In ihrem Buch Data Feminism ( online, pdf), arbeiten Catherine D'Ignazio und Lauren F. Klein sieben Prinzipien heraus, die ihrer Ansicht nach im Umgang mit Daten1). Die Analyse der Herrschaftsverhältnisse und deren Herausforderung ist das zentrale Thema des Buches. Für die zugrundeliegende Analyse der Herrschafts- und Machtstrukturen beziehen sie sich auf den theoretischen Rahmen der Matrix of Domination von Patricia Hill Collins (vgl. Dignazio/Klein 2020: 21ff). In jeweils einem Kapitel stellen D'Ignazio und Klein eines der sieben Prinzipien vor, die helfen sollen, Herrschaftsstrukturen im Umgang mit Daten nicht selbst zu reproduzieren und diese darüber hinaus zu überwinden. Hierbei handelt es sich um: 1. Examine power, 2. Challenge power, 3. Elevate emotion and embodiment, 4. Rethink binaries and hierarchies, 5. Embrace pluralism, 6. Consider context und 7. Make labor visible (vgl. D'Ignazio/Klein 2020).
Ich2) beschäftige mich in diesem Wikieintrag, ausgehend von dem Prinzip „Rethink binaries and hierarchies“, mit Klassifikationssystemen. Die von D'Ignazio und Klein beschriebene Grundproblematik liegt darin, dass Klassifikationen oftmals Teil von Herrschaftspraktiken sind. Jedoch ist es nicht möglich, aus einer herrschaftskritischen Motivation heraus einfach auf Klassifizierungen zu verzichten (vgl. D'Ignazio/Klein 2020: 103). Denn Klassifikationen sind in jeder Datenerhebung notwendig, um eben genau diese Herrschafts- und Unterdrückungsstrukturen sichtbar zu machen und herauszufordern. Eine der zentralen Fragen des Prinzips Rethink binaries and hierarchies lautet also: Welche Klassifikationen sind notwendig, welche sind nicht notwendig und wie können Kategorien konzipiert werden, um das Ziel zu erreichen, Unterdrückungsmechanismen sichtbar zu machen und herauszufordern, ohne diese selbst zu reproduzieren und Menschen hierdurch direkt oder indirekt Schaden zuzufügen.
Klassifikationssysteme, die uns alltäglich begegnen und tagtäglich von uns selbst und anderen reproduziert werden, sind konstruiert und haben eine Geschichte. Systematische, hierarchisierende und binarisierende Klassifikationen können auf den Globalen Norden des 18.Jahrhundert zurückgeführt werden. Historisch betrachtet haben diese hierarchisierenden Klassifikationssysteme ihren Ursprung im Gleichheitsgedanken moderner Nationalstaaten: „All sorts of systems for classifying people have their roots in that era— not only sex but also, crucially, race“ (D'Ignazio/Klein 2020: 102). Sie dienten dazu, trotz der Gleichheitsideale der Aufklärung, die sich in den Verfassungen der Nationalstaaten festschrieben, die dennoch fortbestehenden Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten zu legitimieren. Der wissenschaftliche Rassismus und die Binarisierung der Geschlechter dienten der Kontrolle der Gesellschaft bzw. der einzelnen Subjekte und der Legitimation von Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnisse zu einer Zeit, in der der Gleichheitsgedanke im Zuge der Aufklärung als Grundlage der sich formierenden Nationalstaaten propagiert wurde: „These [systems of classification] allowed elite white men to provide a purportedly scientific basis for the differential treatment of people of color, women, disabled people, and gay people, among other groups“ (D'Ignazio/Klein 2020: 103). Die Klassifikationen wiederum wurden dadurch legitimiert, dass sie einer angeblich objektiven und neutralen Wissenschaft (also i.d.R. der Perspektive weißer, christlicher, gesunder, heterosexueller und angesehener Männer der kolonialisierenden Nationen) entsprungen seien. Das Zählen und Klassifizieren der nationalisierten Bevölkerungen wurde, wie unter anderem Foucault analysierte, für Regierungen zu einem zentralen Herrschaftsinstrument und diente der Verwaltung und Optimierung der Bevölkerung (vgl. Foucault 1977). Und auch für die Ausbeutung und Unterdrückung der kolonialisierten Bevölkerungen wurden Klassifikationen als Herrschaftspraktik verwendet. Im Nationalsozialismus erreichte die Herrschaftspraktik der bürokratischen Verwaltung des „Volkskörpers“ ihre extremste Ausprägung, indem durch akribisches und angeblich wissenschaftlich fundiertes Klassifizieren entschieden wurde, wer leben darf und wer vernichtet werden muss (Vgl. Neumann 2009: 194f.). Aber auch in ihren weniger extremen Formen können Klassifkiationssyteme über Leben und Tod entscheiden. Hierbei kann es um Fragen der Fahrlässigkeit gehen, wenn normierte Durchschnittswerte Risiken für nicht der festgelegten Norm entsprechende Menschen darstellen, wenn Menschen aufgrund von Abwertungsmechanismen nicht geholfen wird, wenn Menschen ein Leben lang strukturelle und materielle Nachteile erleben, oder wenn Morde infolge von Hass auf konstruierte und abgewertete Personengruppen geschehen. Von Bedeutung ist, dass, obwohl Klassifikationssysteme wie Rassismus oder Sexismus von einem großen Teil der Bevölkerung zumindest diskursiv abgelehnt werden, diese nach wie vor in großem Maße wirkmächtig sind (vgl. Scherr 2012: 13).
Geoffrey C. Bowker und Susan Leigh Star beschreiben in ihrem Buch „Sorting Things Out: Classification and Its Consequences“, dass Klassifizieren menschlich sei und wir jeden Tag, auch außerhalb von bürokratischen Normen und Klassifikationen, sowohl unterbewusst als auch bewussst viel Zeit mit klassifizieren verbringen (vgl. Bowker/Star 1999: 1f.). Es kann sich hier um so vielfältige Themen wie „schmutzige“ und „saubere“ Wäsche oder „nette“ und „nicht nette“ Nachbarn handeln.
