diskurse und deren inhärente Rassismen. Forderungen nach der Abschaffung weißer Privilegien richteten sich gegen solche Strukturen.“ (Karakayali et. al 2012)
Mit den Critical Whiteness Studies etablierte sich also wissenschaftlich ein Perspektivwechsel. Doch diese Analyserichtung von Rassismus existierte außeruniversitär schon zuvor. Der Aktivist Tsepo Bollwinkel bezeichnet Critical Whiteness in einem Workshop beim Freiburger Symposium „Dear White People…“ Check Your Privilege! im Januar 2020 als Schwarze Überlebenswissenschaft. Die Beschäftigung mit der Frage „Wie ticken Weiße?“ sei überlebenswichtig gewesen für Schwarze Menschen, die von der gewaltvollen Kolonialisierung durch Europäer*innen betroffen waren.
Rassismus lässt sich über drei Dimensionen analysieren, zwischen denen vielfältige Wechselbeziehungen bestehen.
- Epistemische Dimension: Wissen, Diskurse, Symbole und Bilder
- Institutionelle Dimension: Produktion oder Reproduktion von Ungleichheit durch Institutionengefüge
- Personale Dimension: Einstellungen, Identitäten, Handlungen und Interaktionen von Personen
(Kerner 2016: 288f.)
Richtungen und Beispiele
Die kritische Weißseinsforschung beschäftigt sich mit den Prozessen, Mechanismen und Effekten, die Weißsein als gesellschaftliche Norm herausbilden und reproduzieren (Frankenberg 1997). Weißsein wird also verstanden als soziale Kategorie. Diese soll in der kritischen Weißseinsforschung entnaturalisiert und entnormalisiert werden. Außerdem soll durch die Sichtbarmachung von Weißsein als „rassische“ Kategorie das hierarchische Verhältnis zu anderen „rassischen“ Kategorien sichtbar werden.
Frankenberg (1997, 2f.) unterscheidet vier thematische Schwerpunkte der kritischen Weißseinsforschung:
- Sozial- und wirtschaftshistorische Arbeiten - unter anderem zum Zusammenhang der Herausbildung weißer Subjektpositionierung mit soziopolitischen Prozessen wie Nationenbildung oder Landnahme
- Soziologische und kulturwissenschaftliche Analysen - zu den Zusammenhängen von weißer Subjektformierung mit strukturellen und institutionellen Prozessen
- Untersuchung von Prozessen, in denen Subjekte Weißsein performativ hervorbringen
- Untersuchung sozialer Bewegungen auf Rassismus und weiße Privilegien - beispielsweise Untersuchung des Feminismus
Kritische Weißseinsforschung ist eng verknüpft mit dem Begriff Person of Colour (PoC). Der Braune Mob versteht diesen Begriff hier als „selbstbestimmte Bezeichnung von und für Menschen, die nicht weiß sind“ (Sow 2011-2013).
Mit dem Konzept wird vorrausgesetzt, „dass Menschen, die nicht weiß sind, über einen gemeinsamen Erfahrungshorizont in einer mehrheitlich weißen Gesellschaft verfügen“ (Sow 2001-2013). Das ist im Grunde auch Grada Kilombas Annahme, wenn sie in unserem Seminartext schreibt: „Due to racism, Black people expierience a reality different from white people and we therefore question, interpret and evaluate this reality differently“ (Kilomba 2010: 29). Massimo Perinelli (2019: 66) versteht den Begriff in unserem Seminartext als Bezeichnung für rassistisch stratifizierte Menschen jenseits der Schwarz-Weiß-Dichotomie. In den USA wäre dies als eine Ausweitung der politischen Subjekte zu verstehen und damit als eine wirksame Erweiterung der Antirassistischen Kämpfe. Perinelli kritisiert jedoch die Übertragung des Begriffs auf deutsche Kontexte, weil er sich nicht auf die Kämpfe kanakisierter Migrant*innen bezieht und diese damit unsichtbar macht. Er kritisiert, dass obwohl häufig betont wird, dass PoC sei, wer von Rassismus betroffen ist und sich selber dazurechne, doch innerhalb dieser Szene Hierarchisierungen zwischen den von Rassismus betroffenen Communities bestehen (ebd.: 67).
