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Marginalisierte Perspektiven im ostdeutschen Transformationsprozess

Im Rahmen unseres Seminars „Ostdeutsche Transformationsgesellschaft“ im Wintersemester 2022/23 haben wir uns mit dem Buch „Lütten Klein. Leben in der ostdeutschen Transformationsgesellschaft“5) von Steffen Mau6) beschäftigt. Die Lektüre eignet sich sehr gut für den inhaltlichen Einstieg, um sich einen Überblick über dieses Thema zu verschaffen. In unserer abschließenden Seminarreflexion ist jedoch sehr schnell deutlich geworden, dass uns Maus Sichtweise zu einseitig ist. Unserer Meinung nach schenkt Mau marginalisierten7) Perspektiven, die keiner weißen, cis8)-männlichen sowie heteronormativen9) Norm entsprechen, zu wenig bis gar keine Beachtung. Leider stellt sich Mau somit in die Kontinuität gesellschaftlichen Ignorierens von Perspektiven jenseits der Dominanzgesellschaft10)(vgl. Heinrich-Böll-Stiftung Sachsen-Anhalt und Gunda-Werner-Institut für Feminismus und Geschlechterdemokratie in der Heinrich-Böll-Stiftung, 2015; Perinelli und Lierke, 2020).

Aufgrund dieser Kritik an der Seminarlektüre haben wir uns dafür entschieden, uns exemplarisch mit einigen Perspektiven im und auf den ostdeutschen Transformationsprozess auseinanderzusetzen, die keinen Eingang in Maus Buch gefunden haben. So finden sich hier Beiträge zu den Themen „Migrantische Perspektiven aus der BRD auf die Wende und die Wiedervereinigung“, „Kampf um Sichtbarkeit: Zur Ost-Berliner Gruppe Lesben in der Kirche von 1982 bis 1989“, „Jüdische Migrationsbewegungen in Ostdeutschland und dem wiedervereinigten Deutschland ab 1945“ sowie „Migrantische Perspektiven im ostdeutschen Transformationsprozess (DDR)“. Da wir lediglich zeitlich begrenzte Ressourcen zur Verfügung haben, legen wir fürs Erste diese vier Sichtweisen dar. Es ist uns jedoch wichtig zu betonen, dass dieses Wiki keinen Anspruch auf Vollständigkeit marginalisierter Perspektiven im ostdeutschen Transformationsprozess erhebt und daher nicht als abgeschlossen betrachtet werden darf. So könnten sich weitere Beiträge zum Beispiel den Perspektiven von non-abled bodied11) Menschen, Menschen mit psychischen Erkrankungen, finanziell prekarisierten Menschen, alten Menschen, geflüchteten Menschen, Rom*nja und Sinti*zze uvm. widmen. Einen bereits existierenden wichtigen und wegweisenden Beitrag zu dem Thema leistet die Publikation „Erinnern stören. Der Mauerfall aus migrantischer und jüdischer Perspektive"12) von Massimo Perinelli und Lydia Lierke aus dem Jahr 2020.

Eigene Positionierung

Indem wir über marginalisierte Perspektiven schreiben, befassen wir uns mit einem sensiblen Thema, bei welchen es unumgänglich ist, „jedwede kritische Reflexion über Sprache historisch, theoretisch, kulturell und politisch zu kontextualisieren“ (Arndt13) und Ofuatey-Alazard14), 2021: 12). Da wir Steffen Mau für seine einseitig geprägte Sichtweise kritisiert haben, halten wir es für notwendig, dass wir als Autor*innen dieser Beiträge zu Beginn unsere eigene Positionierung im Rahmen der gesellschaftlichen Machtverhältnisse transparent machen und uns selbst mit diesen auseinandersetzen. Arndt und Ofuatey-Alazard (2021: 16) argumentieren, dass weiße Menschen in anderen Traditionen stehen als BI_PoC, wenn sie über Rassismus sprechen. Genauso stehen westdeutsch sozialisierte Menschen in anderen Traditionen als ostdeutsch sozialisierte Menschen, queere15) Menschen sind gesellschaftlich anders positioniert als heterosexuelle16) Menschen etc. Daher sollte es Teil einer kontextualisierenden Grundkonzeption eines Werkes sein, dass sich Angehörige der Dominanzgesellschaft in ihren Beiträgen zu dem dargelegten Thema positionieren (ebd.). So schreiben wir als Autor*innen alle aus einer weißen, able-bodied, neurotypischen17), christlich18) sowie westdeutsch sozialisierten Perspektive. Teilweise identifizieren wir uns als heterosexuelle cis-Frauen, teilweise als queer und schreiben vor dem Hintergrund unterschiedlicher finanzieller Privilegierungen19). Zudem sind wir alle erst nach der Wende geboren worden und haben somit weder die DDR, noch den Prozess der Wiedervereinigung mit seinen unmittelbaren Folgen selbst miterlebt.