Aber auch den spezifischen binären und hierarchisierenden Klassifikationssystemen kann man sich aus einer herrschaftskritischen und reflektierenden Perspektive nicht einfach entziehen, wie D'Ignazio und Klein betonen (vgl. D'Ignazio/Klein 2020: 103). Zum einen sind wir alle innerhalb von spezifischen Klassifikationssystemen sozialisiert und müssen diese erst als solche erkennen lernen. Hierzu haben unter anderem zahlreiche feministische, post- und dekoloniale Arbeiten von Wissenschaftler*innen, Künstler*innen und Aktivist*innen der letzten Jahrzehnte beigetragen (vgl. Butler 1990 , Crenshaw 1991, Grosfoguel 2010, Fanon 1981 (Es handelt sich hier um eine beispielhafte und nicht repräsentative und darüber hinaus viel zu geringe Auswahl von Autor*innen, die sich vor allem aus Referenzen zusammensetzt, auf die ich mich auch an anderer Stelle in diesem Beitrag beziehe)). Zum anderen müssen, um Unterdrückungsmechanismen systematisch erkenn- und sichtbar zu machen, zwangsweise Klassifikationen vorgenommen werden: „In fact, by the time that information becomes data, it’s already been classified in some way„ (D'Ignazio/Klein 2020: 103). So steht man beispielsweise vor der Problematik, dass, wenn man über die real gewordenen Konsequenzen für die künstlich konstruierten Gruppen spricht, gleichzeitig selbst die Klassifikationssysteme zu reproduzieren. D'Ignazio und Klein beschäftigen sich daher mit der Frage, wie aus einer herrschaftskritischen Position heraus Daten erhoben werden können, ohne bei der Klassifizierung Unterdrückungsmechanismen zu reproduzieren und zudem die bestehenden Machtverhältnisse herauszufordern.
Weiterhin führen die Klassifizierungen, auch wenn sie konstruiert sein mögen, zu realen Konsequenzen. Um diese Konsequenzen anzuerkennen, muss auch die Realitätwerdung der Klassifizierungen anerkannt werden. In Bezug auf Rasse gibt es hier beispielsweise den Vorwurf der Color Blindness. Collins beschreibt diese als „a view of the world that resists talking of race because to do so is believed to perpetuate racism“ (Collins 2000: 300). Wir können diesen Klassifikationen also nicht dadurch entkommen, dass wir so tun, als gäbe es sie nicht, sondern müssen sie als Grundlage für Analysen und für politische Kämpfe betrachten.
Zentral in Data Feminism ist für D'Ignazio und Klein die Frage nach Herrschaftsstrukturen und deren Überwindung. Als theoretische und konzeptionelle Grundlage dient ihnen hierfür die Matrix of Domination von Patricia Hill Collins (vgl. Collins 2000). Die Konzeption und Verbreitung von Klassifikationssystemen kann der Hegemonic Domain zugeordnet werden. Hier entstehen die ideologischen Grundlagen für die Herrschafts- und Unterdrückungsmechanismen, die in der Structural, Disciplinary und der Interpersonal Domain wirksam werden und diese anhand verschiedener Mechanismen legitimieren (vgl. Collins 2000: 283ff).
Wie D'Ignazio und Klein betonen, handelt es sich bei den Herrschaftspraktiken nicht immer um bewusste und bösartige Handlungen und Strukturen. Vielmehr geht es darum, wie „[…] race, gender, and class (among other things) intersect to enhance opportunities for some people and constrain opportunities for others. Under the matrix of domination, normative bodies pass through scanners, borders, and bathrooms with ease; these systems have been designed by people like them, for people like them, with an aim— sometimes explicit—of keeping people not like them out. As these examples help to show, the forces that operate through the matrix of domination are sneaky and diffuse“ (D'Ignazio/Klein 2020: 106f). Die Klassifikationssysteme der Hegemonic Domain machen sich in der Structural Domain bemerkbar, beispielsweise durch Gesetze, wie dem Transsexuellengesetz in Deutschland oder auch den so genannten Jim Crow Laws, die seit dem 19.Jh bis über die Mitte des 20. Jh vor allem in den US-amerikanischen Südstaaten existierten. In der Disciplinary Domain wirken die Klassifikationen beispielsweise durch Standardisierungen und Normen, welche dazu führen, dass Gefahren oder Benachteiligungen für diejenigen entstehen, die nicht den Normen entsprechen. So gibt es beispielsweise automatische Seifenspender, die dunkle Hauttöne nicht erkennen. Das klingt vielleicht harmlos, zeigt aber den betroffenen Personen einerseits, dass sie nicht der Norm entsprechen, also nicht dazu gehören und kann zudem, gerade in einer Pandemie, zu ernsthaften gesundheitlichen Problemen führen. Dieses Beispiel zeigt auch deutlich, dass es für Diskriminierung nicht zwangsweie böser Absichten bedarf. Auch Prioritätensetzung und der Fokus auf die Norm kann in der Disciplinary domain dazu führen, dass Menschen ausgeschlossen werden und ihnen beispielsweie die Bewegungsfreiheit verwehrt wird. So geschehen beispielsweise an einem Bahnhof in Freiburg i.Br., an dem nach einem Umbau monatelang die Aufzüge nicht funktionierten und somit eines der Gleise nicht für gehbehinderte Menschen erreichbar war. In der Interpersonal Domain machen sich die verinnerlichten Klassifikationssysteme dadurch bemerkbar, wie wir anderen Personen gegenübertreten und miteinander agieren. Gleichzeitig sind wir natürlich auch dazu in der Lage, die Klassifikationssysteme zu reflektieren. Jedoch ist es gar nicht so einfach, sich diesen verinnerlichten dichotomisierenden, essenzialisierenden und hierarchisierenden Denkstrukturen zu entziehen
„Their impact is indisputable, and as Foucault reminds us, inescapable. Try the simple experiment of ignoring your gender classification and use instead whichever toilets are the nearest, try to locate a library book shelved under the wrong Library of Congress catalogue number, stand in the immigration queue at a busy foreign airport without the right passport or arrive without the transformer and the adaptor that translates between electrical standards. The material force of categories appears always and instantly“ (Bowker/Star 1999: 3).
