Jüdische Migrationsbewegungen in Ostdeutschland und dem wiedervereinigten Deutschland ab 1945

„[…] Juden*Jüdinnen waren nicht unbedingt sichtbarer oder gesehener Teil der Gesellschaft. Aber sie sind nicht nur im dominanzgesellschaftlich-deutschen Narrativ übersehen worden, sondern offensichtlich weitgehend auch in der postmigrantischen Gegenerzählung.“ (Axster/Berek 2020: 11)

Diese Worte Hannah Peacemans aus dem Projekt Erinnern Stören verweisen auf die marginalisierte Perspektive jüdischer Personen, die häufig nur in Bezug auf den Nationalsozialismus Erwähnung findet und in anderen Diskursen, wie den migrationspolitischen Debatten unbeachtet bleibt. Besonders deutlich tritt dies in Bezug auf die Juden*Jüdinnen hervor, die nach dem Zerfall der Sowjetunion aus dieser in das wiedervereinigte Deutschland emigrierten und damit das Weiterbestehen der jüdischen Gemeinden, vor allem in der ehemaligen DDR sicherten. Rechtlich erhielten sie dabei den Status der „Kontingentflüchtlinge“ 1), mit dem Erleichterungen bei der Einreise einhergingen. Neben der großen Migrationsbewegung ab den 1990ern, war auch die Zeit der DDR von Migrationsbewegungen jüdischer Personen geprägt. Die Migrationsgeschichte jüdischer Personen, die in und aus der DDR migrierten, fand und findet jedoch, ungeachtet ihrer großen gesellschaftlichen Bedeutung, ebenfalls wenig Berücksichtigung. Dies betrifft besonders den Aspekt der Ausblendung des Antisemitismus in der DDR. Aus diesen Gründen soll die Ausführung jüdischer Migrationsbewegungen in Ostdeutschland von 1945 bis ins Jahr 2000 Gegenstand dieser Arbeit sein.2)

Wer ist jüdisch?

Eine einzelne Antwort auf die Frage, wer jüdisch ist, lässt sich nicht geben. Es herrschen vielmehr verschiedenste Definitionen vor, die sich in ihrer Pluralität von religiösen über säkuläre erstrecken. Säkulär meint dabei, dass jüdische Personen sich über kulturelle, ethnische oder politische Werte als jüdisch identifizieren (vgl. Oswalt 2021). Die dominante religiöse Definition ist das jüdische Religionsgesetz – die Halacha – nach der die Personen jüdisch sind, die eine jüdische Mutter haben oder zum Judentum konvertiert sind. Als Kritik wird an dieser Auslegung vermehrt angeführt, dass sie nicht mehr zeitgemäß ist und dass an die Stelle der Religion andere Werte, wie z.B. eine jüdische Lebensweise treten (vgl. Lombard 2022). Generell lässt sich festhalten, dass es bereits unzählige Reformbewegungen, wie die amerikanische „Resolution on Patrilineal Descent“ gab, die auch an den progressiven Definitionen Kritik übten. Diese Reformen machen sich auch in vielen jüdischen Gemeinden in Deutschland bemerkbar, die ebenfalls nicht mehr auf dem matrilinearen Prinzip beharren, sondern beispielsweise ihre kulturellen Veranstaltungen für alle interessierten Personen öffnen, wie es beispielsweise bei der Gemeinde in München der Fall ist (vgl. Oswalt 2021).
Aufgrund der angeführten Pluralität gestaltet es sich jedoch schwierig, konkrete Zahlen über die Anzahl von migrierenden Personen anzuführen, und Zahlen sollten stets mit Vorsicht betrachtet werden.

