Neue Demokratie im Netz?
Seitenübersicht
[Ausblenden]1 Autor
Nach dem Magisterabschluss im Hauptfach Soziologie und den Nebenfächern Kognitionswissenschaft und Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg war Jan-Felix Schrape (*1979) einige Jahre im Marketingbereich tätig, bevor er 2010 an der Universität Regensburg promovierte. Seit Mai 2010 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter des Instituts für Sozialwissenschaften an der Universität Stuttgart. Sein breites Forschungsinteresse gilt unter anderem der Innovations-, Technik- und Mediensoziologie, sowie Social Media, Massenmedien und Öffentlichkeit (vgl. Schrape: Lebenslauf). Er publiziert regelmäßig Beiträge in Fachzeitschriften und Sammelbänden und betreibt außerdem den Blog www.gedankenstrich.org.
2 Neue Demokratie im Netz? Eine Kritik an den Visionen der Informationsgesellschaft
Von Online-Pionieren und Web 2.0 Evangelisten wurde die vollständige Substitution der Massenmedien durch „demokratischere“ Publikations- und Selektionsprozesse im Netz herbeigeschrieben[1] . In der überarbeiteten Fassung seiner Doktorarbeit [2] beschäftigt sich Schrape mit der Frage, inwieweit die etablierte massenmediale Berichterstattung durch Online-Themen beeinflusst wird und ob dadurch langfristig „zu einer Demokratisierung der gesellschaftsweiten Wirklichkeitsbeschreibung“ (Schrape 2010: 203) beigetragen werden kann. Schrape meint mit seinem Begriff der „Demokratie“ keinen politischen Kommunikationsprozess, sondern „die Durchsetzungskraft innovativer und alternativer Medieninhalte: Der Begriff fungiert damit als ein Gradmesser der Durchlässigkeit einer (Netzwerk-)Gesellschaft für Themen von "unten nach oben", bzw. der Dezentralisierung von Medienmacht“ (Andersson: 2010) Mit seinen quantitativen Analysen und Einschätzungen bezieht sich Schrape ausschließlich auf die Situation in Deutschland, was nicht heißt, dass Erweiterungen auf andere Länder theoretisch nicht auch möglich sind. In der Arbeit werden empirische und demoskopische Daten zu verschiedenen Bereichen der Mediennutzung in Deutschland ausgewertet. Diese Daten bilden auch für weiterführende Forschung und Diskussion eine solide Bezugsgrundlage.
3 Massenmediale Nivellierung der Wirklichkeit
„Wie jedwedes komplexitätsreduzierende Sinnsystem erleichtern die Massenmedien die Kommunikation, indem sie spezifische Inhalte verarbeiten und andere ausklammern, weshalb dem Einzelnen in der Tat eine ‚Gegenwart des Standardisierten‘ entgegenschlägt. Allerdings kann er sich punktuell auch gegen die Rezeption dieser ‚Gegenwart‘ entscheiden. Im Allgemeinen jedoch erscheint es für psychische Systeme kaum möglich, der »Realität der Massenmedien« (Luhmann 1995) zu entgehen, da sie in der Kommunikation fortlaufend mit Fragmenten dieser gesellschaftsübergreifenden Wirklichkeitsbeschreibung konfrontiert werden. (Schrape 2010: 205)
Professionelle Journalisten erbrächten diese Auswahlleistung, ohne die jeder Einzelne und jede Kommunikation hoffnungslos überfordert sei und erzeugten so fortwährend den „gemeinsamen Nenner zwischen den unterschiedlichen Realitätssichten der Bewusstseins- und Kommunikationssysteme“ (ebd. 211). Die massenmediale Nivellierung der Wirklichkeit besteht also darin, eine übergreifende, komplexitätsreduzierte Realitätsbeschreibung bereitzustellen, auf die allgemein in Kommunikation Bezug genommen werden kann.
4 Die Zukunft der Massenmedien
Die Chancen der Einbettung innovativer bzw alternativer Inhalte in die übergreifende Realitätsbeschreibung könnten sich durch die neuen kommunikativen Möglichkeiten im Web auf zwei Wegen verbessern:
1. Mehr und mehr Akteure ersetzen den passiven Konsum massenmedialer Beobachtungsangebote (TV) durch die eigene aktive Selektion im Netz. Hierdurch wird, langfristig gesehen, die Grenze zwischen alternativen und etablierten Inhalten verwischt.
