Die beiden Autorinnen Catherine D`Ignazio und Lauren F. Klein verbinden in ihrem Buch „Data Feminism“ feministische Perspektiven und den wissenschaftlichen Umgang mit Daten. Der leitende Grundgedanke des Buches ist eine feministische Perspektive, die darauf abzielt, Sexismus aber auch andere Unterdrückungsformen aufzuzeigen, zu kritisieren und zu bekämpfen. Die Autorinnen weisen explizit darauf hin, dass sie mit einem weit gefassten Feminismusbegriff arbeiten, der diverse Machtstrukturen und Diskriminierungsformen berücksichtigt. Dementsprechend ordnen sich D`Ignazio und Klein auch dem intersektionalen Feminismus zu. (vgl. D`Ignazio, Klein 2020)
Intersektionalität betrachtet verschiedene Diskriminierungsformen und -prozesse und zeigt, wie sich diese überschneiden oder verbinden. Kimberlé Crenshaw, die das Konzept der Intersektionalität maßgeblich prägte, sagt:
”Intersectionality is a lens through which you can see where power comes and collides, where it interlocks and intersects. It’s not simply that there’s a race problem here, a gender problem here, and a class or LBGTQ problem there. Many times that framework erases what happens to people who are subject to all of these things.” (Columbia Law School 2017).1)
Das Interview, aus dem dieses Zitat stammt, gibt einen kurzen und leicht verständlichen Einblick in Intersektionalität.
Ziel ist also, sich überlappende Machstrukturen, Unterdrückungsformen und Ungleichheiten aufzuzeigen, in ihrer Kombination zu analysieren und zu bekämpfen. D`Iganzio und Klein integrieren Daten und den Umgang mit Daten in diesen feministischen Befreiungsprozess. Data Feminism beschäftigt sich mit den Chancen, die Daten bieten können, aber auch mit Problemen, die mit der Verwendung von Daten einhergehen. Einerseits wird analysiert, welche Unterdrückungsmechanismen in der wissenschaftlichen Datenarbeit eingelassen sind; hierbei stehen Diskriminierungserfahrungen von Betroffenen im Fokus. Andererseits wird der Umgang mit Daten aber auch dazu genutzt, ungleiche Machtpositionen zu bekämpfen und zu reduzieren. Data Feminism umfasst den gesamten Prozess der Datenarbeit, von der Erhebung, über den Auswertungsprozess bis hin zur Darstellung von Ergebnissen (vgl. D`Ignazio, Klein 2020).
D`Ignazio und Klein strukturieren ihre Erläuterungen bezüglich Data Feminism anhand von sieben zentralen Prinzipien, diese sind: examine power, challenge power, elevate emotion and embodiment, rethink binaries and hierarchies, embrace pluralism, consider context und make labor visible. (vgl. D`Ignazio, Klein 2020:17 f.)
Dieser Wiki-Beitrag beschäftigt sich mit dem fünften Prinzip, embrace pluralism.
Die beiden Autorinnen beschreiben dieses Prinzip folgendermaßen:
“Data Feminism insist that the most complete knowledge comes from synthesizing multiple perspectives, with priority given to local, Indigenous, and experiential ways of knowing.” (D`Iganzio, Klein 2020:18)2)
Daten werden mit Ordnung, Klarheit, Strukturiertheit und ähnlichen Attributen verknüpft. Dementsprechend verwenden Datenwissenschaftler:innen einen nicht unwesentlichen Teil ihrer Zeit darauf, Daten zu komprimieren, zu bereinigen und ein „klares“ Bild zu erschaffen. Die Autorinnen zeigen auf, welche Risiken mit diesem Bestreben verbunden sind und dass komprimierte, scheinbar „ordentliche“ Daten nicht mehr, sondern gegebenenfalls sogar weniger informativ sind (vgl. D`Ignazio, Klein 2020:74 ff.).