Neben dem wissenschaftlichen Ansatz ist Kritisches Weißsein auch ein politischer Ansatz. Wie weiter oben bei den Ursprüngen beschrieben, ging der politische Ansatz dem wissenschaftlichen voraus. In beiden Bereichen ist Critical Whiteness in Deutschland etwa zu Beginn der 2000er Jahre angekommen. Trotz der Unterschiede in der Rassismusgeschichte von den USA und Deutschland, lassen sich Erkenntnisse von US-amerikanischer Forschung auf Deutschland übertragen (Hyatt 2015). Denn auch in Deutschland gibt es eine unausgesprochene Annahme von Weißsein als Norm. Millay Hyatt schildert das an verschiedenen alltäglichen Beispielen wie dem folgenden: „Eine Anti-Rassismus-Aktivistin aus Thüringen erzählt in einem Interview, dass vielen Menschen mit einem 'nicht-deutschen Elternteil' immer wieder die Frage gestellt wird, woher sie denn kommen.“ - Anhand dieses Beispiels lässt sich eine unansgesprochene Selbstverständlichkeit erkennen. Die Aktivistin geht davon aus, dass ihre Zuhörer*innen verstehen, dass sie ein nicht-weißes Elternteil meint, wenn sie von einem nicht-deutschen Elternteil spricht. Mit solchen Denkmustern setzt sich die kritische Weißseinsforschung auseinander und benennt sie. Es geht ihr weniger um „Skinhead Rassismus“ sondern die kritische Weißseinsforschung
„setzt also dort an, wo die meisten Weißen denken, mit der Verurteilung von offenem Rassismus sei genug getan. Rassistische Gewalt, so die Überzeugung der Weißseinsforschung, ist bloß die Spitze des Eisbergs einer noch längst nicht überwundenen Ideologie, die das Denken, Fühlen und Handeln auch der liberalsten Menschen strukturiert und eine Gesellschaft aufrechterhält, in der Macht und Geltung keineswegs farbenblind verteilt werden“ (Hyatt 2015). ««
Hyatt nennt das Risiko, dass durch beharrliches Hinweisen auf die rassistische Hierarchisierung der Welt die Einteilung von Menschen in „rassische“ Kategorien und deren Hierarchisierung fortgeführt werden kann. Ähnlich argumentierende Kritik wird unten bei Einteilung in feste Kategorien geschildert. Dennoch sei die kritische Weißseinsforschung nötig und wichtig, weil es schlichtweg gesellschaftlich gesehen eine Rolle spielt, in was für eine Haut ein Mensch hineingeboren wird. Darüber hinaus spielt dies insbesondere für persönliche Lebenschancen eine entscheidende Rolle.
Beispiele in Wissenschaft, Gesellschaft und Kultur
- Peotry Slam: Ingo slammt bei Köln spricht im November 2017 über sein weißes Privileg bei einer Veranstaltung von Köln spricht, das sich selbst als demokratische Speakers‘ Corner bezeichnet und monatlich stattfindet.
- Blog: machtGesellschaft von Studierenden der Berliner Beuth Hochschule für Technik, entstanden im Rahmen einer Veranstaltung über Interkulturelle Kommunikation mit der Dozentin Tupoka Ogette, die außerdem freiberufliche Trainerin und Beraterin im Bereich Rassismuskrititk, Antirassismus ist. Der Blog bietet eine Möglichkeit zum Erfahrungs- und Meinungsaustausch zu Alltagsrassismus, Diskriminierung und Privilegien. Teil des Blogs ist ein Fotoprojekt mit dem Titel #NimmDieWeisseBrilleAb über den „Bewusstwerde-Prozess über unsere eigene rassistische oder diskriminierende Sozialisierung“
- Freiwilligendienst-Seminare: In den Seminaren der Freiwilligendienstorganisation Kulturweit setzen sich die Teilnehmenden mit Rassismus und Kritischem Weißsein auseinander: „Dazu gehört die Auseinandersetzung mit globalen Machtverhältnissen, die kritische Reflexion eigener Privilegien, der eigenen Rolle als Freiwillige*r und die damit verbundenen Aufgaben ebenso wie das Verständnis postkolonialer Perspektiven und Zusammenhänge.“Kulturweit
- Kampagne: Youtube-Video Who wants to be a volunteer? im Rahmen der Kampagne von Radi-Aid der studentischen Organisation Norwegian Students’ and Academics’ International Assistance Fund (SAIH). Diese hat das Ziel, „TO challenge the perceptions around issues of poverty and development, to change the way fundraising campaigns communicate, and to break down dominating stereotypes.“ Das Video macht unter anderem aufmerksam auf die Darstellung von Weißen US-amerikanischen Freiwilligen in afrikanischen Ländern als heldenhaftes Helfen.
- Fernsehen: Ein Video des Senders MTV in der Reihe MTV Decoded, über Weiße Schönheitsstandards. Das Video ist verfügbar auf Youtube: The Problem w/ White Beauty Standards | Decoded | MTV News
Kritik
Verschiedene Aspekte von Critical Whiteness Studies werden aus unterschiedlichen Positionen kritisiert. Es gibt Kritik, die speziell die Rezeption des Konzeptes in Deutschland betrifft, Kritik, die infrage stellt ob Critical Whiteness für Deutschland überhaupt passend ist und grundsätzliche Kritik am Konzept. Die Kritik macht eine Diskussion von Rassismus und Antirassismus notwendig. Was ist Rassismus? Was zählt dazu, wann ist jemand von rassistischer Diskriminierung betroffen? Funktioniert Rassismus weltweit gleich oder muss es aufgrund der untschiedlichen geschichtlichen Entwicklungen in verschiedenen Ländern spezifischere Begriffe geben? Wie soll Antirassimus wirken? Diese und weitere Fragen müssen diskutiert werden, wenn Critical Whiteness Studies als eine Analyserichtung von Rassismus und eine politische und aktivistische Form von Antirassismus verstanden wird.