2. Innovative Sinnangebote finden vermehrt Einzug in klassische massenmediale Berichterstattung, da sie durch ihre Online-Publikationen für Journalisten sichtbarer werden. Eine Balance zwischen etablierten (journalistischen) und alternativen (individuellen) Wirklichkeitsentwürfen findet statt.
Daraus ergeben sich folgende Fragen: Werden die neuen netzkommunikativen Möglichkeiten des Internets gesellschaftsübergreifend wahrgenommen? Und sind bereits Abwanderungstendenzen gegenüber den massenmedialen Selektionsinstanzen festzustellen?
1. Mehr und mehr Akteure ersetzen den passiven Konsum massenmedialer Beobachtungsangebote (TV) durch die eigene aktive Selektion im Netz. Hierdurch wird, langfristig gesehen, die Grenze zwischen alternativen und etablierten Inhalten verwischt.
2. Innovative Sinnangebote finden vermehrt Einzug in klassische massenmediale Berichterstattung, da sie durch ihre Online-Publikationen für Journalisten sichtbarer werden. Eine Balance zwischen etablierten (journalistischen) und alternativen (individuellen) Wirklichkeitsentwürfen findet statt.
Daraus ergeben sich folgende Fragen: Werden die neuen netzkommunikativen Möglichkeiten des Internets gesellschaftsübergreifend wahrgenommen? Und sind bereits Abwanderungstendenzen gegenüber den massenmedialen Selektionsinstanzen festzustellen?
4.1 Partizipationsformen
Das Internet bietet verschiedene Möglichkeiten eigene Themen, unabhängig von massenmedialen Relevanzsetzungen, zu publizieren. Folgend werden einige von ihnen mitsamt den tatsächlichen Nutzungspräferenzen vorgestellt (vgl. ebd. 168ff).
- Weblogs: Die meisten deutschen Blogger schreiben über persönliche Erfahrungen und Gefühle. Nur ein Drittel will anderen Wissen zu einem Themengebiet vermitteln.
- Podcasts: Die meisten Ersteller von Podcasts wollen sich selbst darstellen, journalistische Interessen werden kaum verfolgt.
- Social News: bieten zwar auch die technische Infrastruktur für die Verbreitung innovativer Sinnangebote, diese Möglichkeit wird aber ebenfalls selten genutzt. Größtenteils wird auf bestehende Beiträge aus Massenmedien verwiesen.
- Wikipedia: wird als Paradebeispiel der „Weisheit der Vielen“ angepriesen, tatsächlich wurden 50% der Artikel von nur 2,5% der Teilnehmenden erstellt (Stand 2004). Von einer „Weisheit der Vielen“ kann also nicht die Rede sein. Die primär männlichen Kernautoren sind durchschnittlich 33 Jahre alt und engagieren sich aufgrund ihrer ideologischen Verbundenheit zu Open-Content-Angeboten, aus Interesse an enzyklopädischen Inhalten oder um sich spielerisch zu unterhalten.
5 Fazit: Neue Demokratie im Netz?
Von den ohnehin schon wenigen Web-Aktivisten empfindet es nur ein kleiner Teil als sinnvoll, massenmediale Darstellungen zu konterkarieren. Dies erscheint durchaus nachvollziehbar, denn technisch sind zwar die Voraussetzungen für eine Publikation gegeben und leicht zugänglich, der kognitive und zeitliche Aufwand, Wissen zu einem bestimmten Gebiet zusammen zu suchen und aufzubereiten oder ein Thema so zu beleuchten, dass es zeitnah von einer großen Menge von Menschen als interessant und relevant wahrgenommen werden kann, hat sich dadurch jedoch nicht verringert. Es gibt also insgesamt nur sehr wenige nutzergenerierte Angebote, die mit den massenmedial verbreiteten Inhalten konkurrieren wollen und von Teilen der Netzöffentlichkeit regelmäßig rezipiert werden. Ob sie zu einer Veränderungen in der Balance zwischen etablierten und alternativen Inhalten in der gesellschaftsübergreifenden Wirklichkeitsbeschreibung führen können, ist allerdings auch davon abhängig, ob und inwieweit die Massenmedien diese innovativen Sinnangebote beobachten und weiterverarbeiten, etwa wenn sie von Journalisten als Quelle genutzt würden.