Die Autorinnen zeigen in diesem Kapitel auf, warum pluralistische Denkweisen im Umgang mit Daten notwendig sind und welche Probleme diesbezüglich bisher in der Datenwissenschaft bestehen:
Nachfolgend werden einige wichtige Begriffe und Konzepte des Kapitels näher vorgestellt:
“…once the data scientists involved in a project are not from within the community, once the place of analysis changes, once the scale of the project shifts, or once a single dataset needs to be combined with others—then we have strangers in the dataset.” (D`Ignazio, Klein 2020: 133)5)
Das Konzept der Fremden im Datensatz ist eng mit den oben beschriebenen Kritikpunkten verbunden. Fremde im Datensatz können unterschiedliche Personen sein, beispielsweise wenn Datenerhebung und Auswertung getrennt voneinander stattfinden. Herausforderungen können auch dadurch entstehen, dass zunehmend große Mengen an Daten frei verfügbar sind. Hier besteht die Schwierigkeit, dass die Personen, die die Daten nutzen, keinen oder nur einen unzureichenden Einblick in den Datenkontext haben. Bisher besteht zu wenig Sensibilität dafür, dass unzureichende Kenntnisse bezüglich des Erhebungsprozesses und Kontexts dazu führen können, dass dominante Sichtweise weiter gestärkt und marginalisierte Sichtweise weiter unterdrückt werden. Zu beachten ist, dass Fremde im Datensatz nicht automatisch etwas Schlechtes sind. Vielmehr sollten die Herausforderungen und Risiken die damit einhergehen beachten und reflektiert werden (vgl. D`Ignazio, Klein 2020: 133).
“As we’ve already started to suggest, people who work with data are alternately called unicorns (because they are rare and have special skills), wizards (because they can do magic), ninjas (because they execute complicated, expert moves), rock stars (because they outperform others), and janitors (because they clean messy data)” (D`Ignazio, Klein 2020: 133) 6)
Personen, die in die wissenschaftliche Nutzung von Daten involviert sind, haben unterschiedliche Bezeichnungen, von Einhorn bis Ninja. All diese Bezeichnungen haben gemein, dass sie suggerieren, Datenwissenschaftler:innen seien Personen mit herausragenden Fähigkeiten und erfüllen Aufgaben, die nur wenigen Personen vorbehalten sind. Diese Auffassung verschleiert die Tatsache, dass die Arbeit mit Daten ein gemeinschaftlicher Prozess ist, in den viele unterschiedlicher Personen eingebunden sind. Auffällig ist auch, dass die verwendeten Bezeichnungen tendenziell mit männlichen Personen assoziiert werden. Dies verweist auf die vorherrschende Annahme, dass Datenarbeit mit Rationalität und mathematisch-analytischen Fähigkeiten verbunden wird, was klassischerweise männlichen Personen zugeschrieben wird (vgl. D`Ignazio, Klein 2020: 134).
“Co-liberation is grounded in the belief that enduring and asymmetrical power relations among social groups serve as the root cause of many societal problems. Rather than framing acts of technical service as benevolence or charity, the goal of co-liberation requires that those technical workers acknowledge that they are engaged in a struggle for their own liberation as well, even and especially when they are members of dominant groups.” (D`Ignazio, Klein 2020: 141) 7)
D`Ignazio und Klein sprechen sich dafür aus, dass die Absicht „Gutes“ mit Daten zu tun (data for good) weiterentwickelt werden muss, hin zu einem Befreiungsprozess, den sie als co-liberation bezeichnen. Data for good muss sich mit der Frage befassen, was als „das Gute“ definiert wird und von wem dieser Definitionsprozess bestimmt wird. Die Absicht zu „helfen“ und „Gutes“ zu tun geht nicht automatisch damit einher, Machtstrukturen zu verändern, sondern kann sogar zu deren Erhaltung beitragen. Problematisch ist beispielweise, wenn Perspektiven von Betroffenen nicht vollständig in den Datenprozess einfließen, weil hegemoniale Arbeitsweisen oder Interpretationen die Datenarbeit prägen.