Kritik bezogen auf die Rezeption in Deutschland
Kritik aufgrund spezifischer Rassismusgeschichte
Für Ina Kerner umfasst Rassismus in Deutschland neben dem Kolonialrassismus weitere Formen. In Deutschland lange verbreitet waren und sind Antisemitismus und Antiziganismus, neuer ist der Anti-Islamismus und dann gibt es noch „darüber hinaus das, was lange Jahre Ausländerfeindlichkeit genannt wurde“ (Kerner 2016: 283). Diese Formen des Rassismus operieren weniger mit „rassischen“ sondern vorrangig mit nationalkulturellen oder religiösen Differenzen. Somit handelt es sich um Formen von Rassismus ohne einen Bezug auf „Rassen“. Zudem findet Rassismus auch zwischen Weißen statt, wie Ina Kerner mit Bezug auf das ehemalige amtliche Rassenklasifikationssystem der USA feststellt (ebd.: 283). Die Unterschiede in den spezifischen Rassismusgeschichten der USA und Deutschland macht es schwierig, die Critical Whiteness Studies ohne eine Anpassung für Deutschland zu übernehmen. Denn wer als Weiß gilt und wer nicht, sei nicht offensichtlich. „Vor allem, wenn der Anspruch erhoben wird, dass Weißsein eine im Kontext von strukturellem Rassismus privilegierte Position beschreibt, wird die Abgrenzungsfrage schwierig. Denn sind dann beispielsweise jüdische Deutsche weiß? Und die Nachfahren einstiger Gastarbeiter/innen aus dem Mittelmeerraum? Welche Rolle spielt eine Zugehörigkeit zum Islam und welche Frage die Herkunft diesseits- oder jenseits der Außengrezen der Europäischen Union?“ (ebd.: 283). Rassismus ohne „Rassen“ versteht Kerner als Grenze der analytischen Möglichkeiten von kritischer Weißseinsforschung.
Das ist im Grunde auch die Kritik von Massimo Perinelli in unserem Seminartext (siehe unten). Er bezeichnet Critical Whiteness als „Fehlimport, der aus einer klassenblinden und diskurstheoretischen Beschäftigung mit weißer Herrschaft in Amerika herrührt“ (ebd.: 66). Das Konzept schafft es nicht, die Geschichte der „kanakischen“ Kämpfe im postnazistischen Deutschland in den Blick zu nehmen und produziert stattdessen eine Trennung und Hierarchisierung von Rassismus und Migrantismus, von BPoC und Migrant*innen, die die Gesellschaft spaltet (Perinelli 2019: 66).
Grundsätzliche Kritik
Kritik der Selbstbeschäftigung
Tsepo Bollwinkel kritisiert, dass in Deutschland aus einer kritischen Sozialwissenschaft aus dem Wissen und den Erfahrungen von Schwarzen eine Befindlichkeitsbeschäftigung von Weißen geworden sei. „Es geht nicht um dich und ob du ein guter Mensch bist.“ Critical Whiteness sei aber keine Selbstbeschäftigung und -erfahrung sondern es gehe um die Analyse und Bekämpfung von Rassismus aus einer anderen Perspektive. Statt dem Blick auf Opfer von Rassismus solle der Blick auf die Prinzipien des Rassismus geworfen werden.
Ina Kerner erkennt sowohl in aktivistischen Kontexten, als auch vorangegangenen akademischen Studien zum Weißsein eine Tendenz zur Betonung von Selbstreflexion und individuellem Einstellungswandel. Diese Tendenz sei problematisch, weil dadurch Rassismus auf „Wahrnehmungen, Einstellungen, Emotionen und persönliche Interaktionen“ (Kerner 2016: 288) reduziert wird. Wenn Weiße eine kritische Selbstpositionierung und -reflexion als Lösung von Problemen des Rassismus sehen, sei das die Folge einer falsch verstandenen Bedeutung des Individuums gegenüber strukturellem Rassismus.
Ähnlich beschreibt auch Massimo Perinelli (siehe unten), dass die Beschäftigung mit Rassismus mit Critical Whiteness Ansätzen bei einer neoliberalen Selbstergründung und -optimierung bleibt, „die das Universelle nicht mehr zu denken vermag“ (ebd.: 68) und von gesellschaftlicher Veränderung nichts mehr wissen will. Während die personale Dimension des Rassismus überschätzt wird, fehlt dabei die Auseinandersetzung mit Strukturen, die über den Handlungsspielraum von Einzelpersonen hinausgehen. Die Reflexion von Weißen Privilegien kann statt Ziel der Critical Whiteness Studies ein Ausgangspunkt sein, dem weitergehende antirassistische Aktivitäten im Bereich der strukturellen Dimensionen von Rassismus folgen.
Einteilung in feste Kategorien
Auch Karakayali et al. (2012) problematisieren die Umsetzung von Critical Whiteness. So habe „die Rezeption eine Richtung eingeschlagen, die die antirassistischen Politiken geradezu sabotiert“ ( Karakayali et al. 2012). Anstatt sich für die Abschaffung von Kategorien wie „Rasse“ einzusetzten, drehe sich das Konzept der kritischen Weißheit im Kreis. Die Einteilung von Menschen in Weiße und Personen of Colour erscheinen schnell als feste Kategorien. Dabei ist eine klare Identitätszuweisung anhand dieser beiden Kategorien schnell problematisch: „Sind Menschen, deren Eltern aus Ländern einwanderten, die inzwischen der EU beigetreten sind, PoC? Oder sind sie es nur, wenn diese Eltern als GastarbeiterInnen nach Deutschland kamen? Ab welchem Einkommen oder Bildungsgrad werden PoC weiß? Kann man RussInnen in Deutschland PoC nennen oder sind sie Teil der globalen weißen Dominanzkultur? Funktioniert die Bezeichnung »of Color« also in Hinblick auf alle rassistischen Ausschlüsse oder sind damit doch letztlich Hautpigmentierungen gemeint?“ (Karakayali et al. 2012). Insofern wird an mehrere Stelle die Kritik geäußert, dass eine klare Grenzziehung zwischen »of Color« und »weiß« rassistische Klassifizierungen eher verstärkt als aufzulösen.
