Öffentlichkeit durch interaktive Medien

 
Können interaktive Medien Öffentlichkeit herstellen? Zum Potenzial öffentlicher Kooperation im Internet ist ein von Hubertus Niedermaier im VS-Verlag veröffentlichter Aufsatz aus dem Jahr 2008. Ausgehend von der Feststellung, dass das Internet, ebenso wie andere Massenmedien, an der Selbstbeobachtung der Gesellschaft, an der repräsentativen Rekonstruktion der Welt teilnimmt und zu einem Massenmedium erwächst, das durchaus real mit um die „öffentliche Auslegung des Seins“ konkurriere, wirft er die Frage auf, ob interaktive Medien in der Lage sind Öffentlichkeit herzustellen und wie sich insbesondere das Internet auf die Struktur der Öffentlichkeit auswirkt. Die Schrift lässt sich dabei grob in drei Abschnitte unterteilen. Im ersten Teil versucht er zu erläutern was aus soziologischer Sicht unter „moderner Öffentlichkeit“ zu verstehen ist, um dann im zweiten Abschnitt zu untersuchen inwiefern sich Öffentlichkeit im Internet niederschlägt, etwa gemessen an dem Schlagwort Web 2.0.
Zum Schluss folgt eine Abschätzung des Potenzials öffentlicher Kooperation im Internet.
 
 
Autor
 
Hubertus Niedermaier, Jahrgang 1973, studierte Soziologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Sein Studium schloss er 2000 mit dem Diplom ab und promovierte 2005 zum Dr. Phil. mit der Arbeit: „Das Ende der Herrschaft? Perspektiven der Herrschaftssoziologie im Zeitalter der Globalisierung. Von 2001 bis 2005 arbeitete er als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Soziologie der LMU München. Von 2005 bis 2008 war er Business Analyst bei der EL2 Beratungsgesellschaft GmbH, sowie von 2008 bis 2011 Senior Manager im Business Performance Management bei der Kabel Deutschland Vertrieb und Service GmbH. Seit 2011 leitet er dort das Business Performance Management. Zudem publiziert er im Bereich der Soziologie. Zu seinen weiteren Publikationen gehören etwa Marxistische Theorie (2009), sowie Reflexive Modernisierung von Herrschaft (2011).
 