Zur dauerhaften Aufrechterhaltung der Klassifikationssysteme ist es notwendig, diese alltäglich zu reproduzieren:„[…] [T]he gender binary must also be actively maintained if it is to endure. This maintenance takes the form of the many small acts that reinforce the gender binary, such as the M/F checkboxes we routinely encounter on forms, as well as those that reinforce the roles those genders should play (e.g., gifts of dolls for girls and trucks for boys)“ (D'Ignazio/Klein 2020: 270). Es ist wichig, sich die alltägliche Performanz und Reproduktion der Klassifikationssysteme, wie Butler sie für das Klassifikationssystem Geschlecht herausgearbeitet hat (vgl. Butler 1990), bewusst zu machen, um eine Grundlage für die Reflexions- und Analysearbeit zu haben.
Folgend sollen einige Mechanismen, die Teil des Klassifizierungsprozesses sind, erläutert werden3). Diese Mechanismen zu erkennen ist hilfreich, um die Klassifikationssysteme und ihre Folgeerscheinungen analysieren und kritisieren zu können. Somit kann aufgezeigt werden, wie durch Klassifikationen Unterdrückung und Ausbeutung funktionieren und legitimiert werden kann.
Die dominanten Klassifikationssysteme wie Geschlecht oder Rasse können als eine hegemoniale und eurozentrische Form des Wissens und als Teil der Kolonialität der Macht, wie sie Quijano beschreibt (vgl. Quijano 2000), betrachtet werden. Es gibt bzw. gab sicherlich auch andere Klassifikationssysteme zu Rasse und Geschlecht. Hier sind explizit jene Klassifikationssysteme gemeint, die im 18.Jahrhundert im europäisch-hegemonialen Kontext enstanden sind und durch die Kolonialisierung globale Wirkmächtigkeit erfahren haben. Denn mit ihnen wurden andere Epistemologien und Lebensrealitäten unsichtbar gemacht, kriminalisiert, abgewertet oder gar undenkbar gemacht:
„Niemand kann den Hierarchien des ‚modernen/kolonialen kapitalistisch/patriarchalischen Weltsystems‘, die sich aus Klasse, Sexualität, Geschlecht, Glaube, Sprache, Geographie und Rasse ergeben, entkommen. […] Genau genommen besteht der Erfolg des modernen/kolonialen Weltsystems gerade darin, Personen, die sozial gesehen auf der unterdrückten Seite der kolonialen Differenz stehen, dazu zu bringen, epistemisch wie diejenigen zu denken, die sich in dominanten Positionen befinden” (Grosfoguel 2010: 312).
Die eurozentristischen Wissens- und Klassifikationssysteme wurden als objektiv, neutral, wahr und aufgeklärt dargestellt. Somit wurde gleichzeitig die eigene Gewaltausübung legitimiert und verschleiert. Spivak hat diesen Prozess als Epistemic Violence beschrieben (vgl. Spivak 1988). Bei der Analyse von Kolonialität haben sich hier viele post- und dekoloniale Theoretiker*innen analytisch mit der Thematik auseinandergesetzt, da die hegemonialen Klassifikationssysteme und Epistemologien durch die Kolonisator*innen in den Kolonien für ihre Herrschaftspraktiken gebraucht wurden und immer noch gebraucht werden. Gerade im Kontext von Daten- und somit Wissensgenerierung ist die globale Wirkmächtigkeit der Klassifikationssysteme eine wichtige Erkenntnis, auch um epistemische Gewalt nicht selbst zu reproduzieren (vgl. D'Ignazio/Klein 133).
Wie stark das Wissen über diese Klassifikationssysteme internalisiert, also wie sehr dieses Wissen in den Körper eingeschrieben sein kann, merken wir selbst vor allem dann, wenn es zu „Verstößen” gegen die Regeln der Klassifikationssysteme kommt. Wir merken es an uns selbst, wenn wir beispielsweise gerne gegen eine Regel verstoßen würden, aber „nicht können”, wir merken es, wenn wir darüber Lachen, wenn jemand „aus seiner Rolle fällt” (vgl. Goffman 1959), oder wir merken es, wenn es zu Gewalttaten gegen Personen kommt, die sich weigern, ihre Rolle so zu spielen, wie es für sie vorgesehen ist.
„ […] [F]ew things in life can be truly reduced to binaries, and that insisting on binary categories of data collection — with respect to gender, to sex, to their relation, or to anything else— fails to acknowledge the value of what (or who) rests in between and outside“ (D'Ignazio/Klein 2020: 274).