Vaterjuden

Kontrovers diskutiert ist die Definition der Vaterjuden, die für Personen verwendet wird, die nur einen jüdischen Vater haben – und wie im Abschnitt zuvor erwähnt – damit nach der Halacha nicht als jüdisch gelten. In der Sowjetunion war das patrilineare Prinzip jedoch maßgebend, was dazu führte, dass diese Personen sich dementsprechend als jüdisch identifizierten.
Im Zuge der Migrationsbewegung nach der Wiedervereinigung wurden die Vaterjuden aus rechtlicher Perspektive zwar als jüdisch anerkannt, zahlreiche deutsche Gemeinden, die sich auf das matrilineare Prinzip beriefen, verwehrten diesen Personen jedoch den Beitritt (mehr dazu im Kapitel Wendezeit und jüdische „Kontingentflüchtlinge“) (vgl. Lombard 2022).

Hoffnung auf ein neues, besseres Deutschland

Im Zuge der Schoah und des 2. Weltkrieges wurden viele Juden*Jüdinnen ermordet oder emigrierten ins Ausland, sodass sich zum Zeitpunkt des Endes des Krieges nur wenige Juden*Jüdinnen in Deutschland aufhielten. Während sich einige jüdische Personen kein Leben mehr in Deutschland vorstellen konnten, kamen andere ab 1945 mit dem Ziel zurück nach Deutschland, die jüdischen Gemeinden wieder aufzubauen oder auch, wie Theodor W. Adorno auf die Frage nach seinen Motiven für die Rückkehr nach Deutschland antwortete, um ein „anderes Deutschland“ (Aschkenasi 2014) aufzubauen.
Die Sowjetische Besatzungszone beziehungsweise ab Oktober 1949 die DDR, wirkte dabei nach den faschistischen Erfahrungen der NS-Zeit mit dem Versprechen eines antifaschistischen Staates besonders anziehend auf eine große Anzahl jüdischer Personen. Viele Rückkehrer*innen verstanden sich dabei wie Albert Norden, Helmut Eschwege oder auch der Regisseur Alfred Dreifuß vorwiegend als Kommunist*innen und traten der Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED) bei (vgl. Muschik 2012; Talabardon 2021). Alfred Dreifuß setzte sich dabei auch aktiv für die Rückkehr weiterer jüdischer Personen ein (vgl. Leder 2021).
Auch wenn die Mitgliedszahlen deutlich geringer waren als vor der Schoah, etablierten sich nach 1945 wieder einige jüdische Gemeinden in Ostdeutschland. Standorte waren hier unter anderem Leipzig, Erfurt und Dresden. In Leipzig stieg die Mitgliederzahl von 24 zur Zeit der Gründung 1945 im Mai, auf 340 im Juli 1949 an (vgl. Talabardon 2021). Die Gemeinde in Berlin war in besonderem Maße durch die Teilung in Ost und West sowie den Bau der Berliner Mauer betroffen, da es zu einer Spaltung der Gemeinde kam und ein Kontakt zwischen den beiden Gemeindeteilen weitgehend unterbunden wurde (vgl. Balke 2021).

Die DDR ein antifaschistischer Staat? – Antizionismus ab Ende der 1940er

Gründungsmythos Antifaschismus

Nach dem 2. Weltkrieg kam es zunächst durch die Siegermächte (USA, Sowjetunion, Großbritannien, Frankreich) zu einer Aufteilung Deutschlands in vier Besatzungszonen. Besonders die ideologischen Gegensätze zwischen der Sowjetunion und den anderen Siegermächten führten jedoch vermehrt zu Spannungen, die maßgeblich zu der Zweiteilung Deutschlands in West und Ost beitrugen. Sowohl die BRD als auch die DDR verwehrten sich gegenseitig die Anerkennung und proklamierten beide den Alleinvertretungsanspruch, den allerdings beide später aufgaben.
Aufgrund der fehlenden Anerkennung durch die BRD versuchte die DDR ihre Legitimation durch die Abgrenzung zur BRD hin zu erreichen. Dafür betonte die DDR ihre moralische Überlegenheit und Rechtmäßigkeit gegenüber der BRD, die sie auf ihrem Selbstverständnis als antifaschistischer Staat begründete. Die SED als Staatspartei der DDR kritisierte in diesem Zusammenhang die kapitalistische Wirtschaft der BRD, da sie diese als Ursache für den Faschismus beziehungsweise Ausbruch des Krieges bezeichnete (vgl. Muschik 2012).
Die Selbstidentifikation als antifaschistisch sowie die Errichtung des Sozialismus diente jedoch nicht nur zur Abgrenzung sondern sollte auch rechtfertigten, dass die Aufarbeitung der NS-Zeit überflüssig sei, da der Kapitalismus und somit der Ursprung des Faschismus bekämpft sei. Neben der fehlenden Aufarbeitung des Antisemitismus in der NS-Zeit gab es auch kein staatliches Gedenken an die Schoah. Stattdessen wurde lediglich den kommunistischen Widerstandskämpfer*innen des Nationalsozialismus gedacht. Es erfolgte darüber hinaus seitens der SED auch keine Entschädigung der Opfer des Nationalsozialismus und keine Rückführung von Eigentum, was ebenfalls mit dem den Aufbau des Sozialismus und der Überführung des Privateigentums in Kollektiveigentum gerechtfertigt wurde (vgl. ebd.).