Massenmedien, Öffentlichkeit und Teilöffentlichkeit
 
Entscheidend für die Herausbildung einer Öffentlichkeit ist für Niedermaier die „synchronisierende Kraft eines gewissen Teils der Massenmedien“. Ausgehend von Luhmann und Bourdieu habe die moderne Gesellschaft ein Komplexitätsniveau erreicht, das jeden Einzelnen Teilnehmer überfordern würde. Die Massenmedien erhalten dadurch die Rolle eines Synchronisators, welche den Menschen eine „Hintergrundrealität“ (Luhmann 1995), also einen aufbereiteten Themen- und Wissensvorrat bereitstellen, durch welchen sich diese in der modernen Gesellschaft überhaupt erst zurechtfinden können.
Wichtig sei es dabei aber die unterschiedlichen Bereiche der Massenmedien hinsichtlich ihrer synchronisierenden Kraft zu differenzieren. Als Beispiel nennt er etwa Musik-CD's, oder Spielfilme, welche zwar zu den Massenmedien gerechnet werden, häufig aber nur einen geringen allgemeinen Bekanntheitsgrad genießen. Ein Teil der Massenmedien, etwa die Nachrichten, nehmen also eine Schlüsselposition bei der Bildung einer Gesamtöffentlichkeit ein. Sie stellen den Individuen ein „interaktionsrelevantes Kontextwissen“ zur Verfügung, welches unaufhörlich aktualisiert werden muss. Zur Öffentlichkeit zähle demnach nur ein Teil dessen, was massenmediale Verbreitung findet. In Abgrenzung zu Luhmann sei für Öffentlichkeit aber nicht die prinzipielle Zugänglichkeit zu bereitgestellten Wissensinhalten entscheidend, sondern ob eine allgemeine Bekanntheit jener vorausgesetzt werden kann, wobei das, was als öffentlich bekannt vorausgesetzt wird, nicht allgemein bekannt sein müsse. Hierzu bemerkt er: „Öffentlichkeit steckt somit nicht den Bereich des tatsächlich allgemein Bekannten ab, sondern kennzeichnet einen Wissens- und Themenvorrat, deren Bekanntheit erwachsenen Kommunikationspartnern in beinahe beliebigen Situationen unerläutert zugemutet werden kann. Der hier verwendete Öffentlichkeitsbegriff richtet sich also weniger nach der faktischen Diffusion von Themen als vielmehr danach, inwiefern Bekanntheit gesellschaftlich erwartet wird.“ (Niedermaier 2006) Öffentlichkeit werde also durch selbstverständlich vorausgesetztes Wissen erzeugt.
Die Öffentlichkeit erschaffe somit eine „gemeinsame Welt, die die Grenzen des interaktiv Erfahrbaren übersteigt und so eine Millionen Menschen umfassende Gesellschaft erst vorstellbar macht.“ Das Leben in der Vormoderne sei dabei in erster Linie auf das unmittelbar Erlebbare bezogen, wobei die modernen Massenmedien eine gemeinsam vorgestellte Welt erzeugen, welche zum Bezugspunkt individuellen Handelns wird. „Ohne miteinander Interaktionsbeziehungen zu unterhalten, übernehmen Zeitungsleser gleiche Informationen für die Interpretation des Alltagslebens. Sie leben nun in einer Welt.
Vor dem Hintergrund, dass sich jede Öffentlichkeit letztlich auf ein Kollektiv beziehe (Niedermaier 2006: 229ff), versteht er unter Teilöffentlichkeit eine Öffentlichkeit, die sich etwa auf eine konkrete Gruppe innerhalb der Gesellschaft beschränkt, deren spezielles Wissen keine gesamtöffentliche Relevanz darstellt.
Den so skizzierten Öffentlichkeitsbegriff beschreibt Niedermaier darüberhinaus als notwendig für die Entstehung von Nationen, sowie unabdingbar für eine moderne Massendemokratie.
Von Luhmann grenzt sich Niedermaier insofern ab, als dass er dessen Öffentlichkeitsbegriff, der sich auf die gesamte „gesellschaftsinterne Umwelt der gesellschaftlichen Teilsysteme“ (Luhmann 1995: 184) beziehe, als kaum abgrenzbar und somit unterbestimmt charakterisiert. Auch von der Definition Frank Marcinkowskis, nach der es sich bei Öffentlichkeit um „die Semantik der Selbstbeschreibung des Systems der Massenmedien“ (Marcinkowski 1996: 438) handelt distanziert er sich, als dass diese zu weit gefasst sei.
 
Öffentlichkeit im Netz
 
Dass das Internet als Massenmedium angesehen werden muss ist für Niedermaier keine Frage.
Entscheidend ist für ihn allerdings die Frage, ob das Internet, wie etwa Wehner behauptet, aufgrund seines interaktiven Charakters als Massenmedium die Funktion der Synchronisierung verliert und also nach dieser These keine Öffentlichkeit zu schaffen vermag. Niedermaier kritisiert diese Ansicht. So werden die interaktiven Möglichkeiten häufig gar nicht ausgeschöpft, was sich etwa dadurch zeige, dass viele bereits vorhandene Formate, etwa Zeitungen, online nachgeahmt werden. In diesem Fall beschränke sich die Interaktivität auf das bloße elektronische umblättern. In dem es, angelehnt an unidirektionale Medien zur Verbreitung von Nachrichten einen erwähnenswerten Beitrag leiste, trage das Internet an der Bildung von Öffentlichkeit insofern also bei.
In Anlehnung an Alexander Roesler diskutiert er zudem, ob sogenannte „eingleisige Kommunikationsarrangements“ nicht sogar eher zu einer „Verkürzung von Öffentlichkeit“ führen, wobei erst die völlige Ausschöpfung des interaktiven Potenzials des sogenannten Web 2.0 einen öffentlichen Dialog im Sinne eines Gesprächs ermögliche.
Falls Medienangebote, welche auf Interaktion, Partizipation und Kooperation beruhen tatsächlich in der Lage sein sollten Öffentlichkeit in seinem Sinne herzustellen, so postuliert er einen zwangsläufigen Wandel für die Struktur der modernen Gesellschaft.
Web 1.0 und Web 2.0
 