Warum marginalisierte Perspektiven wichtig sind

„Ich wurde als Ost-Deutsch-Vietnamesin immer wieder daran erinnert, dass ich irgendwie nicht dazugehörte, obwohl ich genauso ein Ostbrot hätte sein können wie alle anderen. […] So gesehen habe ich einen zweifachen Migrationshintergrund20), den vietnamesischen und den ostdeutschen. Bin ich dann doppelt heimatlos? […] Nein, eher doppelt beheimatet. Ich verstehe beide Sprachen. Und ich wünsche mir Geschichten in Filmen und Büchern aus der Sicht all derer, die bisher unsichtbar blieben in der großen gesamtdeutschen Erzählung. Der Ostdeutschen und aller anderen Eingewanderten. […] Ich schaue anders [als weiße Ostdeutsche] zurück auf die Pogrome in Ostdeutschland Anfang der Neunzigerjahre21)“ ( Nguyen22), 2018).

Marginalisierte Perspektiven werden von der Dominanzgesellschaft nicht nur nicht gehört, sie werden oft aktiv unterdrückt, für unerwünscht erklärt oder ins Lächerliche gezogen (Lierke und Perinelli, 2020: 2). Dabei „waren und sind [solche Stimmen] zu jeder Zeit präsent, haben unermüdlich gesprochen, manchmal geschrien, ein anderes Mal geflüstert, ergreifen immer wieder das Wort und finden ihre Echos.“ (ebd.: 3) Dennoch wurde beispielsweise die rassistische Gewalt23) rund um die Wende von der Dominanzgesellschaft mindestens bagatellisiert, unsichtbar gemacht oder stieß gar auf fruchtbaren Boden, um das freudig-glückselige hegemoniale Narrativ der Wiedervereinigung nicht zu stören (ebd.; „Anders nach der Wende: Da ,offenbarte sich eine Sprache und Gewalt, die so vorher nicht möglich war'. Hatten rechte Straftaten bis dahin ,weit außerhalb des politischen Konsenses' stattgefunden, trafen im nationalen Taumel der Wendezeit die Forderungen der Schläger und Brandstifter plötzlich auf viele offene Ohren – in der breiten Bevölkerung genau wie im Parlament in Bonn.“ Poutrus24), zitiert von Starzmann25) und Abdi26), 2019).

„Der Begriff ,Wiedervereinigung′ drängt daher unweigerlich die Frage auf, wer vereinigt wurde und unter welchem Ausschluss diese Vereinigung stattfand.“ (Lierke, 2019)

Durch das Ignorieren der Perspektiven, die sich außerhalb der herrschenden Dominanzgesellschaft verorten einerseits und der Fokussierung auf bloß eine einzige Sichtweise auf Ereignisse andererseits, entsteht eine gefährliche „single story“27) ( Adichie28), 2009), die unser aller Wahrnehmung prägt. Doch ohne diese Perspektiven bleiben Geschichten wie die der ostdeutschen Transformationsgesellschaft „leer und unverstanden“ (Lierke und Perinelli, 2020: 1). Dabei ist es aber essentiell, dass diese marginalisierten Perspektiven „kein Nachtrag und keine fehlende Ergänzung“ (ebd.) zu der dominanten ‚single story‘ darstellen, sondern „ein grundlegendes Verständnis des gesellschaftlichen Paradigmenwechsels [eröffnen]“ (ebd.), um eine multidirektionale Erinnerungskultur zu schaffen (vgl. Michael Rothberg29), zitiert von ebd.: 4).