Stalinistische Verfolgung jüdischer Personen – Antizionismus

Anti-Israel-Politik
Die Substanzlosigkeit und Leere des antifaschistischen Versprechens zeigte sich schnell in der antisemitischen Welle Ende der 1940er Jahre, die besonders durch Stalin vorangetrieben wurde und auf einem extremen Antizionismus basierte (vgl. Muschik 2021). Bestimmend war hier die zionistische Bewegung zur Gründung des Staates Israel 1948. Während Stalin Anfangs die Idee der Gründung eines israelischen Staates – mit der Hoffnung auf einen Verbündeten im Nahen Osten – noch unterstützte, verkehrte sich diese Haltung ins Gegenteil, als sich eine Westorientierung Israels abzeichnete. Es folgte eine antizionistische und die arabische Seite unterstützende Haltung (vgl. Nesselrodt 2021).
Der staatliche Antizionismus der Außenpolitik der Sowjetunion spiegelte sich auch in der Innenpolitik der DDR wider. Allein das Jüdischsein wurde als Indikator für den Kontakt mit imperialistischen Kreisen gesehen und jüdischen Personen wurde daher durchweg das Ziel der Schwächung des sozialistischen Staates unterstellt. Es gab eine Überprüfung jüdischer Parteimitglieder, in deren Folge zahlreiche jüdische Personen aus der Partei entlassen wurden (vgl. Talabardon 2021). Darüber hinaus wirkte sich die repressive Haltung des Staates auch auf die jüdischen Gemeinden aus, die pauschal als westliche Spionagezentren angesehen wurde. Es kam zu einem zeitweisen Verbot von Veranstaltungen sowie Durchsuchungen von Büros und Räumen (vgl. Haurey 2006).

Antizionismus und Antisemitismus
Auch wenn der Antisemitismus in der DDR schon längst als beseitigt inszeniert wurde und darüber hinaus unter Strafe stand, war er dennoch auf staatlicher sowie institutioneller Ebene sehr präsent (vgl. Talabardon 2021). Während auf der einen Seite der Antifaschismus und die Auslöschung des Antisemitismus in der Presse und den Medien propagiert wurden, wie unter anderem in der Fernsehsendung „Der Schwarze Kanal“ von Karl Eduard von Schnitzler, wurde auf der anderen Seite in den Medien gleichzeitig offen gegen den Zionismus gehetzt (vgl. Rosbach 2020). Ferner deklarierten DDR-Diplomaten den Zionismus sogar als rassistisch (vgl. Voigt: 2008).
Die Verbreitung von antisemitischen Vorurteilen von Seiten der SED war ebenfalls allgegenwärtig. Es wurden Verbindungen zwischen jüdischen Personen und dem Finanzkapital postuliert und auch die „Lehren aus dem Prozess gegen das Verschwörerzentrum Slánský“ wiesen stark antisemitische Aussagen auf. Beim Slánský Prozess in Prag 1952 waren von 14 Verurteilten 11 Personen jüdisch (vgl. Talabardon 2021, vgl. Manig 2012). Wiederholt wurden die jüdischen Gemeinden dazu gedrängt, antizionistische Erklärungen abzugeben, wie es auch 1967 im Zuge des Sechstagekrieges in Israel der Fall war. Der Großteil der jüdischen Personen weigerte sich jedoch, eine entsprechende Erklärung zu unterschreiben (vgl. Hollenbach 2015).