Niedermaier charakterisiert das Web 1.0 als eine Ansammlung zumeist statischer Seiten und vergleicht seine Arbeitsweise mit einem Karteikasten oder einer global verfügbaren Bibliothek. Der wichtigste Unterschied zu herkömmlichen Massenmedien liege dabei lediglich in der einfacheren Verfügbarkeit des Angebots, sowie im Wegfallen des Privilegs von Verlagen und Sendern entsprechende Themen vorzugeben. An sich trage es aber ähnliche Strukturen wie die klassischen unidirektionalen Medien. Insofern sei dieses also in der Lage Öffentlichkeit herzustellen.
Für den Wandel zum Web 2.0 maßgeblich sieht er die hinzukommenden Möglichkeiten von Interaktion, Partizipation, Kooperation und Klassifikation. Aus diesem Grund sei das Web 2.0 ideal um der Grundfragestellung nachzugehen.
So habe das Web 2.0 den statischen Aufbau von Websites hinter sich gelassen. Als Beispiele nennt er etwa Wikipedia, Youtube, Foren, oder die Blogosphäre. Das Internet sei so eindeutig dynamischer geworden, wobei es die Züge eines Interaktionspartners gewinne, mit dem Episoden doppelter Kontingenz möglich werden. Unter Partizipation versteht er hauptsächlich die Möglichkeit zu publizieren und somit unmittelbar zu bestehenden Internetpräsenzen eigene Beiträge beizusteuern, was im Web 1.0 schwieriger bis gar nicht möglich gewesen sei. Kooperation beschränkte sich beim Web 1.0 in erster Linie auf einen erleichterten Informationsaustausch. So kooperierte man nach Niedermaier nicht im Netz, sondern vermittelt über das Netz. Auch dies habe sich gewandelt. So ermögliche das immer koordinierte Zusammenwirken Vieler Dinge zu realisieren, die im Web 1.0 aufgrund dessen statischen Aufbaus nicht möglich waren.
Zuletzt nennt er die Nutzung der sogenannten „Folksonomy“ als eine weitere Errungenschaft des Web 2.0. So stellen Betreiber von Websites häufig nur mehr entsprechende Software bzw. Plattformen bereit. Inhalt und Klassifizierung, etwa eine Gewichtung durch Schlagworte, also eine dynamische Zuordnung zu „tag clouds“ wird von den Nutzern dann selbst vorgenommen.
Das Potenzial öffentlicher Kooperation
 