Binäres Denken ist durch die Ausstrahlungskraft der Klassifikationssysteme weit verbreitet. Meist handelt es sich um eine vereinfachte Konzeption zweier sich gegenüberstehender Kategorien, die der Komplexität der Wirklichkeit nicht gerecht wird. Die Binarisierung hilft zum einen der Identitätsfindung des Einen durch die Abgrenzung zum Anderen. Hierbei werden den beiden Kategorien jeweils gegensätzliche Merkmale zugeschrieben. Im kolonialen Kontext beispielsweie zivilisiert/barbarisch, entwickelt/unterentwickelt, modern/rückständig, im Kontext der Konstruktion der Geschlechter finden sich binäre Merkmalszuschreibungen wie stark/schwach oder rational/emotional. Die binäre Konstruktion der beiden Kategorien, erleichtert die Abwertung eine der entstandenen Kategorien durch Othering und negative Merkmalszuschreibungen, was zu einer Hierarchisierung führt. (Eine Hierarchie kann jedoch auch ohne die Binarität vorhanden sein (vgl. D'Ignazio/Klein 2020: 100). Zudem dient die Binarisierung dazu, „das Andere“ so sehr Abzugrenzen, dass quasi jede Überschneidung ausgeschlossen ist. Somit sind Frauen beispielsweise nicht mehr die schlechteren Männer. Sie sind gar keine Männer, sondern „das Andere“. Sie denken anders, sie fühlen anders, sie reden anders. Was es heißt, zu versuchen dem binären Denken zu entkommen zeigt eindrücklich der Versuch von Amanda Montañez in ihrer Visualisierung „ Beyond XX and XY“, die Komplexität des biologischen Geschlechtes jenseits der binären Kategorisierung von „Mann“ und „Frau“ darzustellen.
Die entstehenden und angeblich wissenschaftlichen fundierten Klassifikationssysteme des 18.Jahrhunderts hatten alle einen hierarchisierenden Charakter (vgl. Grosfoguel 2010: 312). Die hierarchisierenden und ordnenden Klassifikationssysteme dienten nicht zuletzt der kapitalistischen Ausbeutung: „Die Idee der Rasse teilt die Weltbevölkerung hierarchisch in Überlegene und Unterlegene ein, und dies wird zum Organisationsprinzip für die internationale Arbeitsteilung und für das globale patriarchalische System“ (Grosfoguel 2010: 316). Auch die Mann/Frau-Hierarchisierung erfüllte diesen Zweck. So beschreibt Jaeggi, dass der Sexismus unter anderem die unbezahlte Reproduktionsarbeit der Frauen rechtfertigte (Fraser/Jaeggi 2020: 293). Darüber hinaus wirken die Hierarchisierungen Klassifikationen jedoch durch Werteurteile, Abwertungs- und Aufwertungsmechanismen, von Menschen mal mehr, mal weniger bewusst, in allen Lebensbereichen und gesellschaftlichen Strukturen. Dass sich hierbei die verschiedenen Klassifizierungssysteme in vielen Individuen überschneiden und zu spezifischen und oftmals verstärkten Diskriminierungs- und Abwertungserfahrungen führen, hat Kimberly Crenshaw anhand ihres Konzeptes der Intersektionalität herausgearbeitet:
„Contemporary feminist and antiracist discourses have failed to consider intersectional identities such as women of color. Focusing on two dimensions of male violence against women - battering and rape - I consider how the experiences of women of color are frequently the product of intersecting patterns of racism and sexism, and how these experiences tend not to be represented within the discourses of either feminism or antiracism. Because of their intersectional identity as both women and of color within discourses that are shaped to respond to one or the other, women of color are marginalized within both“ (Crenshaw 1991: 1242 ff.).
Die Hierarchisierungen der Klassifikationskategorien sind in der Konsequenz also zentral dafür verantwortlich, wer in vielfältiger Weise systematisch Nachteile bzw. Vorteile erfährt.
Kategorien werden in der Regel nicht aus sich heraus geschaffen, sondern im Vergleich und durch Disktinktion „zum Anderen“. „Der Mann ist stark“ würde für sich genommen keinen Sinn ergeben. Erst durch „Die schwache Frau“, gibt es auch „den starken Mann“. Das Denken in Differenzen beschrieben unter anderem feministische Theoretiker*innen. So beschrieb Simone de Beauvoir beispielsweise „Alterität“ als „eine grundlegende Kategorie des menschlichen Denkens“ (Beauvoir 2005 [1949]: 13). Aber auch in den postkolonialen Theorien wurde das Konzept des Othering, zu deutsch oft übersetzt mit Veranderung, herausgearbeitet (vgl. Said 1978). Die Problematik liegt bei diesem Vorgehen darin, dass diese Abgrenzung durch Erzeugung von Differenz meist aus einer Machtposition und mit einer Abwertung „des Anderen“ und mit einer Aufwertung „des Eigenen“ einhergeht. Eines der klassischen Beispiele des Othering hat Edward Said herausgerbeitet und bezieht sich auf die Unterscheidung zwischen Okzident und Orient (vgl. Said 1978). Ordnungsmuster, die „das Eigene“ gegenüber „dem Fremden“ definieren existieren immer und überall, wie Boatcă am Beispiel von Mental maps zeigt (vgl. Boatcă 2010). Die Frage ist jedoch, ob dieses Ordnungsdenken mit einem umfassenden Wahrheitsanspruch und Definitionsmacht einhergeht. Im Falle von Mental maps werden diese zu Imperial maps (vgl. ebd.) und „die Anderen“ erfahren durch die Machtasymmetrien Nachteile. Hilfreich bei der Analyse solcher Mechanismen ist die Analyse von „markierten“ und „unmarkierten“ Kategorien, wie beispielsweise Boatcă aufzeigt:
„Scholarship on Orientalism, racism, and critical whiteness has long taught us that prevailing norms function as unmarked categories […] that may remain unqualified, unstressed, and at times altogether unnamed. Their negative or deviant counterpart however requires explicit naming: the label of ‘Europe’ always includes both Western Europe and its white populations, but Eastern Europe needs to be named in full in order to be included in the overarching term“ (Boatcă 2020: 390).
In der Regel kann die machtvolle Position somit als unmarkierte Kategorie erkannt werden, wie beispielsweise „Deutsche“ oder „Europa“. Wenn wir „Deutsche“ hören oder sagen, assoziieren wir i.d.R. „weiße Deutsche“. Meinen wir „Schwarze Deutsche“, dann sagen wir dies explizit. Wenn wir „Europa“ sagen, meinen wir oft Mitteleuropa, gelegentlich auch ganz Europa. Wollen wir jedoch vom Osten Europas sprechen, müssen wir explizit „Osteuropa“ benennen (vgl. Boatcă 2017: 471).