Erneute Flucht aus Deutschland bzw. der DDR
In Folge der staatlichen Repressionen, die durch eine systematische Überwachung durch die Stasi begleitet waren, kam es zu großen Fluchtbewegungen jüdischer Personen in den Westen. Zwischen 1952 und 1953 flohen allein 400 bis 500 jüdische Gemeindemitglieder in die BRD. 1955 verzeichneten die jüdischen Gemeinden nur noch 1715 Mitglieder in der gesamten DDR. In Leipzig, wo die höchsten Mitgliedszahlen erfasst wurden, schrumpften diese von 317 (1950) auf 173 (1953). Viele kleinere Gemeinden wie in Plauen, Jena oder Eisenach gaben ihre Tätigkeit aufgrund mangelnder Mitgliedszahlen wieder auf (vgl. Talabardon 2021).
Der jüdische Spitzenfunktionär Julius Meyer wurde im Zuge der Verfolgung dazu angehalten, eine Erklärung zu unterschreiben, die aussagte, dass die DDR ein antifaschistischer Staat sei und es keinen Antisemitismus in der DDR geben würde. Meyer verweigerte seine Unterschrift und floh 1953 in den Westen (vgl. Hollenbach 2015).
Ergänzend zu den Fluchtbewegungen entfernten sich jedoch aufgrund des staatlichen Drucks viele jüdische Personen, die in der DDR blieben, von den Gemeinden (vgl. ebd.).

Wendezeit und jüdische „Kontingentflüchtlinge“

Schon im Sommer 1990 verfasste die letzte Volkskammerregierung der DDR einen Beschluss, mit dem sie jüdischen Personen aus der Sowjetunion die Aufnahme zusprach (vgl. Körber 2016). Als Beweggrund wurde der ausgeprägte Antisemitismus in der Sowjetunion angeführt. Besonders nach dem Zerfall der Sowjetunion verließen aus diesem Grund, sowie aufgrund der vorherrschenden schlechten wirtschaftlichen Lage, zahlreiche jüdische Personen die Sowjetunion. Während ein großer Teil nach Israel emigrierte, kamen auch hunderttausende nach Deutschland. Besonders in der ehemaligen DDR trafen sie dabei auf eine sehr kleine sowie überwiegend überalterte Gemeinde, deren Zukunft ohne die sowjetischen Zuwander*innen ungewiss gewesen wäre (vgl. Brenner: 2021). Eine genaue Aussage über die Anzahl der migrierten Personen gestaltet sich hier, aufgrund der erwähnten Schwierigkeit der Definition des Jüdischseins, besonders schwierig (genauere Ausführungen finden sich im Teil Wer ist jüdisch?).