Während Befürworter*innen des Critical Whiteness Ansatzes darauf hinweisen, dass diese Kategorien gebraucht werden um rassistische Hierarchien sichtbar zu machen, befürchten Kritiker*innen wie Karakayali et al., dass solche Ettiketierungen der Bekämpfung von Verhältissen, die den Rassismus stabilisieren im Weg stünden. Entlang der Kategorien „weiß“ und „PoC“, würden klare Opfer- und Täterrollen zugeschrieben.
„Rassismus ist keine Angelegenheit von Individuen oder Gruppen, er geht durch Individuen und Gruppen (und durch Institutionen und Diskurse, etc.) hindurch! Deswegen ist es aberwitzig, den Rassismus säuberlich auf zwei gesellschaftliche Großgruppen zu verteilen, von denen die einen Täter, die anderen Opfer sind.“
In der Critical-Whiteness-Debatte werde „jede Person, die sich zu Wort meldet und sich nicht als PoC positioniert, verdächtigt, entweder ihren eigegen Rassismus verschleiern zu wollen oder paternalistisch Menschen mit negativen Rassismuserfahrungen ihre Subjektivität absprechen zu wollen“ (ebd.: 2012). In diesem Zusammenhang steht auch die Kritik, dass in dem Konzept ein „entpersonalisierender Fokus auf Institutionen“ (Karakayali et al.: 2012) gerichtet würde. Dem Konzept zufolge entmündige die Macht der weißen Institutionen und Diskurse Weiße und mache sie unabhängig von ihrem individuellen Verhalten zu Profiteur*innen. Alle Weißen werden damit zu Privilegierten gemacht werden (Karakayali et. al 2012). Dagegen sei es für den Antirassismus essenziell, dass Kategorisierungen und Zuschreibungen von Menschen zurückgewiesen werden können. Anhand eines Bespiels aus Critical-Whiteness-Kreisen wird die Kritik deutlich gemacht: Wenn Fragen diskutiert werden, ob Weiße als von Rassismus Profitierende antirassistisch sein könnten, finde keine kritische Gesellschaftsanalyse statt. Denn eine solche würde sich Karakayali et al. zufolge auf die Analyse und Thematisierung von Dominanz, Privilegien, Ausschlüssen und möglichen politischen Gegenstrategien beziehen. In der Folge einer festen Einteilung durch Kategorien und Zuschreibungen würden nicht mehr politische Standpunkte und Strategien diskutiert, sondern die Personen, die sie äußern. Die Autor*innen dagegen wehren sich gegen eine Identitätspolitik, in der jede*r nur noch für die eigene Position sprechen kann. Sie fordern von der wissenschaftlichen Debatte und dem Kampf gegen Rassismus die Beschäftigung mit der Frage, wie durch antirassistische Kämpfe das Leben aller verbessert werden kann - ohne dabei politische Subjekte anhand von Hautfarbe oder Herkunft einzuteilen.
Auch Stefan Laurin kritisiert die Identitätspolitik, deren Kerngedanken er als eine „unsinnige Fixierung auf eine Gruppenzugehörigkeit“ (Laurin 2018: 117) beschreibt. Die Identitätspolitik wolle die Rechte von Einzelnen gegen die Rechte von imaginierten Gruppen ersetzen. Damit würde sich dem gleichen Identitätskonzept wie dem der Rechten bedient und der Rassismus in den Reihen der Weißen befördert. Laurin beschreibt eine Ähnlichkeit zum Ethnopluralismus „der kein Individuum kennt sondern nur Gruppen und so im radikalen Gegensatz zur Aufklärung steht“ (ebd.: 116). Die Komplexität des Individuums werde missachtet, weil die Identitätspolitik Menschen auf einen Aspekt des Seins reduziere „der für sie vielleicht gar nicht bestimmend ist, aber auf jeden Fall nur einer unter vielen. […] Denn wir gehören alle nicht nur einer Gruppe an, sondern vielen und verfügen zudem über Eigenschaften, die uns als Menschen einzigartig machen“ (ebd.: 116). Laurin räumt ein, dass es weiterhin klassisscher Identitätspolitik bedürfe, wie beim Kampf gegen Rassismus in den 60er Jahren. Er lässt jedoch offen, in welcher Form dieser heute stattfinden soll. Dagegen macht er deutlich, dass die Zeit der Identitätspolitik am Ende sei und ökonomische Konflikte, „reale Probleme“, wieder in den Vordergrund treten würden.
Quellen
- Bollwinkel, Tsepo. http://tsepo-bollwinkel-empowerment.de/critical-whiteness/
- Frankenberg, Ruth. (1997). Introduction: Local Whiteness, Localizing Whiteness. In: Frankenberg, Ruth (Hrsg.). Displacing Whiteness. Essays in Social and Cultural Criticism. Durham - London. S. 1-33.
- Hyatt, Millay. (2015). Weißsein als Privileg. Deutschlandfunk: https://www.deutschlandfunk.de/critical-whiteness-weisssein-als-privileg.1184.de.html?dram:article_id=315084, Zugriff: 12.03.2019
- Karakayali, Jule; Tsianos, Vassilis S.; Karakayali, Serhat und Ibrahim, Aida. (2012). Decolorise it! ak - analyse & kritik - Zeitung für linke Debatte und Praxis. Nr. 575
- Kerner, Ina. (2016). Critical Whiteness Studies: Potentiale und Grenzen eines wissenspolitischen Projekts. Feministische Studien, 31(2), S. 278-293.