Ein Grund für die Wirkmächtigkeit und Beharrlichkeit der Klassifizierungssysteme liegt in ihrer Fähigkeit der Essentialisierung: „It’s just that once a system is in place, it becomes naturalized as ‚the way things are‘” (D'Ignazio/Klein 2020: 104). Diese Essentialisierung verschleiert den Konstruktionscharakter der Klassifizierungssysteme. Um diesen zu erkennen müssen die Klassifikatiosnsysteme global und historisch kontextualisiert werden, was oft nicht geschieht. Somit muss der Konstruktionscharakter mühsam analysiert werden, wie dies beispielsweise Butler für das Klassifikationssystem Geschlecht getan hat (vgl. Butler 1990). Und selbst bei dieser Erkenntnis bleibt ein gesellschaftliches Ringen um den Status der Klassifizierungssysteme, da der Konstruktionscharakter nicht für alle plausibel scheint, oder der Wille zur Anerkennung fehlt. Die oftmals fehlende Kontextualisierung und Reflexion der Klassifikationssysteme führt jedoch oft zu unbeabsichtigten Diskriminierungen, wie D'Ignazio und Klein dies für das Design von Hosentaschen aufzeigen: „Now, the designers of any particular pair of women’s jeans are almost certainly not thinking: ‚Let’s oppress women by making their pockets too small.‘ They are probably only thinking about what looks nice. But what looks nice has a history too” (D'Ignazio/Klein 2020: 108).
Den Klassifikationssystemen liegt inne, dass sie einen Standard festlegen. Da die Klassifikationssysteme von weißen, christlichen, heterosexuellen, reichen, nicht-behinderten, erwachsenen Männern des Globalen Nordens implementiert wurden, ist dieser Standard ein weißer, christlicher, heterosexueller, reicher, nicht-behinderten, erwachsener Mann des globalen Nordens. Anhand dieser Norm werden Standards definiert. Nach der Politikwissenschaftlerin Lorena Jaune-Palasí bedeute jedoch Standards zu definieren, Minderheiten Gewalt anzutun: „Es gibt immer wieder Menschen, die dazwischen geraten, zwischen die Kategorien. Und es ist Aufgabe von Demokratien, aber auch gerade in der Entwicklung solcher Technologien, ständig darüber nachzudenken, wie man das, was dazwischen ist, inklusiv einbindet“ (Jaume-Palasí 2019).
Aber auch auf einer abstrakteren Ebene führt die Standardisierung zu Ausschlüssen und Abwertung von jenen, die nicht der Norm entsprechen. Für Foucault dient dieser Drang zur Normierung der Machtausübung in folgender Weise: „An die Stelle der Male, die Standeszugehörigkeiten und Privilegien sichtbar machen, tritt mehr und mehr ein System von Normalitätsgraden, welche die Zugehörigkeit zu einem homogenen Gesellschaftskörper anzeigen, dabei jedoch klassifizierend, hierarchisierend und rangordnend wirken“ (Foucault 1994: 237).
Klassifikationssysteme sind zwangsweise Vereinfachungen der Wirklichkeit und werden der Pluralität der Gesellschaft und ihrer Individuen nicht gerecht. Eines der Hauptprobleme der bisher beschriebenen Klassifikationssysteme, wie Geschlecht oder Rasse, ist ihre Wirksamkeit in Bezug auf soziale Konsequenzen. So setzen sich Individuen aus unzähligen Merkmalen zusammen, die darüber hinaus auch nicht statisch sind sondern sich im Laufe der Zeit auch verändern können. Gerade die Klassifikationssysteme, welche der Aufrechterhaltung der Matrix of Domination dienen wirken besonders reduzierend. Wird beispielsweise eine Person als „Frau“, als „Schwarz“ oder „Homosexuell“ klassifiziert, geschehen viele Vorannahmen und Erklärungsmuster über diese eine, oder auch mehrere, Kategorisierungen. Während es dann heißt: „Frauen sind…“, würde kaum eine Person auf die Idee kommen zu sagen: „Menschen mit langen Zehen sind…“ und dabei alle anderen Merkmale der Person außer acht lassen4). D'Ignazio und Klein beschreiben in Bezug auf die Vielfältigkeit einzelner Personen und die gleichzeitige Notwendigkeit der Reduktion dieser Personen beim Ausfüllen eines Fragebogens ihre Reflektion folgendermaßen:
„Were these categories reductive? Of course they were. No person can fit their whole self into a form, regardless of how many blank text fields are provided. Did the form reflect the true nature of each person’s intersecting identities and how those identities impact that person’s being in the world? The answer to this question is also unsurprising: of course it did not“ (D'Ignazio/Klein 2020 : 122).
Zu den Konsequenzen all dieser Mechanismen der hegemonialen Wissensproduktion gehört unter anderem die Unterdrückung oder gar Eliminierung von Wissensformen, Perspektiven, Lebensrealitäten und Menschen aus dem dominanten Bewusstsein mit vielfältigen negativen Folgen für die Betroffenen: „What is counted – like being a man or a woman – often becomes the basis for policymaking and resource allocation. By contrast, what is not counted – like being nonbinary – becomes invisible (although there are also good reasons for being invisible in some contexts […]“ (D'Ignazio/Klein 2020: 97). In der Folge heißt das, dass die Wahrscheinlichkeit für gesellschaftliche Nachteile für jene, die exkludiert, abgewerted und verandert werden steigen und für diejenigen, die der aufgewerteten Norm entsprechen, die Wahrscheinlichkeit für gesellschaftliche Vorteile steigen (vgl. D'Ignazio/Klein 2020: 104). Das kann im konkreten um Zugehörigkeitsgefühle, physische und psychische Unversehrtheit, Zugang zu materiellen Ressourcen und gesellschaftliche Teilhabe gehen. Eine hierarchisierende, essentialisierende, binäre und standardisierte Klassifikation macht somit Diskriminierung in all ihren Facetten wahrscheinlicher.