„Kontingentflüchtlingsgesetz“
Das „Kontingentflüchtlingsgesetz“, das erstmalig bei den sogenannten „boat people“ angewendet wurde, war dann 1991 als rechtlich gesicherte Weiterführung des Beschlusses aus der DDR seine Anwendung für sowjetische Juden*Jüdinnen, die in das wiedervereinigte Deutschland migrierten. Durch den Status als „Kontingentflüchtlinge“ wurde ihnen ein schnelles und unbürokratisches Einreisverfahren ermöglicht, das sich andernfalls deutlich unsicherer gestaltet hätte. Auch das formelle Beweiserhebungsverfahren wurde ausgeklammert, das eine eindeutige Definition des Jüdischsein gefordert hätte. Als alleiniges Kriterium galt die ethnische Zugehörigkeit beziehungsweise jüdische Abstammung. Insgesamt wird davon ausgegangen, dass 220.000 Juden*Jüdinnen und deren Familienangehörigen im Zuge des „Kontingentflüchtlingsgesetz“ nach Deutschland emigrierten (vgl. Körber 2016) (die Zahlen sind, wie erwähnt, mit Vorsicht zu genießen).
Als Zielsetzung der Bundesrepublik wird häufig die Wiederbelebung des jüdischen Lebens angeführt, die von Dmitrij Kapitelman auch als „»Aufforstung« des Judentums“ (Axster/Berek 2020: 7) bezeichnet wurde. Im Hintergrund lässt sich das Vorhaben der Bundesrepublik ausmachen, ihr Image als postnazistischen und den Antisemitismus überwundenen Staat aufrechtzuerhalten, das besonders durch den Anstieg rechtsradikaler Verbrechen wie in Rostock-Lichtenhagen 1992 zu kippen drohte (vgl. ebd.: 8). Als weiteres Ziel wird die Einreiserleichterung auch als Aktion der „Wiedergutmachung“ für die Verbrechen im Nationalsozialismus gedeutet (vgl. Brenner 2021), wobei hier kritisch hinterfragt werden sollte, inwieweit eine „Wiedergutmachung“ für ein solch extremes Verbrechen überhaupt möglich ist.
Mitte der 1990er Jahre erfolgte ein erster Versuch, die Sonderregelung wieder abzuschaffen, was jedoch maßgeblich durch den Einfluss des Vorsitzenden des Zentralrats der Juden in Deutschland, Ignatz Bubis, verhindert werden konnte. 2005 kam es dennoch mit dem neuen umstrittenen Zuwanderungsgesetz zum Ende der Wirksamkeit des Kontingenzflüchtlingsgesetzes für jüdische Personen (vgl. Körber 2016). An dessen Stelle trat ein Punktesystem, mit dem die Einwanderungszahlen jüdischer Personen aus der ehemaligen Sowjetunion deutlich zurückgingen. Bedeutende Faktoren für die Einreiseerlaubnis sind hierbei „Nachgewiesene Deutschkenntnisse, eine nachweisbare positive Integrationsprognose (Arbeitsplatz) und die Zusage, Mitglied in einer jüdischen Gemeinde werden zu können“ (Belkin 2017).

Das jüdische Verständnis der Gemeinden im Wandel

Wie auch schon im Abschnitt Vaterjuden angerissen, entwickelte sich mit der Einreise von Juden*Jüdinnen aus der ehemaligen Sowjetunion in Bezug auf das Verständnis des Jüdischseins ein Spannungsfeld, das auch vermehrt zu Konflikten innerhalb der Gemeinden führte. In der Sowjetunion verlief die Definition jüdischer Personen über die Nationalität, infolgedessen sich diese als national und weniger religiös jüdisch verstanden. In Deutschland beziehungsweise in den jüdischen Gemeinden in Deutschland dominierte jedoch die Definition über die Religion, was dazu führte, dass vielen Migrant*innen, die einen jüdischen Vater hatten und sich ihr gesamtes Leben als jüdisch identifizierten, der Beitritt zu den jüdischen Gemeinden in Deutschland verwehrt blieb (vgl. Körber 2016).
Fundamental war jedoch, dass vielen migrierten Personen das Judentum als Religion fremd war, da generell die Ausübung einer Religion durch die repressive Haltung der Sowjetunion stark eingeschränkt war. Zusammen mit der Beitrittsverwehrung führte dies dazu, dass insgesamt nur etwa 85.000 migrierte jüdische Personen einer Gemeinde beitraten (vgl. Belkin 2017). In diesem Zusammenhang wurde vermehrt der Vorwurf eines „instrumentellen Verhältnisses zur eigenen Identität, der man sich gleichsam optional, zum Zweck der Ausreise, bedient habe, ohne weitere Bindungen daran zu knüpfen“ (Körber 2016), vorgebracht.