- Kilomba, Grada. (2010). Plantation Memories. Episodes Of Everyday Racism. Münster. Unrast. 2nd Edition: Chapter 2: Who Can Speak? Speaking At The Centre, Decolonizing Knowledge 25–38.
- Laurin, Stefan. (2018). Willkommen im Zeitalter der Postidentitätspolitik. In: Richardt, Johannes(Hg). Die sortierte Gesellschaft. Zur Kritik der Identitätspolitik, Frankfurt: 109–118.
- Perinelli, Massimo. (2019). Triggerwarnung! Critical Whiteness und das Ende antirassistischer Bewegung. In: Berendsen et al. (Hrsg.). Trigger-Warnung: 60–70.
- Sow, Noah. (2001-2013) FAQ: Was heißt „PoC“?.Der Braune Mob: https://www.derbraunemob.de/faq/#f055/
Texte zur Sitzung
Perinelli, Massimo 2019: Triggerwarnung! Critical Whiteness und das Ende antirassistischer Bewegung. In: Berendsen et al. (Hrsg.). Trigger-Warnung: 60–70.
Massimo Perinelli
Massimo Perinelli ist Historiker an der Universität Köln. Er forscht und lehrt zu den Bereichen Geschlechter- und Sexualitätsgeschichte, Rassismus und migrantische Kämpfe. Er ist Referent für Migration in der Rosa-Luxemburg-Stiftung (kleiner Eindruck: Migrantische Perspektiven für die Gesellschaft der Vielen). Und er hat das Tribunal **NSU-Komplex auflösen** mitinitiiert. Mehr gibt es hier und hier
Zentrale These
Antirassistische Bewegung befindet sich derzeit in einer Krise. Sie schaffen es nicht eine umfassende Gesellschaftskritik zu formulieren, sondern verlieren sich mit Bezug auf Critical Whiteness Ansätze in „postpolitischer Lagerbildung“ (ebd.: 69), welche Kämpfe für universelle Befreiung „für das repressive Versprechen auf Harmonie in der eigenen partikularen Entität“ aufgegeben haben.
Geschichtlicher Hintergrund zu linken Bewegungen in Deutschland
Phänomen identitärer Selbst- und Fremdzuordnungen ist nicht neu, sondern kam historisch immer wieder in der Formierung autoritärer Bewegungen vor. Bis in die 1990er Jahre konnten mit Antirassismus gesamtgesellschaftliche Verhältnisse thematisiert werden und sowohl Klassen- als auch Geschlechterverhältnisse radikal in Frage gestellt werden. Seit 9/11 hat sich Rassismus global verändert: Der antimuslimische Rassismus brachte eine Spaltung der migrantischen Communities in einerseits 'Europäer*innen' und andererseits 'Muslim*as' mit sich. Prekarisiert blieben jedoch beide. Es tat sich eine politische und theoretische Leerstelle auf, in der autoritäre und identitäre Konzepte wie Critical Whiteness auftauchten.
Critical Whiteness
Ein Konzept, das sich auf akademische Debatten um Postkolonialismus, Intersektionalität und Gender-Studies der 1970ern in den USA bezieht.
Das Potential von Critical Whiteness besteht darin „Differenzen zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Positionen und Akteur*innen sichtbar werden zu lassen“. Damit kann Weißsein, also die Zugehörigkeit zu den Profiteur*innen von Rassismus, als Konstrukt analysiert werden. Weißsein wird als unsichtbare Norm und als Gemachtes sichtbar.
Problematisch bei Critical Whiteness Ansätzen ist laut Perinelli:
1. Critical Whiteness nimmt die Geschichte der „kanakischen“ Kämpfe im postnazistischen Deutschland nicht in den Blick (Perinelli 2019: 66). Daraus entsteht eine Trennung und Hierarchisierung von Rassismus und Migrantismus, von BPoC und Migrant*innen, die die Gesellschaft spaltet. Perinelli sieht in Critical Whiteness einen „Fehlimport, der aus einer klassenblinden und diskurstheoretischen Beschäftigung mit weißer Herrschaft in Amerika herrührt“ (ebd.: 66) und sich nicht auf deutsche Verhältnisse übertragen lassen. Whitness ist für spiezifische US-Verhältnisse der korrekte Begriff, weil Rassismus in den USA historisch geprägt durch Kolonialismus und Sklaverei ist. Schwarze befinden sich dort immernoch „am unteren Ende der sozialen Stufenleiter“ (ebd.: 65). In Deutschland ist Rassismus jedoch historisch geprägt durch einen völkischen Nationalismus, dem ein eliminatroscher Antiziganismus und Antisemitismus zu eigen war. Auch schwarze Deutsche erleben rassistische Erfahrungen, sie nehmen aber „eine andere gesellschaftliche Positionierung ein als die im untersten Segment der Industrie“ arbeitenden Afro-Amerikaner*innen in den USA. In Deutschland wurde diese Arbeit im Nationalsozialismus von Fremd- und Zwangsarbeiter*innen und nach dem Krieg von sogenannten Gastarbeiter*innen aus Süd- und Osteuropa verrichtet, was sich auch heute noch in der rassistischen Ausbeutung von Migrant*innen aus Südeuropa zeigt. Diese eingewanderten proletarischen Frauen und Männer von Anhänger*innen von Critical Whiteness und der Linken im Allgemeinen jedoch ignoriert.