Beispiele
Den abwertenden Klassifizierungen und deren vielfältigen Folgeerscheinungen wird von den betroffenen Personen oft entgegengetreten. Immer wieder kommt es zu Kämpfen um Anerkennung und gegen die eigene Abwertung und darum, sich selbstbestimmt identifizieren zu können wie beispielsweise durch Selbstbezeichnungen wie Bi_POC geschehen. Hierzu gehören auch die Aneignung und Aufwertung von ehemals abwertenden Begrifflichkeiten wie slut, gay/schwul oder queer. Dass diese Kämpfe mit einer paradoxen Affirmation und der Gefahr einer Essentialisierung der Kategorien einhergehen, haben unter anderem Jens Kastner und Lea Suesmichel beschrieben (Vgl. Kastner/Suesmichel 2019: 11). Gleichzeitig betonen sie aber auch, dass es nahe liege, „[w]enn […] Diskriminierung und Unterdrückung immer und ausschließlich kollektiv funktionieren, […] sich auch kollektiv dagegen zur Wehr zu setzen“ (ebd.). Ihren Ursprung haben diese Kämpfe unter anderem in der Erkenntnis, dass die Gleichheits- und Freiheitsverspechen der modernen Nationalstaaten und des Globalen Nordens nicht erfüllt wurden (vgl. Strauß 2019).
„An intersectional feminist approach to counting insists that we examine and, if necessary, rethink the assumptions and beliefs behind our classification infrastructure, as well as consistently probe who is doing the counting and whose interests are served. Counting and measuring do not always have to be tools of oppression. We can also use them to hold power accountable, to reclaim overlooked histories, and to build collectivity and solidarity. When we count within our own communities, with consideration and care, we can work to rebalance unequal distributions of power“ (D'Ignazio/Klein 2020: 123).
Aus einer herrschaftskritischen Perspektive sind beim Umgang mit Daten somit vielfältige Fragestellungen zu berücksichtigen. Angefangen bei Fragen zur Erhebung (Wer erhebt, wie wird erhoben, mit welcher Motivation wird erhoben? Wie werden die Forschungsteilnehmenden in die Forschung mit einbezogen? Wird eine partizipative Forschung ermöglicht?), Fragen der Verarbeitung (wie wird mit den Daten Umgegangen?), Fragen der Transparenz und Reflexion (was wird (nicht) transparent gemacht und reflektiert?) oder auch Fragen der Kommunikation, Visualisierung und Zugänglichkeit (Open Access) der Daten.
Bei eigentlich allen Fragestellungen können hegemoniale Klassifizierungssyteme wie Rasse oder Geschlecht im Kontext von Herrschaft, Kolonialität und kapitalistischem Gesellschaftssystem mit beachtet werden. Denn alle Teilnehmenden des Prozesses sind selbst auf vielfältige Weise verwickelt in Herrschaftsstrukturen und Klassifikationssysteme, was ebenso Gegenstand der Analyse sein sollte.
Zunächst sollten sich Forschende (hier sind Wissenschaftler*innen, Künstler*innen, Aktivist*innen und alle anderen gemeint, die sich systematisch mit Daten beschäftigen), ihre Position im Forschungskontext und ihr Forschungsinteresse reflektieren. Wem sollen die Forschungsergebnisse zugute kommen? Gibt es Machtasymmetrien? Der gesamte Forschungsprozess sollte auf Machtfragen hin reflektiert werden. D'Ignazio und Klein machen in diesem Kontext auf den Privilege Hazard aufmerksam. Sie meinen hiermit, dass es für Personen, die selbst von den bestehenden Strukturen profitieren, besonders schwierig ist, beziehungsweise besonderer Anstrengung bedarf, diese zu erkennen (vgl. D'Ignazio/Klein 2020: 8). Diese Unfähigkeit des Erkennens ist ihrer Ansicht nach oft keine Absicht, sondern hängt mit „[…] the ignorance of being on top“ (ebd.: 28) zusammen. Aus der Erkenntnis um den Privilege hazard sollten unter anderem folgende Überlegungen angestellt werden: Welche Fragen werden überhaupt gestellt? Welche werden nicht gestellt? Welche Themen werden als relevant betrachtet? Welche nicht? Gerade deshalb ist die Reflexion über die eigene Positionierung essentiell, aber auch diese hat ihre Grenzen. D'Ignazio und Klein beschreiben die Problematik dadurch, dass sich die Konzeption der Gesellschaft an den Normen und Standards einer dominanten Bevölkerungsgruppe orientiert (weiße, gebildete, christliche, heterosexuelle, nicht-behinderte, wohlhabende, erwachsene Männer aus dem globalen Norden). Wo diesen Normen und Standards nicht entsprechende Menschen anecken, ist für der Norm entsprechenden Personen schwer zu erfassen (vgl. ebd.: 29). Es fehlt am Erfahrungswissen, das betroffene Personen haben. Zu betonen ist jedoch, dass auch kein Automatismus besteht, durch eigene spezifisch Diskriminierungserfahrungen, verständnisvoll für die Erfahrungen anderer Formen von Unterdrückung zu sein (vgl. Meulenbelt 1993: 271). Die Fragen nach den Herrschaftsverhältnissen im Forschungskontext sind essenziell für die Klassifizierungen und Quantifizierungen in der Forschung. Es sollte vermieden werden, Standards und Normen, beispielsweise in den Fragestellungen, zu reproduzieren, an denen betroffene Personen gezeigt bekommen, sie würden diesen nicht entsprechen und hierdurch unsichtbar gemacht und ausgegrenzt werden. Fragen über „ […] consent, as well as of personal safety, cultural dignity, and historical context“ (D'Ignazio/Klein 2020: 115) sollten Teil des Forschungsprozesses sein. Ein äußerst produktiver Forschungprozess kann unter anderem dadurch entstehen, wenn Personen(gruppen) selbst zu den Themen Daten erheben, die sie in ihrem Leben betreffen (vgl. ebd.: 120).