Narrativdifferenz
Neben dem Spannungsfeld des jüdischen Selbstverständnisses entsteht eine weitere Herausforderung durch den Bezug zu verschiedenen Narrativen. Die jüdischen Personen aus der ehemaligen Sowjetunion beziehen ihre kollektive Erinnerung zum großen Teil auf den Sieg der Sowjetunion im 2. Weltkrieg beziehungsweise den Sieg über den Faschismus. Da in der Sowjetunion in diesem Zuge der 8./9. Mai als höchster Feiertag galt, feiern viele emigrierte Personen diesen Tag auch weiterhin, was häufig zu Irritationen führt. Die kollektive Erinnerung der jüdischen Personen, die schon vorher in Deutschland gelebt haben, basiert hingegen überwiegend auf dem Holocaust, zu dem viele russischsprachige Juden nur bedingt einen direkten Bezug haben. Bei den verschiedenen kollektiven Erinnerungen handelt es sich jedoch keineswegs um ein Konkurrenzverhältnis, sondern mehr um einen Wandel sowie die Pluralisierung des Selbstbildes der jüdischen Gemeinden (vgl. ebd.).
Ein weiteres bedeutendes Datum stellt in diesem Zusammenhang der 9. November dar, der sowohl die Reichspogromnacht 1938 als auch den Fall der Berliner Mauer 1989 markiert. Bei Vielen stößt die feierliche Begehung dieses Tages auf Unverständnis (vgl. Adler 2020: 2). Andere wie Hannah Peaceman sehen das Gegenüberstehen eines Gedenk- und eines Feiertages hingegen als Anstoß, das dominanzgesellschaftliche Bild von jüdischen Personen ins Wanken zu bringen (Axster/Berek 2020: 10).

Dominanzgesellschaftliches Bild

Das in Deutschland präsente Bild der jüdischen Gemeinde ist nahezu durchweg an den Holocaust gekoppelt. Erinnerungspolitisch wird dabei eine binäre Logik geschaffen, in der die Deutschen als Täter und jüdische Personen als Opfer erscheinen. Die erinnerungspolitische Reduktion von jüdischen Personen auf den Nationalsozialismus wird jedoch in keinem Maße der Heterogenität des heutigen jüdischen Lebens gerecht. Durch die ethnisierenden Züge wird damit zudem die Differenz zwischen den Opfern/Überlebenden des Holocaust und den jüdischen Personen, die aus der ehemaligen Sowjetunion emigrierten, aufgehoben, beziehungsweise es werden letztere in das dominierende Bild von ersteren eingeordnet (vgl. Körber 2016). Dieses stark eingeschränkte nationale Gedenken wirkt damit in hohem Maße diskriminierend und schließt die Erinnerungen und Erfahrungen eines Großteils der jüdischen Bevölkerung aus.