Das Konzept der multidirektionalen Erinnerung30) möchte dabei weder Erfahrungen gleichsetzen oder eine Opferkonkurrenz aufkommen lassen, sondern vielmehr die unterschiedlichen Perspektiven zu einem großen pluriversalen31) Gesamtbild miteinander in Verbindung bringen (ebd.). Laut Lierke und Perinelli (2020: 5) wurde die Wiedervereinigung der DDR und der BRD „als deutsche Homogenisierungsgeschichte geschrieben“, die jegliche Realitäten abseits des dominanzgesellschaftlichen Erfolgsnarrativs negiert oder mindestens an den Rand drängt. Im Rahmen einer pluriversalen und intersektionalen multidirektionalen Erinnerungskultur würden bspw. die Deutschlandfahnen der Jubliläumsfeierlichkeiten „das Gedenken an die Opfer des Pogroms vom 9. November 193832)“ (ebd.) nicht mehr verdrängen, sondern das Erinnern vielmehr miteinander verknüpfen oder wenigstens gleichberechtigt nebeneinander stehen lassen.

Da Marginalisierung meist auf mehreren Ebenen einer gesellschaftlichen Machtasymmetrie stattfindet, lohnt es sich zum Abschluss dieser Einleitung noch, für ein tiefergehendes Verständnis und Hintergrundwissen für die folgenden thematischen Wiki-Beiträge das Konzept der Intersektionalität in den Raum zu holen. Kimberlé Crenshaw33) prägte den Begriff 1989 in ihrer Veröffentlichung „Demarginalizing the intersection of Race and Sex: A Black Feminist Critique of Antidiscrimination Doctrine, Feminist Theory and Antiracist Politics34)“. Sie argumentiert (1989: 140), dass die intersektionale Erfahrung (bspw. einer Schwarzen Frau) größer ist als die Summe von Rassismus und Sexismus für sich allein. Das Konzept der Intersektionalität analysiert also die Überschneidungen und wechselseitigen Auswirkungen verschiedener Dimensionen von Ungleichheit und Unterdrückung wie Race, Geschlecht, Klasse, Sexualität oder Behinderung. Eine intersektionale Perspektive erkennt demnach an, dass die Identitätsachsen immer auf mehreren Ebenen gleichzeitig miteinander verbunden sind (Ituen35) und Hey36), 2021: 17).

„Angesichts der Realität von rassistisch geprägter Exklusion, Marginalisierung und Dehumanisierung ist es besonders wichtig, kontinuierlich die Stimmen und die Weltauslegungen der rassistisch [und weiterer] Marginalisierten selbst zu rezentrieren. Es ist essenziell […] dass die Barrieren anerkannt werden, die mit Marginalisierung aufgrund von Othering37) einhergehen, also mit der Platzierung im Verhältnis zur hergestellten Norm und dem Verdrängen an den Rand von Narrativen, Strukturen, Gesellschaften.“ (Auma38), zitiert von Sandjon39), 2020)

Hier geht es zu den thematischen Wiki-Beiträgen:

Quellen

Adichie, C. N. (2009) ‚The danger of a single story‘, YouTube (online: https://www.youtube.com/watch?v=F4a7oQ5vwP4; abgerufen: 19.03.2023)

Arndt, S. und Ofuatey-Alazard, N. (2021) ‚Zum Geleit‘, in Arndt, S. und Ofuatey-Alazard, N. (Hrsg.) Wie Rassismus aus Wörtern spricht. (K)Erben des Kolonialismus im Wissensarchiv deutsche Sprache. Ein kritisches Nachschlagewerk (4. Ausg.) (Münster: UNRAST-Verlag)

Heinrich-Böll-Stiftung Sachsen-Anhalt und Gunda-Werner-Institut für Feminismus und Geschlechterdemokratie in der Heinrich-Böll-Stiftung (2015) Das Übersehenwerden hat Geschichte. Lesben in der DDR und in der friedlichen Revolution (online: https://www.gwi-boell.de/sites/default/files/pdf_das_uebersehenwerden_hat_geschichte._tagungsdokumentation_final.pdf; abgerufen: 22.03.2023)