Schrape plädiert für eine differenzierte Sicht auf die Prozesse sozialer Realitätskonstruktion: Trotz der technikvermittelt gesteigerten Effizienz von Kommunikation, ändere sich nichts an dem Bedarf einer gesellschaftsweit geteilten Wirklichkeitsbeschreibung, also einer gemeinsamen Bezugsgrundlage, die nur durch eine Komplexitätsreduktion zustande kommen könne. Diese Leistung könne nach wie vor nur von den Massenmedien realisiert werden, weshalb auch in Zukunft nicht auf sie verzichtet werden könne.
Eine "vollständige Substitution der Massenmedien durch „demokratischere“ Publikations- und Selektionsprozesse im Netz" findet derzeit definitiv nicht statt. Da die Möglichkeiten und Wege einer solchen Substitution theoretisch vorhanden sind, bleibt abzuwarten, ob nicht in der Zukunft Schritte in diese Richtung getan werden. Auch beim Buchdruck wurde das Ausmaß der hervorgerufenen Veränderungen erst viele Jahre später sichtbar.
Schrape plädiert für eine differenzierte Sicht auf die Prozesse sozialer Realitätskonstruktion: Trotz der technikvermittelt gesteigerten Effizienz von Kommunikation, ändere sich nichts an dem Bedarf einer gesellschaftsweit geteilten Wirklichkeitsbeschreibung, also einer gemeinsamen Bezugsgrundlage, die nur durch eine Komplexitätsreduktion zustande kommen könne. Diese Leistung könne nach wie vor nur von den Massenmedien realisiert werden, weshalb auch in Zukunft nicht auf sie verzichtet werden könne.
Eine "vollständige Substitution der Massenmedien durch „demokratischere“ Publikations- und Selektionsprozesse im Netz" findet derzeit definitiv nicht statt. Da die Möglichkeiten und Wege einer solchen Substitution theoretisch vorhanden sind, bleibt abzuwarten, ob nicht in der Zukunft Schritte in diese Richtung getan werden. Auch beim Buchdruck wurde das Ausmaß der hervorgerufenen Veränderungen erst viele Jahre später sichtbar.
6 Literatur
Schrape, Jan-Felix (2010) Neue Demokratie im Netz? Eine Kritik an den Visionen derInformationsgesellschaft, 117–126, 167–199, 203–216.
6.1 Internetquellen
Schrape, Jan-Felix (2011) Lebenslauf, abrufbar unter http://gedankenstrich.org/wp-content/uploads/2011/05/cvnew.pdf Datum des Zugriffs 03.10.2014.
Schmidt, Jan-Hinrik (2012) Das demokratische Netz? Bundeszentrale für politsche Bildung, abrufbar unter http://www.bpb.de/apuz/75830/das-demokratische-netz?p=all#footnodeid_16-16 Datum des Zugriffs 03.10.2014.
Anderssohn, Stefan (2010) Rezension vom 17.12.2010 zu: Jan-Felix Schrape (2010) Neue Demokratie im Netz? transcript (Bielefeld) 2010. In: socialnet Rezensionen, abrufbar unter http://www.socialnet.de/rezensionen/10387.php Datum des Zugriffs 03.10.2014.
Schmidt, Jan-Hinrik (2012) Das demokratische Netz? Bundeszentrale für politsche Bildung, abrufbar unter http://www.bpb.de/apuz/75830/das-demokratische-netz?p=all#footnodeid_16-16 Datum des Zugriffs 03.10.2014.
Anderssohn, Stefan (2010) Rezension vom 17.12.2010 zu: Jan-Felix Schrape (2010) Neue Demokratie im Netz? transcript (Bielefeld) 2010. In: socialnet Rezensionen, abrufbar unter http://www.socialnet.de/rezensionen/10387.php Datum des Zugriffs 03.10.2014.
[1] durch fortwährendes Darüber-Schreiben Wirklichkeit werden lassen, herbeiführen, Duden
[2] „Wirklichkeitschancen alternativer Realitätsentwürfe in der europäischen Netzwerkgesellschaft – Eine Kritik der Utopien der Informationsgesellschaft aus erweiterter systemtheoretischer Sicht“, abrufbar unter http://gedankenstrich.org/wp-content/uploads/2010/04/Diss%20FINAL.pdf