Das spiegelt sich auch im mit Critical Whiteness Ansätzen eng verbundenen Begriff PoC (Person of Color) wieder. Er meint rassistisch stratifizierte Menschen jenseits der Schwarz-Weiß-Dichotomie. In den USA ist dies als eine Ausweitung der politischen Subjekte zu verstehen und damit als eine wirksame Erweiterung der Antirassistischen Kämpfe (ebd.: 66). In Deutschland stellt der Begriff allerdings eine Einengung dar, weil er sich nicht auf die Kämpfe kanakisierter Migrant*innen bezieht und diese damit unsichtbar macht. Auch wenn häufig betont wird, dass PoC sei, wer von Rassismus betroffen ist und sich selber dazurechne, bestehen doch innerhalb dieser Szene Hierarchisierungen zwischen den von Rassismus betroffenen Communities.
2. Critical Whiteness Ansätze verstehen Rassismus vordergründlich als „identitäres Projekt“ (ebd.: 68). Individuelle Verhaltenskodizes werden betont und angenommen, dass Dominanzverhältnisse durch eine Benennungspraxis verändert werden können. Was entsteht sind „postpolitische Lagerbildungen“, in denen sich vermeintlich Gleiche zurückziehen und potentielle Verletzlichkeiten ins Außen verbannen. Das vernachlässigt jedoch die gesellschaftlichen Mechanismen von Rassismus, inklusive der Tatsache, dass Rassismus eine gesellschaftlich strukturierende Funktion für Ausbeutung besitzt. So geht es bei Rassismus „weniger um Zugehörigkeiten und entsprechende Privilegien, sondern um ungleiche Rechte, die zu diesen Verhältnissen führen“. Die Beschäftigung mit Rassismus bleibt mit Critical Whiteness Ansätzen bei einer neoliberalen „Selbstergründung und -optimierung, die das Universelle nicht mehr zu denken vermag“ (ebd.: 68) und von gesellschaftlicher Veränderung nichts mehr wissen will.
Forderung
Eine antirassistische Perspektive sollte das Erkämpfen von Rechten für alle im Blick haben. Es braucht eine „politische Intervention, die nicht den Privilegierten das Privileg neidet, sondern es sich durch die Schaffung solidarischer Bündnisse selbst aneignet“ (ebd.: 68). Diese Bündnisse sollen auf gegenseitiger Kritik, unterschiedlichen Erfahrungen und gemeinsam beschlossenen Lebensweisen begründet sein. Es braucht kein identütäres „Wir“, sondern ein solidarisches. Und Solidarität kann es nur zwischen Ungleichen geben, niemals unter Gleichen. Das Gemeinsame sollte an eigenen Überlegungen gemessen und hergestellt werden. Nur so können „heterotopische Orten“ entstehen, „an denen normative Zuschreibungen – wenn auch nur temporär – ihre Gültigkeit verlieren“ (ebd.: 69) mit denen Machtverhältnisse nicht verschleiert, sondern verändert werden können. „Wir können uns nur über Glück und Befreiung vergesellschaften und nicht über das Verbrechen. Das heißt, dass Begegnung, Kommunikation und gemeinsames Handeln den Raum für Veränderungen öffnen muss, statt ihn in Vorwegnahme möglicher Verletzungen an den vermeintlichen oder realen Sicherheitsbedürfnissen verletzter oder traumatisierter Menschen auszurichten und hermetisch abzudichten“ (ebd.).
Kilomba, Grada 2010. Plantation Memories. Episodes Of Everyday Racism. Münster. Unrast. 2nd Edition: Chapter 2: Who Can Speak? Speaking At The Centre, Decolonizing Knowledge 25–38.
Grada Kilomba
Grada Kilomba beschreibt sich auf Ihrer Internetseite als „Interdisciplinary Artist, Writer and Theorist“. Sie wurde in Lissabon geboren und studierte dort Klinische Psychologie und Psychoanalyse, siehe Wikipedia-Eintrag. 2012 war sie an der Humbolt Universität zu Berlin Gast-Professorin für Gender Studies und Postcolonial Studies. Sie ist Mitherausgeberin des Werks Mythen, Masken und Subjekte - Kritische Weißseinsforschung in Deutschland. Auf der Verlagsseite des Buches steht über sie: „Stark beeinflusst von der Arbeit von Frantz Fanon, begann Kilomba über Erinnerung, Trauma, ›Rasse‹, Geschlecht und (Post-)Kolonialismus zu schreiben und zu veröffentlichen; später erweiterte sie ihre Anliegen auf Form, Sprache, Performance, Film und Installation. In ihrer Arbeit schafft Kilomba bewusst einen hybriden Raum zwischen den akademischen und künstlerischen Sprachen und nutzt ›Storytelling‹ als zentrales Element ihrer dekolonialen Praktiken. Ihre ebenso durchdachten wie provozierenden Arbeiten wurden unter anderem auf der Biennale de São Paulo, der Berlin Biennale und der Documenta präsentiert.“
Zentrale These
Kilomba schreibt über ihre Erfahrungen als schwarze Frau im akademischen Feld in Deutschland. Damit zeigt sie auf, wie eng verwoben die akademische Wissensproduktion mit Rassismus ist. Sie erlebt das akademische Feld als einen Ort postkolonialer Gewalt und fordert eine dringend notwendige Dekolonisierung von Wissen.
"Can the subaltern speak?"