Niedermaier unterscheidet drei wichtige Anwendungen des Web 2.0 und untersucht diese im letzten
Kapitel auf ihren Beitrag zur Bildung von Öffentlichkeit.
Websites wie Youtube oder Flickr bezeichnet er als „global zugängliche Videothek bzw. Bilderausstellung“, welche innerhalb der letzten Jahre stark an Popularität gewannen. Aufgrund der enormen Vielfalt unterschiedlichen Materials spricht er allerdings von einer „Diversifizierung der verbreiteten Inhalte“. Vergleichbar mit einer üblichen Bibliothek führe die massenhafte Sammlung von Daten nicht zu einer Synchronisierung von Themenvorräten, wobei zahlreiche Partizipationen der Nutzer zu einer Pluralisierung von Angebot und Konsum führe. Entsprechenden Seiten spricht Niedermaier die Teilnahme an Öffentlichkeitsbildung also ab.
Als zweites geht er auf Foren und Wikis ein. Foren seien dabei häufig in der Lage an der Bildung „themenzentrierte Teilöffentlichkeiten teilzunehmen. Gemessen an dem demokratisch revolutionierenden Potenzial, welches ihnen früh nachgesagt wurde, gehe der Einfluss von Foren auf die Gesamtöffentlichkeit hingegen gegen Null. So werden Beiträge selten über die Grenzen des Forums wirklich bekannt, was häufig der nichterfolgenden Reduzierung von Komplexität der Inhalte geschuldet sei. Viel mehr gehe es um verstärkte Detaillierung und Einbeziehung verschiedener Kontexte, welche dem auf diesem Gebiet unerfahrenen den Zugang von vorne herein unattraktiv erscheinen lassen.
Wikis unterscheidet Niedermaier bewusst von Plattformen wie Youtube oder Flickr. Zwar werde bei Seiten wie etwa Wikipedia ebenfalls Material gesammelt, dieses aber vor der Veröffentlichung teils strengen Mechanismen der Prüfung und Abwägung unterzogen. Insofern stelle zum Beispiel Wikipedia ein Grundverständnis der modernen Welt und damit ein Basis- oder Hintergrundwissen zur Verfügung. Dieses stelle allerdings lediglich eine Grundlage für Öffentlichkeit dar, sei an dem Prozess ihrer Bildung unmittelbar aber nicht beteiligt, da auch hier die Partizipation zu einer Diversifizierung führe.
Als letztes geht Niedermaier auf die Blogosphäre, also die Gesamtheit der Blogs innerhalb des Internets, ein.
Webblos würden zwar weder durch ausgeprägte Interaktion noch durch erhöhte Partizipation bestechen, weisen laut Niedermaier aber eine eigene, besondere Form der Kooperation auf. So verhelfen sich Blogs gegenseitig zur Bekanntheit, indem sich die Blogger untereinander sehr stark vernetzen, etwa durch gegenseitiges zitieren. Themen, Argumente und Meinungen erfahren innerhalb der Blogosphäre eine schnelle Verbreitung. Die Blogosphäre käme der griechischen Agora damit näher als etwa Webforen. Im Gegensatz zu Foren, bei welchen man es mit Aufzeichnungen öffentlicher Diskussion zu tun habe eröffnet die Blogosphäre in Niedermaiers Augen eine diskutierende, verteilte „(Web-) Öffentlichkeit“. Hierbei stellt er fest, dass diese Art von Öffentlichkeit einen ähnlichen Aufbau wie die außerhalb des Internets habe. „So wie die Öffentlichkeit der Presse oder Fernsehens nur durch die übergreifende Thematisierung gleicher Nachrichten zustande kommt, so kommt die Öffentlichkeit der Blogosphäre – und dass dieser Begriff sich etabliert hat, ist bezeichnend – ebenfalls nur dadurch zustande, dass mehrere blogs ein Thema fokussieren. In diesem Sinne biete die Blogosphäre das Potenzial Öffenlichkeit im Sinne der bereits etablierten Massenmedien herzustellen. Einschränkend bemerkt er, dass diese allerdings niemals die Homogenität von Presse, Hörfunk und Fernsehen erreichen könnten. Die starke Vernetzung und Verknüpfung der Blogs untereinander berge durch die durch sie hervorgerufenen öffentliche Diskussion, Kooperation, sowie Konfrontation dabei das Potenzial zu einer kooperativen Öffentlichkeit.
 
Literatur
 
Niedermaier, Hubertus: Können interaktive Medien Öffentlichkeit herstellen? Zum Potenzial öffentlicher Kooperation im Internet, in: Stegbauer, Christian / Jäckel, Michael (Hrsg.): Social Software. Formen der Kooperation in computerbasierten Netzwerken.
Wiesbaden: VS-Verlag 2008, S. 49-69
Weblinks
 
http://www.hubertus-niedermaier.de/
http://www.hubertus-niedermaier.de/?anz=publik