Klassifikationssysteme haben eine Geschichte und sind in spezifischen gesellschaftlichen Kontexten entstanden. Es handelt sich somit um keine natürlichen Kategorien und sie müssen bezüglich ihrer Verstrickung in Herrschaftsverhältnisse hinterfragt werden. Konkret kann das heißen: Wie gehen wir mit Kategorien in der Forschung um? Welche Kategorien sind wirklich notwendig für die Forschungsfrage? Welche nicht? Gibt es für alle Menschen eine passende Kategorie? Welche Kategorien fehlen eventuell? Das Dilemma der Kategorien beschreiben D'Ignazio und Klein am Beispiel des Klassifikationssystemes Geschlecht:
„The ethical complexity of whether to count gender, when to count gender, and how to count gender illuminates the complexity of acts of classification against the backdrop of structural oppression. Because when it comes to data collection, and the categories that structure it, there are power imbalances up and down, side to side, and everywhere in between. Because of these asymmetries, data scientists must proceed with awareness of context (discussed further in chapter 6) and an analysis of power in the collection environment (discussed further in chapter 1) to determine whose interests are being served by being counted, and who runs the risk of being harmed“ (D'Ignazio/Klein 2020: 111).
Bei der Datenerhebung sollten Menschen nicht gedrängt werden, sich selbst zu klassifizieren und die Option sollte gegeben werden, keine Auskunft zu geben (vgl. D'Ignazio/Klein 2020: 118). Es kann sein, dass Personen keine Kategorie zusagt, sie sich nicht festlegen wollen, oder es selbst nicht so genau wissen. Auch ein Kontinuum kann je nach Thematik eine Möglichkeit sein, um die binäre Konstruktion von Klasssifikationssystemen aufzubrechen. In manchen Fällen kann es aber auch gerade sinnvoll sein, die binäre Kategorisierung beizubehalten, um Personen nicht in Schwierigkeiten zu bringen, wie d'Ignazio und Klein betonen (vgl. ebd.: 110f). Weiterhin schlagen die Autorinnen vor, beispielsweise mit Oranisationen oder Communities zusammenzuarbeiten (vgl. ebd.: 109).
Paradox of Exposure: Die Frage, welche Kategorien Menschen verletzen oder in Schwierigkeiten bringen können, sollte immer gestellt werden. In Bezug auf diese Frage haben D'Ignazio und Klein das Paradox of Exposure beschrieben. Hiermit meinen sie, dass marginalisierte Gruppen einerseits davon profitieren können, wenn sie sichtbar gemacht werden bzw. sich selbst sichtbar machen, sie aber gerade durch diese Sichtbarkeit erneuter Gewalt ausgesetzt sein können (vgl. D'Ignazio/Klein 2020: 115). Die Folgen der Kategorisierungen können sicher nicht immer vollständig abgesehen werden, aber potenziell aufkommende Schwierigkeiten sollten grundsätzlich reflektiert und bedacht werden. Hilfreich kann es sein, mit den entsprechenden Communities in partizipativ zusammenzuarbeiten und sich auszutauschen.
Um-die-Ecke-Kategorien: Eine weitere Falle bei Kategorien sind „Um-die-Ecke-Kategorien“, die mit gesellschaftlichen Wert- und Standardvorstellungen Vorannahmen über bestimmte Kategorien machen. Es ist jedoch sinnvoll und zielführender, direkt nach den Informationen zu Fragen, die gewünscht sind. Beispielsweise fragte mich meine Frauenärztin* regelmäßig, ob ich einen Freund hätte, obwohl diese Frage wohl irrelevant ist. Ich kann nur Vermutungen anstellen, welche Information meine Ärztin* wirklich wollte. Aber es wäre wohl angenehmer für mich und zielführender für sie* gewesen, hätte sie* direkt nach dieser Information gefragt.
Beispiel der Kategorie Geschlecht in medizinischen Fragen:
Gerade im medizinischen Kontext kann es in Bezug auf Geschlecht herausfordernd sein, den existierenden körperlichen Unterschieden zwischen Menschen gerecht zu werden, ihnen somit eine geeignete medizinische Behandlung zukommen zu lassen und gleichzeitig keine diskriminierenden binären und ideologiebehafteten Klassifizierungssysteme zu reproduzieren. Die Herausforderung besteht darin, die Kategorien so zu wählen, dass sie möglichst ideologiefrei den bestehenden körperlichen Unterschieden zwischen menschlichen Körpern Rechnung tragen. Bisher wurde meist einfach der Idealtyp „Mann“ als Norm und Grundlage für medizinische Behandlungen gebraucht, was zum so genannten Gender Health Care Gap führte. Beispielsweise, um die Menge von Medikamentengaben zu bestimmen. Als Fortschritt wurde es dann gesehen, dass es auch Standardwerte für „Frauen“ gab, was jedoch nach wie vor der binären Geschlechterklassifizierung entsprach. Spätestens nach der Betrachtung der Komplexität des biologischen Geschlechtes von Amanda Montañez in ihrem Projekt „Beyond XX and XY“ wird deutlich, dass medizinische Forschung sich fragen sollte, wann und ob die binären Geschlechterkategorien hilfreiche Kategorien für medizinische Fragen sind. Es müsste beispielsweise geschaut werden, welche körperlichen Gegebenheiten tatsächlich ausschlaggebend für die Menge der Medikamentengabe sind. Je nach Medikament könnten dies (ich vermute nur!) Kategorien wie Alter, Gewicht oder Hormone sein. Wahrscheinlich wäre diese Art der Datenerhebung mit einem Mehraufwand verbunden. Aber auch mit einer besseren Behandlung für all jene, die sich nicht in den „Normbereichen“ befinden.