Mit Bezug auf Gayatri Spivak erläutert die Autorin, dass Subalterne nicht die Möglichkeit haben, zu sprechen, weil ihnen nicht zugehört wird. Sie sind immer auf eine marginalisierte Position und aufs Schweigen, die postkoloniale Strukturen vorschreiben, beschränkt. Hier mehr
Wissen und der Mythos des Universellen
Wissen und rassistische Machtverhältnisse sind miteinander verwoben. Das akdemische Zentrum ist deshalb kein neutraler Ort, sondern ein weißer Ort, geprägt durch eine gewaltvolle koloniale Ordnung: Schwarze Perspektiven werden entweder als ungültiges Wissen disqualifiziert oder von Weißen repräsentiert, wodurch diese den Expert*innenstatus erhalten. Durch binäre Zuschreibungen (universal - spezifisch, objektiv - sujektiv, rational - emotional…), wird weiße Überlegenheit hergestellt und erhalten.
Wissen und der Mythos des Objektiven
Die Arbeit schwarzer Autor*innen und Wissenschaftler*innen bleibt meist außerhalb des akademischen Feldes, weil sie weniger Zugang zu den Ressourcen haben, die notwendig wären, um ihren Stimmen Gehör zu verschaffen. Weiße kontrollieren akademische Strukturen, die entscheiden, was als 'gülitge' und 'wahre' Wissenschaft gilt. Das Wissen, das dabei produziert wird, ist deshalb keine objektive Wahrheit, sondern das Ergebnis ungleicher Macht- und 'Race'beziehungen. Wissenschaft ist keine apolitische Erforschung der Wirklichkeit, sondern eine Reproduktion von racial Machtbeziehungen, die die politischen Interessen der Weißen Überlegenheit wiederspiegelt (29). Schwarze Personen erleben aufgrund von Rassismus die Welt anders als weiße Personen, weshalb sie sie anders interpretieren. Wie kann eine Schwarze Person jedoch Wissen in einem Feld produzieren, in dem die Diskurs von Schwarzen Wissenschaftler*innen systematisch als weniger gültig konstruiert werden? Notwendigkeit deurozentrische Ordnung des Wissens zu dekolonialisieren.
Marginalisierte Diskurse - Schmerz, Enttäuschung und Wut
Über solche marginalisierten Positionen zu sprechen kann Schmerz, Wut und Enttäuschung hervorrufen. Das muss ausgesprochen und teoretisiert werden, denn es handelt sich hierbei nicht um Privates, sondern um Auswirkungen von Rassismus. Sie spiegeln die historischen, politischen, sozialen und emotionalen Race-beziehungen. Die Autorin spricht sich deshalb für eine Epistemologie aus, die das Persönliche und Subjektive als Teil des akademischen Diskurses mit einbezieht. Theorie ist immer von einem bestimmten Standpunkt aus geschrieben - es gibt keine neutralen Diskurse. Wenn weiße Wissenschaftler*innen behaupten, sie würden neutrale, objektive Wissenschaft machen, ignorieren sie, dass sie nicht aus einer neutralen, objektiven, universalistischen Perspektive schreiben, sondern aus einer dominanten. Dekolonisierung von Wissensproduktion bedeutet „to bring out a chance for alternative emancipatory kowledge production“ (32).
Wissen dekolonialisieren
Über die eigenen Erfahrungen zu schreiben, kann als Form des Narzissmus und des Essentialismus verstanden werden. Jedoch ist es eine nützliche Strategie von scharzen Frauen um die eigene Position im akademischen Feld und in sozialen Theorien zu dekonstruieren.
Das Marginale und das Zentrum
Das Marginale und das Zentrum sind miteinander verknüpft. Von Rassismus betroffene Personen sind Expert*innen darin, wie weiße Überlegenheit strukturiert und performt wird. Sie sind Expert*innen in Critical Whiteness und Postkolonialismus. Das Marginale ist ein Ort, an dem kritische Diskurse entstehen können und Unterdrückungsmechanismen von 'race', Klasse und Geschlecht hinterfragt und dekonstruiert werden.
Laurin, Stefan 2018. Willkommen im Zeitalter der Postidentitätspolitik. In: Richardt, Johannes(Hg). Die sortierte Gesellschaft. Zur Kritik der Identitätspolitik, Frankfurt: 109–118. [11]
Stefan Laurin
Stefan Laurin ist freier Journalist (Die Welt, Die Welt am Sonntag, die Jüdische Allgemeine, die Jungle World, Correctiv, Salonkolumnisten) und Herausgeber des Blogs Ruhrbarone. Er wohnt in Bochum, wuchs in Gladbeck und Frankfurt am Main auf. Er „legt sich mit allen an, die Spaß daran haben, anderen Menschen ihre Freiheit zu nehmen.“, so heißt es auf seiner Autorenbeschreibung im Blog Salonkolumnisten. 2016 hat er folgendes Buch veröffentlicht: Versemmelt: Das Ruhrgebiet ist am Ende
Die Linke, Postmaterialismus und Identitätspolitik
Laurin beschreibt eine Abwendung der Linken von der Arbeiter*innenklasse „da diese in den späten 60er Jahren nicht bereit war, den revoluzzenden Bürgerkindern auf dem Weg zu folgen.“ (110) Die Linke habe sich Themen wie Ökologie und Identität zugewendet, einhergehend mit „einer Ablehnung des technischen Fortschritts und einer Hinwendung zu einem romantischen Naturbild“. Dies wird vom Autor als Hinwendung zur Minderheiten- und Umweltpolitik bezeichnet und als Fehler gewertet. Denn es sei keine Erweiterung der politischen Handlungsfelder erwirkt worden, sondern eine Abkehr von der Arbeiter*innenklasse. Umweltschützer*innen würden den Wegfall von Arbeitsplätzen in Kauf nehmen, das stehe auch für den Wegfall der Solidarität. (Beispiel wie es anders gegangen wäre: Lesbians and gays support the miners, 1984 in England (111)) Die Aktiven in Anti-Diskriminierung und Umweltschutz hätten das Interesse verloren, sich für die Interessen von Arbeiter*innen einzusetzen. Während die Linke immer bürgerlicher wurde, habe sie den Kontakt verloren zu Menschen, die man früher Arbeiter*innenklasse nannte und die heute Arbeitende, kleine Angestellte und Beschäftigte im Dienstleistungs- und Pflegebereich sind. „Die verschiedenen sozialen Bewegungen [hätten] sich immer mehr voneinander entfernt“, es gebe kaum noch Kontakt zwischen neuen und alten Linken, „viele hatten den Eindruck dass die Zeit der wirtschaftlichen Konflikte vorbei sei“ (112).