Migrationserfahrungen jüdischer „Kontingentflüchtlinge“
Bei Betrachtung des dominanzgesellschaftlichen Bildes wird somit deutlich, dass der große Anteil an migrierten Personen und deren Migrationserfahrungen überwiegend unbeachtet bleibt. So werden sie einerseits aus dem Wiedervereinigungsnarrativ (dazu im nächsten Abschnitt mehr) und andererseits, obwohl sich viele jüdische Personen selbst als migrantische Minderheit verstehen, häufig aus den migrationspolitischen Diskursen ausgeblendet. Letzteres zeigt sich in der großen Relevanz migrationspolitischer Themen in den jüdischen Diskursen (vgl. Axster/Berek 2020: 7 + 10 f.).
Es lässt sich zudem eine große Überschneidung zu den „klassischen“ migrantischen Erfahrungen ziehen, wie zum Beispiel dem Fehlen der Anerkennung von Ausbildungen und Studium oder dem Gefühl, sich nicht zugehörig zu fühlen, das sich häufig als Phänomen der Mehrfachzugehörigkeit ausdrückt. Hier lässt sich auch ein interessanter Unterschied zu der Migrationsgeneration der Nachkriegsjahre feststellen. Während diese eine geringe Verbundenheit zu ihren Herkunftsstaaten aufweisen, pflegen viele russischsprachige Juden einen ausgeprägten Kontakt in die Region, aus der sie abgewandert sind und fühlen sich dieser weiterhin zugehörig. Diese Veränderung lässt sich jedoch nicht nur, wie es auf den ersten Blick scheint, im Zeichen der Globalisierung auf die Entwicklung von dynamischen Zugehörigkeiten zurückführen, sondern auch auf die ausgeprägten Diskriminierungserfahrungen. Häufig sind jüdische emigrierte Personen auch von Mehrfachdiskriminierunge (Intersektionalität) betroffen, die sie sowohl durch ihre Identifikation als jüdisch sowie als Person mit Migrationshintergrund erfahren (vgl. Körber 2016).
Auch wenn die Migration jüdischer Personen anhaltend zu wenig Beachtung findet, werden vermehrt Stimmen laut wie die von Olga Grjasnowa oder Lena Golerik, die den autobiographischen Roman, Wer wir sind veröffentlichte, der von ihren Diskriminierungserfahrungen als jüdische Migrantinnen handelt (vgl. ebd.).

Ausschließende Wiedervereinigung

Als kritischer Aspekt lässt sich auch die Hegemonie des Konzepts der Ost-West-Trennung einordnen, da hier nur die zwei dominanten Perspektiven (also die alleinige Betrachtung von Osten und Westen), die kaum die gesamte Gesellschaft abbilden, herausgestellt werden. Dass es jedoch innerhalb beziehungsweise auch quer dazu weitere Machtverhältnisse gab, wie zwischen jüdischen Personen in der DDR und nicht-jüdische Personen oder auch bei der Differenz zwischen jüdischen Gemeinden in der BRD und der DDR, bleibt dabei meist unbeachtet (Axster/Berek 2020: 3 f.).
Ein Ausschluss von jüdischen Personen tritt auch bei Betrachtung des Prozesses der Wiedervereinigung deutlich hervor. Dies wird auch besonders in der Interviewreihe von Sharon Adler deutlich, welche im Rahmen des Projektes Erinnern Stören erfolgte:

„Gemeinsam ist allen Interviewten das Bewusstsein darüber, dass die jüdische Perspektive weder Eingang in den Diskurs der Feiern zum 30. Jubiläum der Maueröffnung erhalten hat noch dass in den gefeierten Jahren 1989/1990 jüdische Stimmen gehört wurden“ (Adler 2020: 3)

Die Ausgrenzung marginalisierter Gruppen spiegelt sich ebenfalls in den Rufen „Wir sind ein Volk“ wider, in denen ein „toxisches Wir“ geschaffen wird, das mit einer stark ausschließenden Wirkung einhergeht (vgl. Adler 2020: 5 f.). Die Idee einer Einheitsgesellschaft ist mit Blick auf die starke Pluralisierung der Gesellschaft als höchst problematisch zu betrachten (vgl. Axster/Berek 2020: 19). Indem ein Image Deutschlands geschaffen wird, das den Ausdruck der Überwindung des Antisemitismus und des Nationalsozialismus trägt, wird der Antisemitismus in hohem Maße ausgeblendet. Dass das Image keine Abbildung der Realität darstellt, zeigt sich besonders in den vielen Berichten über die Verstärkung des Antisemitismus nach dem Mauerfall (vgl. Adler 2020: 9) sowie den „Baseballschläger-Jahre“ in Ostdeutschland. Wobei sich bei Letzteren die rechte Gewalt nicht nur gegen jüdische Personen richtete, die jedoch stark davon betroffen waren (vgl. Axster/Berek 2020: 8).
Auch heute wird der Antisemitismus weiterhin zu häufig von der Politik ausgeblendet. Wie der Anschlag auf eine Synagoge in Halle 2019 hingegen zeigt, bei dem ein Attentäter versuchte, 50 Menschen zu töten, ist der Antisemitismus sogar in seinen extremen Ausmaßen weiterhin präsent. Noch immer fehlt eine Strategie, um den Antisemitismus zu bekämpfen, weshalb der Alltag vieler jüdischer Personen häufig durch Polizeischutz geprägt ist.