Ein Gegenentwurf dazu ist data for co-liberation. Dieses Konzept zielt darauf ab, dass marginalisierte Perspektiven zentraler Bestandteil des gesamten Datenprozesses werden. Ungleiche Machtpositionen sind unter anderem ein wesentlicher Grund für Probleme sozialer Ungleichheit. Durch die aktive Kooperation mit minorisierten Gruppen wird angestrebt, diese Positionsunterschiede zu reflektieren und zu reduzieren. Ziel von data for co-liberation ist das Zusammenführen diverser Perspektiven und Erfahrungen, was zu einem Wissenstransfer zwischen verschiedenen dominierenden und minorisierten Gruppen führt. Des Weiteren wird durch die aktive Kooperation und der Datenarbeit als Gemeinschaftsprojekt, Solidarität und Zusammenhalt gestärkt. Bestandteil dessen ist auch, darauf zu achten, dass die Communitys über die Ressourcen und Fähigkeiten verfügen, die Datenprojekte selbstbestimmt durchzuführen und zu verwalten.
Ein Beispiel sind große Infographiken in Form von Wandbemalungen im öffentlichen Raum. Die Themenfindung und die Umsetzung der Graphiken geschieht innerhalb der betroffenen Communitys.
(vgl. D`Ignazio, Klein 2020: 137 ff.).
D`Ignazio und Klein fordern die Integration pluraler Sichtweisen in die Datenwissenschaft. Sie verweisen darauf, dass dafür unter anderem auch das Problem der epistemischen Gewalt bekämpft werden muss (vgl. D`Ignazio, Klein 2020: 133).
Der Begriff epistemische Gewalt verweist auf Gewaltprozesse, die in Zusammenhang mit Wissensproduktion und Wissenschaft stehen. Obwohl Wissenschaft allgemein meist mit Gewaltlosigkeit assoziiert wird, ist dies nicht der Fall. Die Bezeichnung epistemische Gewalt ist hilfreich, um diese oft unerkannten Gewaltprozesse sichtbar zu machen (vgl. Mickan 2018: 42).
Wissenschaft wird nicht nur Gewaltfreiheit zugeschrieben, sondern auch als Möglichkeit gesehen, Gewalt zu reduzieren. Brunner weist darauf hin, dass diese (scheinbare) Trennung von Gewalt und Wissenschaft kritisch zu sehen ist (vgl. Brunner 2020: 13). Der Begriff epistemische Gewalt umfasst Gewaltprozesse, die bei der Entstehung, Verbreitung und Verwendung von Wissen und Wissenschaft zum Tragen kommen; so ist epistemische Gewalt tief in das Wissen selbst eingeschrieben. Ein Beispiel dafür ist die starke Dominanz eurozentrischer Sichtweisen und Deutungsmuster, die zur Unterdrückung anderer Perspektiven führt (vgl. Brunner 2020: 14).
Der Begriff wird aktuell besonders in dekolonialen, aber auch feministischen Diskursen verwendet (vgl. Brunner 2020: 9). Die dekoloniale Denkerin Gayatri Chakravorty Spivak trug unter anderem mit ihrem Essay „Can the Subaltern Speak?“ wesentlich zur Sensibilität für epistemische Gewalt bei. So beschreibt Spivak anhand des Beispiels der Witwenverbrennung in Indien, dass Subalterne nicht sprechen können (vgl. Spivak 2016: 80). „Witwenverbrennung, in Indien Sati genannt, bezeichnet den Brauch, eine Witwe zusammen mit ihrem Ehemann auf dessen Scheiterhaufen lebendig zu verbrennen. Auch in Skandinavien, China oder Griechenland wurden Zeugnisse von Witwenverbrennungen gefunden, womit es sich geschichtlich gesehen nicht um eine ausschließlich hinduistische Praktik handelt. Es konnte nachgewiesen werden, dass dieser Brauch schon vor über tausend Jahren praktiziert wurde, worin dessen Ursprünge liegen, ist jedoch noch ungeklärt“ (Weinmann 2020). In der Diskussion um das Verbot der Witwenverbrennung zeigten sich zwei konträre Argumentationsstränge: Einerseits wurde die Witwenverbrennung als eine traditionelle Form von patriarchaler Unterdrückung gewertet. Andererseits wurde sie als ein Zeichen der weiblichen Selbstbestimmung gesehen. Spivak zeigt auf, dass zwei konträre Gruppe sich das Recht nehmen, für eine andere Gruppe zu sprechen, hier die indischen Frauen. Daraus resultiert aber, dass die Personengruppe, die tatsächlich betroffen ist, in der Diskussion um die Deutungshoheit untergeht und verschwindet, also nicht die Möglichkeit hat, zu sprechen (vgl. Spivak 2016: 80).