Postmaterialismus und Identitätspolitik gehören für Laurin zusammen. Denn sie seien „Ideologien der bürgerlichen akademischen Mittelschicht in den reichen Staaten Westeuropas, Australiens und den USA“, die scheiterten am Versuch, die „Arbeiterklasse ideologisch zu dominieren“. Beides seien Schönwetterbewegungen gewesen, die nicht die Verbesserung der Lebensumstände der Unterschicht zum Ziel hatten sondern sich damit genügten, „über Toilettennutzungen und Dreadlocks auf Festivals zu streiten.“ (118) Ihre Entstehung sei nur möglich gewesen weil reale Probleme in den Hintergrund gerückt waren. Laurin zufolge ist dieser Umstand vorbei und damit Postmaterialismus und Identitätspolitik am Ende. Es gehe nun nicht mehr um „Befindlichkeiten hypersensibler, sich „irgendwie links“ verortender Mittelschichtskinder“ (110) (u.a. kulturelle Aneignung, männliche Privilegien, Fat Shaming).
Das Ende des Postmaterialismus
Postmaterialismus wird von Laurin beschrieben als „ein Leben mit weniger Konsum und mehr Sinnsuche“ (114). Es handle sich dabei um eine Illusion, das sei ersichtlich durch zwei Aspekte:
- Die Notwendigkeit von Wohnungen Schulplätzen, Arbeitsplätzen, Kleidung, Medizin und somit Wirtschaftswachstum durch gut eine Million Geflüchteter in Deutschland seit 2016. Außerdem würden die Geflüchteten und die Mehrheitsgesellschaft Elektrogeräte, Autos und Markenkleidung wollen. (115)
- Der Aufstieg einer neuen Rechten - immer mehr Arbeiter*innen in Europa wählen rechtspopulistisch statt links, so Laurin. „Zu dieser Entwicklung konnte es nur kommen, weil die Welt nicht postmaterialistisch geworden und Identitätspolitik in ihrem Kern nicht fortschrittlich ist.“ (114)
Postmaterialismus scheitert Laurin zufolge an der sich wieder verschärfenden sozialen Frage.
Das Ende der Identitätspolitik
Laurin unterscheidet zwischen zwei Arten von Identitätspolitik: die klassische und eine neue Identitätspolitik. Die klassische Identitätspolitik kämpft seit den 60ern „gegen Diskriminierung von Schwarzen, Homosexuellen oder Frauen“. (115) Dabei seien gleiche Rechte für alle ihr Ziel gewesen. Die klassische Identitätspolitik sieht Laurin trotz aller Erfolge noch lange nicht am Ende. Es gebe noch viel Diskriminierung, gegen die angegangen werden müsse.
Allerdings sei mittlerweile der Kerngedanke der Identitätspolitik eine „unsinnige Fixierung auf eine Gruppenzugehörigkeit“ (117). Die Identitätspolitik wolle die Rechte von Einzelnen gegen die Rechte von imaginierten Gruppen ersetzen. (115) Damit würde sich dem gleichen Identitätskonzept wie die Rechte bedient und der erstarkte Rassismus befördert. Laurin beschreibt eine Ähnlichkeit zum Ethnopluralismus „der kein Individuum kennt sondern nur Gruppen und so im radikalen Gegensatz zur Aufklärung steht“. (116) Die Komplexität des Individuums werde missachtet weil die Identitätspolitik Menschen auf einen Aspekt des Seins reduziere „der für sie vielleicht gar nicht bestimmend ist, aber auf jeden Fall nur einer unter vielen. (…) Denn wir gehören alle nicht nur einer Gruppe an, sondern vielen und verfügen zudem über Eigenschaften, die uns als Menschen einzigartig machen.“ (116)
Vergleichende Tabelle aus der Seminarsitzung
Wie wird in den Texten Rassismus verstaden? | Wie wird in den Texten Critical Whiteness verstanden? | |
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Kilomba | -Verwehren von Zugang und Kontrolle über den Diskurs, über Räume und Institutionen | |
Wissen ←→ Rassismus | ||
Perinelli | „Funktion zur ungerechten Verteilung von Rechten und Reichtümern“ (S.68) | - totaler Gewaltbegriff |
≠falsches Denken | -bei Critical Whiteness geht es nur um Privilegien | |
≠angeborenes Merkmal | -theoretisches Potenzial Differenzen aufzuzeigen | |
≠identitäres Projekt | -Konzentration auf Innerlichkeit und Identität | |
verschiedene Rassismen (Zeit/Ort/Kontext) | ||
Laurin | Ethnopluralismus ~ Identitätspolitik | Identitätspolitik –> Rassismus |