Literaturverzeichnis

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Begriffserklärung „Antisemitismus“: https://www.bpb.de/themen/antisemitismus/dossier-antisemitismus/37945/was-heisst-antisemitismus/
Weitere Informationen zum jüdischen Säkularismus: https://www.deutschlandfunkkultur.de/saekulare-juden-unglaeubig-in-jerusalem-100.html
Informationen zu „Resolution on Patrilineal Descent“: https://www.jewishvirtuallibrary.org/reform-movement-s-resolution-on-patrilineal-descent-march-1983
Biografische Informationen zu Theodor W. Adorno: https://www.hdg.de/lemo/biografie/theodor-w-adorno.html
Informationen zur SED: https://www.bpb.de/kurz-knapp/lexika/politiklexikon/18236/sozialistische-einheitspartei-deutschlands-sed/
Begriffserklärung „Faschismus“: https://www.bpb.de/themen/rechtsextremismus/dossier-rechtsextremismus/500776/faschismus/
Biografische Informationen zu Stalin: https://www.dhm.de/lemo/biografie/josef-stalin
Begriffserklärung „Antizionismus“: https://www.bpb.de/themen/rechtsextremismus/dossier-rechtsextremismus/500763/antizionismus/
Begriffserklärung „Zionismus“: https://www.bpb.de/kurz-knapp/lexika/politiklexikon/18503/zionismus/ Informationen zum „Schwarzen Kanal“: https://www.mdr.de/geschichte/ddr/politik-gesellschaft/kultur/karl-eduard-von-schnitzler-schwarze-kanal-100.html
Informationen zum Slánský Prozess: https://www.geo.de/wissen/weltgeschichte/sl%C3%A1nsk%C3%BD-prozess-1952--schauprozess-in-der-tschechoslowakei-32937104.html
Informationen zum Sechstagekrieg: https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/30496/der-sechstagekrieg/
Informationen zu Julius Meyer: https://www.spiegel.de/geschichte/julius-meyer-organisierte-1953-die-flucht-der-juden-aus-der-ddr-a-951041.html
Begriffserklärung „boat people“: https://www.bpb.de/themen/deutschlandarchiv/170611/die-aufnahme-der-ersten-boat-people-in-die-bundesrepublik/
Biografische Informationen zu Ignatz Bubis: https://www.hdg.de/lemo/biografie/ignatz-bubis.html
Weitere Informationen zum Zuwanderungsgesetz von 2005: https://www.bpb.de/lernen/angebote/grafstat/projekt-integration/134603/info-05-04-zuwanderungs-und-aufenthaltsgesetz/
Informationen zum kollektiven Gedächtnis: https://www.bpb.de/themen/erinnerung/geschichte-und-erinnerung/39802/kollektives-gedaechtnis/
Begriffserklärung „Reichspogromnacht“: https://www.bpb.de/kurz-knapp/lexika/das-junge-politik-lexikon/320945/pogrom-reichspogromnacht/
Begriffserklärung „Intersektionalität“: https://www.ndr.de/kultur/Intersektionalitaet-Definition-und-Urspruenge-des-Begriffs,intersektionalitaet100.html
Weitere Informationen zum Anschlag in Halle: https://www.tagesschau.de/inland/halle-zusammenfassung-101.html

1)
Der Begriff „Flüchtling“ steht vermehrt aufgrund der Endung „-ling“ in der Kritik, da diese - zwar nicht ausschließlich - aber häufig mit negativen Begriffen konnotiert wird, beziehungsweise eine verniedlichende Wirkkraft aufweist. „Kontingentflüchtling“ als historisch verwendeter Begriff, ist hier aus diesen Gründen in Anführungszeichen gesetzt.
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