Spivak verbindet in diesem Beispiel sowohl dekoloniale als auch feministische Perspektiven und zeigt, wie vorherrschende Deutungsschemata dazu führen, dass andere Sichtweisen nicht gehört oder gesehen werden. Dieser Prozess lässt sich auch bei dem Auftreten von epistemischer Gewalt beobachten.
Auch Hark weist darauf hin, dass ein wesentlicher Aspekt epistemischer Gewalt ist, dass Stimmen marginalisierter Personen nicht gehört werden (können). Hegemoniale Wahrnehmungs- und Denkschemata beeinflussen, welche (feministischen) Inhalte anerkannt werden. So wird ein „Möglichkeitsraum“ strukturiert, in dem zwar beispielsweise feministische Kritik möglich ist, allerdings in bestimmten Grenzen, die von hegemonialen Denkschemata beeinflusst werden. Hark beschreibt zudem einen weiteren Aspekt epistemischer Gewalt: Damit Aussagen gehört werden, müssen diese bestimmte politische und gesellschaftliche Anforderungen erfüllen (vgl. Hark 2014: 103 f.). Daraus ergibt sich die Frage, inwiefern „Regeln des Sagbaren verändert werden [müssen], damit marginalisierte, subalterne Stimmen gehört werden können“ (Hark 2014: 103–104)
Das Buch „Epistemische Gewalt“ von Claudia Brunner beleuchtet epistemische Gewalt umfassend und multiperpsektivisch. In diesem Video werden zentrale Aspekte des Buches von der Autorin vorgestellt.
Epistemische Gewalt ist eng mit Kolonialismus und Kolonialität verbunden, sowie dekolonialen Bestrebungen, diese Auswirkungen zu bekämpfen. Einen umfassenden Einblick in verschiedene dekoloniale Themen gibt die Denkfabrik des Deutschlandradio.
Epistemische Gewalt ist, wie oben beschrieben, eng damit verbunden, dass bestimmte Stimmen und Deutungsmuster gesellschaftliche Anerkennung genießen und andere Perspektiven dagegen nicht gehört werden. Dekoloniale Denker:innen setzen sich deshalb dafür ein, dass Stimmen von Subalternen stärker gehört werden. Grosfoguel beschreibt mit Bezug auf unterschiedliche dekoloniale Denker:innen, dass alle Personen auch im wissenschaftlichen Diskurs „immer von einem bestimmten Standpunkt aus innerhalb der Machtstrukturen sprechen“ (Grosfoguel 2010: 312) Wie bereits Haraway beschrieb, ist Wissen somit immer auch auf eine spezifische Weise situiert.
Grosfoguel weist darauf hin, dass es wichtig ist, den epistemischen und den sozialen Standort zu unterscheiden. Personen die gesellschaftlich marginalisiert werden, vertreten nicht automatisch eine epistemisch subalterne Position. Die Wirkmächtigkeit des modern/kolonialen Weltsystems beruht sogar darauf, dass Personen in subalternen Positionen dazu gebracht werden, epistemisch so zu denken wie die hegemonialen Gruppen (vgl. Grosfoguel 2010: 312). Patel beschreibt diesen Prozess in Rückbezug auf Alatas als „capive mind“ (vgl. Patel 2019: 38).