Ituen, I. und Hey, L. T. (2021) Der Elefant im Raum – Umweltrassismus in Deutschland. Studien, Leerstellen und ihre Relevanz für Umwelt- und Klimagerechtigkeit (Berlin: Heinrich-Böll-Stiftung) (online: https://www.boell-hessen.de/publikation/der-elefant-im-raum-umweltrassismus-in-deutschland/; abgerufen: 19.03.2023)

Lierke, L. (2019) ‚Wer wurde vereinigt und wer nicht?‘, bpb (online: https://www.bpb.de/themen/deutsche-einheit/eine-stadt-ein-land-viele-meinungen/294886/wer-wurde-vereinigt-und-wer-nicht/; abgerufen: 20.03.2023)

Lierke, L. und Perinelli, M. (2020) ‚Intro‘, in Perinelli, M. und Lierke, L. (Hrsg.) Erinnern stören. Der Mauerfall aus migrantischer und jüdischer Perspektive (Berlin: Verbrecher Verlag) (online: https://www.rosalux.de/fileadmin/images/Dossiers/Migration/Erinnern-stoeren/00_Intro_3.pdf; abgerufen: 18.03.2023)

Nguyen, A. (2018) ‚Doppelt heimatlos?‘, Zeit Online, 4. Juni (online: https://www.zeit.de/politik/deutschland/2018-05/ostdeutschland-heimat-ddr-filme-das-schweigende-klassenzimmer; abgerufen: 18.03.2023)

Perinelli, M. und Lierke, L. (2020) Erinnern stören. Der Mauerfall aus migrantischer und jüdischer Perspektive (Berlin: Verbrecher Verlag) (online: https://www.rosalux.de/fileadmin/images/Dossiers/Migration/Erinnern-stoeren/00_Intro_3.pdf; abgerufen: 18.03.2023)

Sandjon, C.-F. (2020) ‚Schwarze Kinder, weiße Perspektiven. Wie divers ist die Kinderbuchbranche?‘, Heinrich-Böll-Stiftung, 8. Oktober (online: https://heimatkunde.boell.de/de/2020/10/08/schwarze-kinder-weisse-perspektiven-wie-divers-ist-die-kinderbuchbranche; abgerufen: 22.03.2023)

Starzmann, P. und Abdi, M. (2019) ‚Rassistische Gewalt nach dem Mauerfall: Für Migranten wurde das neue Deutschland zur Gefahr‘, Tagesspiegel, 6. November (online: https://www.tagesspiegel.de/berlin/fur-migranten-wurde-das-neue-deutschland-zur-gefahr-8513821.html; abgerufen: 21.03.2023)

1)
Heinrich-Böll-Stiftung Sachsen-Anhalt: https://www.boell-sachsen-anhalt.de/de
2)
Gunda-Werner-Institut für Feminismus und Geschlechterdemokratie in der Heinrich-Böll-Stiftung: https://www.gwi-boell.de/de
5)
Lütten Klein. Leben in der ostdeutschen Transformationsgesellschaft: https://www.bpb.de/shop/buecher/schriftenreihe/303713/luetten-klein/
12)
Erinnern stören. Der Mauerfall aus migrantischer und jüdischer Perspektive: https://www.rosalux.de/publikation/id/43063/erinnern-stoeren
23)
Rassistische Gewalt nach dem Mauerfall: https://www.tagesspiegel.de/berlin/fur-migranten-wurde-das-neue-deutschland-zur-gefahr-8513821.html - Rechte, rassistische und antisemitische Gewalt in Deutschland 2021 – Jahresbilanzen der Opferberatungsstellen: https://verband-brg.de/rechte-rassistische-und-antisemitische-gewalt-in-deutschland-2021-jahresbilanzen-der-opferberatungsstellen/
27)
The danger of a single story: https://www.youtube.com/watch?v=F4a7oQ5vwP4
28)
Chimamanda Ngozi Adichie: https://www.chimamanda.com/about/
34)
Demarginalizing the intersection of Race and Sex: A Black Feminist Critique of Antidiscrimination Doctrine, Feminist Theory and Antiracist Politics: https://philpapers.org/archive/CREDTI.pdf?ncid=txtlnkusaolp00000603