Aktuell ist der Wunsch nach Diversität oft zu vernehmen. Auch, wenn immer wieder Effizienz und Leistungssteigerung Ziel dieses Appelle sind, besteht doch auch gelegentlich die Motivation der Überwindung der Herrschaftsverhältnisse. Denn wie der Privilege Hazard von D'Ignazio und Klein zeigt, ist es für nicht von Diskriminierung betroffene Personen, aufgrund des fehlenden Erfahrungswissens oft gar nicht möglich die bestehenden Machtsrukturen umfänglich zu erkennen (vgl. D'Ignazio/Klein 2020: 29). Doch wie wird man divers? Dass dies in der Praxis gar nicht so einfach ist, beschreibt auch Isabel Carter, die dafür zuständig war, die Referenzen in Data Feminism mit den von den Autorinnen selbst gestecken Quoten zu überprüfen: „We tried to confirm these categorizations through online research, but without the self-identification of the referenced individuals, these categories are obviously subject to further inquiry“ (Carter 2020: 224). Um innerhalb der aktuellen Strukturen der Matrix of Domination, die Diversität verhindert, diese zu ermöglichen, bedarf es Klassifizierungen. Probleme hierbei ergeben sich unter anderem erstens dadurch, dass sich die betroffenen Personen ihrer Identität und ihrer zugeschriebenen Klassifikationen und den daraus folgenden Diskriminierungserfahrungen bewusst sein müssen. Zweitens muss die Bereitschaft bestehen die eigene Identifikation auch zu öffentlich zu kommunizieren, was aus nachvollziehbaren Gründen nicht immer der Fall ist. Für manche ist es beispielsweise eine private Angelegenheit oder die Klassifizierung ist mit solchen Tabus belegt, dass es großer Überwindung bedarf, offen darüber zu sprechen, was darüber hinaus mit ernsthaften Gefahren verbunden sein kann. Weiterhin ergeben sich dadurch Probleme, dass manche Merkmale aufgrund derer Menschen diskriminiert werden sichtbarer sind als andere. Das beeinflusst zum Einen in spezifischer Weise die Diskriminierungserfahrungen der Betroffenen. Weiterhin können diese Unterschiede auch auf Forschende und deren Interpretationen, also eigenen Klassifizierungen, der Anderen Auswirkungen haben. Was für ein aufwendiger Prozess bei der Umsetzung des Anspruches von Diversität und Intersektionalität herauskommen kann, beschreiben D'Ignazio und Klein im Bezug auf den zweiten Make the Breast Pump not suck Hackathon: „When we arrived at the hackathon the second time around, it was the result of over a year of relationship building and identity work on the part of the organizers with our community partners“ (D'Ignazio/Klein 2020: 121). Sie beschreiben zudem den Zielkonflikt, dass sie Klassifizierungen vornehmen mussten, um ihrem Ziel diverser zu werden näher zu kommen und gleichzeitig durch diese Klassifizierungen die Individuen dazu drängten, sich auf bestimmte Kategorien zu reduzieren (vgl. ebd.: 121f).
„The process of converting qualitative experience into data can be empowering, and even has the potential to be healing […]. When thoughtfully collected, quantitative data can be empowering too. So many issues of structural inequality are problems of scale, and they can seem anecdotal until they are viewed as a whole“ (D'Ignazio/Klein 2020: 98).
Viele der Probleme, die sich im Kontext von Datenerhebungen und Klassifizierungen aus der Matrix of Domination ergeben, können dadurch abgeschwächt werden, dass betroffene Personengruppenn diese Daten selbst erheben. Jedoch bedeutet dies nicht das Ende aller Problematiken im Kontex von Macht und Datenerhebung, denn nur weil Menschen ähnliche Diskriminierungserfahrungen machen bilden sie noch lange keine homogene Gruppe und es kann dennoch zu Verletzungen, Machtasymmetrien, Ignoranz und Unverständnis kommen. Dennoch haben Datenerhebungen aus der betroffenen Gruppe heraus das Potenzial, die betroffenen Menschen zu empowern, da sie eine Plattform bieten, das Erfahrungswissen sichtbar zu machen und anzuerkennen (vgl. D'Ignazio/Klein 2020: 120). Ein Beispiel für solch eine Datenerhebung ist der seit 2018 jährlich erscheinende Roma/Sinti Diskriminierungsbericht in Freiburg i.Br., der durch den Roma Büro Freiburg e.V. in Kooperation mit dem Sinti Verein Freiburg e.V. herausgegeben wird. Innerhalb solcher Datenerhebungen kann es sinnvoll oder gar notwendig sein, die Klassifikationssysteme, die überhaupt erst die Voraussetzung für Diskriminierung sind, zu verwenden, um deren Auswirkungen sichtbar zu machen. So haben Christine Mann Darden und Gloria Champine anhand einer Statistik darauf aufmerksam machen können, dass in ihrem Unternehmen Frauen mit dem gleichen Abschluss wie Männer schlechtere Stellen bekommen (vgl. D'Ignazio/Klein 2020: 6). Allerdings können dennoch selbstbestimmte Kategorien und Selbstbezeichnungen verwendet werden, die sich hauptsächlich an den Diskriminierungserfarungen und nicht an den zugeschriebenen Kategorien orientieren. Und betroffene Personen können, wie D'Ignazio und Klein betonen, am besten daran arbeiten, wie die Kategorien und Klassifizierungen zu verbessern oder gar abzuschaffen sind (vgl. D'Ignazio/Klein 2020: 100).
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