Diese epistemische Dominanz hat gravierende Folgen. So illustriert Araujo am Beispiel der Individuation, wie die westlich hegemoniale Definition von Individualisierung auf Kontexte im globalen Süden, hier insbesondere Chile, angewendet wird. Dabei wird die hegemoniale Definition einfach angewendet, ohne auf lokale Spezifika zu achten, was zu einem verfälschten Ergebnis führt (vgl. Araujo 2021).
Patel beschreibt, dass hegemoniale Wissensformen kolonial und eurozentrisch geprägt sind. Damit geht ein spezifischer Dualismus einher, der auch in der Wissenschaft (re)produziert wird. Dieser Dualismus basiert auf einem „Ich“ in Abgrenzung zu einem „Anderen “/ einer „Peripherie“, wobei beide Elemente mit Wertungen und einer Hierarchisierung verbunden sind (vgl. Patel 2019: 35). Patel fordert, diese konstruierte Exterritorialität zu nutzen, um gegen herrschende Episteme anzukämpfen und diversere Perspektiven sichtbar zu machen (vgl. Patel 2019: 36). Diverse dekoloniale Theoretiker:innen fordern ein solches Denken aus der Exteritorialität konstruktiv zu nutzen und verwenden dafür unterschiedliche Begriffe wie (kritisches) Grenzdenken (Anzaldúa, Mignolo und Grosfoguel) oder Transmoderne (Dussel) (vgl. Patel 2019: 36).
Grosfoguel beschreibt sein Verständnis von kritischem Grenzdenken folgendermaßen: „Es ist eine dekoloniale transmoderne Antwort der Subalternen auf die eurozentrische Moderne“ (vgl. Grosfoguel 2010: 330). Ziel ist laut Grosfoguel, „die emanzipatorische Rhetorik der Moderne“ (Grosfoguel 2010: 330) aus der Position der Subalternen heraus zu nutzen und für einen dekolonialen Befreiungskampf zu verwenden. Dazu zählt unter anderem eine Neudefinition von Begriffen wie Bürgerschaft, Menschenrechte und Demokratie (vgl. Grosfoguel 2010: 330). Ein Aspekt dieses Grenzdenkens ist es auch, indigenes Wissen und Erfahrungen in den wissenschaftlichen Diskurs zu integrieren (vgl. Patel 2019: 39 f.). Um ein solches Vorhaben zu realisieren, ist der Aufbau unabhängiger Wissenschaftsnetzwerke zentral (vgl. Patel 2021).
In Bezug auf die Herausforderungen hegemonialer Perspektiven im Umgang mit Daten und Wissenschaft stellt sich die Frage, welche Zukunftsvorstellungen und konkreten Veränderungswünsche sich daraus ergeben.
D`Ignazio und Klein formulieren mit ihrem fünften Data Feminism Prinzip eine klare Forderung: Embrace Pluralism!
Co-liberation wird dabei von den Autorinnen als Strategie beschrieben, um dieses Ziel zu verwirklichen. Ein zentrales Merkmal dieser Arbeitsweise ist es, dass die Projekte aus den betroffenen Communities heraus entstehen und von den betroffenen Personen selbst durchgeführt werden. So wird die Arbeit mit Daten zu einem partizipativen und pluralistischen Prozess (vgl. D`Ignazio, Klein 2020: 142 f.). Digital Democracy ist ein Projekt, welches anstrebt Communities dabei zu unterstützen, Daten selbstbestimmt zu erheben und zu nutzen. Das Projekt entspricht somit den Vorstellungen von Co-liberation.
Dass die Integration multipler Perspektiven bereichernd für den Wissenschaftsprozess ist, zeigt sich auch in anderen Bereichen: Criado-Perez beschreibt in ihrem Buch „Unsichtbare Frauen“ wie Daten überwiegend auf männliche Personen zugeschnitten sind und welche Auswirkungen das auf nicht männliche Personen hat. Als ein Beispiel nennt sie den hyperbolischen Raum, ein Phänomen, welches für unterschiedlichste mathematische, technische und visuelle Bereiche von großer Bedeutung ist. Lange existierte der hyperbolische Raum nur als theoretisches Konstrukt, da keiner Person eine physische Darstellung gelang. Der Mathematikerin Daina Taimina gelang schließlich die Darstellung des hyperbolischen Raums, indem sie ein Modell häkelte (vgl. Criado-Perez 2020: 409 ff.).
Diese Begebenheit kann als Beispiel dienen, wie hilfreich pluralistische Erfahrungen sein können. Die Integration von Fähigkeiten und Methoden, die scheinbar nichts mit „klassischer Datenarbeit“ zu tun haben, können neue, produktive Lösungen hervorbringen.
In Bezug auf anzustrebende Zukunftsvorstellungen fordert Grosfoguel eine Universalie, „die alle epistemiologischen Besonderheiten in einer ‚transmodernen dekolonialen Sozialisation der Macht‘ zusammenfasst“. Und schließt mit einem Ausruf der Zapatisten:
„Kämpfen für eine Welt, in der andere Welten möglich sind“ (Grosfoguel 2010: 336)
Araujo, Kathya 2021: Social theory anew: From contesting modernity to revisiting our conceptual toolbox – the case of individualization. Current Sociology, 69. Jg., Heft 3, 415–432.
Brunner, Claudia 2020: Epistemische Gewalt. Wissen und Herrschaft in der kolonialen Moderne. Bielefeld: transcript Verlag.
Columbia Law School 2017: Kimberlé Crenshaw on Intersectionality, More than Two Decades Later, https://www.law.columbia.edu/news/archive/kimberle-crenshaw-intersectionality-more-two-decades-later
Criado-Perez, Caroline 2020: Unsichtbare Frauen. München: btb Verlag.
D`Ignazio, Catherine / Klein, Lauren F. 2020: Data Feminism. Cambridge, Massachusetts, London: MIT Press.
Grosfoguel, Ramón 2010: Die Dekolonisation der politischen Ökonomie und der postkolonialen Studien: Transmoderne, Grenzdenken und globale Kolonialität. In Manuela Boatcă / Willfried Spohn (Hg.), Globale, multiple und postkoloniale Modernen. München, Mering: Rainer Hamp Verlag, 309–338.
Hark, Sabine 2014: Schweigen die Sirenen? Epistemische Gewalt und feministische Herausforderungen. In Steffi Hobuß / Nicola Tams (Hg.), Lassen und Tun. Kulturphilosophische Debatten zu Verhältnis von Gabe und kulturellen Praktiken. Bielefeld: transcript Verlag, 99–118.
Mickan, Thomas 2018: Nachgefragt: Was ist epistemische Gewalt? Ein Interview mit Claudia Brunner. Wissenschaft & Frieden, Heft 2, 42–43.
Patel, Sujata 2019: Sociology through the 'South' prism. In Elena Fiddian-Qasmiyeh / Patricia Daley (Hg.), Routledge Handbook of South-South Relations. Oxon, New York: Routledge, 31–47.
Patel, Sujata 2021: Sociology’s encounter with the decolonial: The problematique of indigenous vs that of coloniality, extraversion and colonial modernity. Current Sociology, 69. Jg., Heft 3, 372–388.
Spivak, Gayatari C. 2016: Can the Subaltern Speak? Postkolonialität und subalterne Artikulation. Wien, Berlin: Turia+Kant.
Weinmann, Muriel 2020: Witwenverbrennung in Indien. Grausamer religiöser Brauch zwischen Tradition und Moderne, https://www.rosalux.de/news/id/42148/witwenverbrennung-in-indien.