Bis in die 1960er Jahre galt Wissen, beziehungsweise wissenschaftliches Wissen, als „objektiv". Doch Anfang der 1970er Jahre kam es zu einer konstruktivistischen Wende in Natur-, Geistes- und Sozialwissenschaften. Diese Wende brachte die Erkenntnis, dass jedes Wissen beobachterabhängig und somit subjektiv ist, in die Wissenschaft. Die Welt ist dadurch nicht objektiv erfassbar, sondern besteht nur aus unterschiedlichen Welt- und Selbstbeschreibungen (vgl. Martinsen 2014: 1). Nach dieser Erkenntnis ist jedes Wissen konstruiert und abhängig von den Erfahrungen, Entscheidungen, Werten und Meinungen eines jeden Individuums. Im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts formten sich deshalb Disziplinen, die sich mit dem Konstruktivismus auseinandersetzten und Theorien dazu formulierten. Es geht der Wissenschaft nun darum, den Prozess der Entstehung von Wirklichkeit zu beobachten und zu analysieren (vgl. ebd.: 7f).
Durch die unterschiedlichen Disziplinen gibt es nicht den einen Konstruktivismus, der hier aufgeführt werden könnte. Dennoch besitzen die verschiedenen Theoriebildungen folgende Gemeinsamkeiten und zentrale Denkfiguren:
Zunächst möchten alle Richtungen des Konstruktivismus den Prozess der Entstehung zur Wirklichkeit erforschen. Schließlich geht es um die Wie-Fragen und Bedingungen, unter welchen etwas „Wirkliches“ erzeugt wird. Die Herausforderung ist hierbei vor allem, die Wirklichkeitskonstruktionen überhaupt zu erkennen, da diese meist so alltäglich sind, dass sie uns als selbstverständlich widerfahren (vgl. Pörksen 2015: 11).
Als zweite Gemeinsamkeit lässt sich das „Postulat der Beobachterrelativität“ (Pörksen 2015: 11) nennen, welches besagt, dass jede Erkenntnis beobachterabhängig ist. Beobachter:innen entscheiden selbst über ihre Wirklichkeit, indem sie unterscheiden und bezeichnen (vgl. Pörksen 2015: 12). Sich für etwas zu entscheiden bedeutet nämlich auch immer, einer anderen Option zu entsagen. In jeder Entscheidung, die man trifft, stecken die eigenen Belieben und schließlich auch ein Teil des Selbst, wodurch keine Beobachtung den Anspruch zur absoluten Wirklichkeit hat. Deshalb werden beim Konstruktivismus besonders die Verbindungen zwischen Systemen betont, wodurch das Individuum beispielsweise durch den Alltag und soziale Aktivitäten gestaltet wird (vgl. Knoblauch/Schnettler 2007: 134).
Außerdem spielt die innere Entschiedenheit eine Rolle, wodurch man stets versucht, die eigenen Maßstäbe aufrechtzuerhalten und der eigenen Autonomie zu folgen (vgl. Pörksen 2015: 13). Folglich werden absoluten Wahrheitsvorstellungen und einem Objektivitätsideal entsagt, was sich natürlich auch auf den Konstruktivismus selbst bezieht. Schließlich können auch diese Theoriebildungen, wenn sie ihren eigenen Standards folgen, keine Beweise, sondern nur Hinweise auf eine Konstruktion liefern (vgl. ebd.: 13). Daher ist der Konstruktivismus selbst nur eine Beobachtung zweiter Ordnung innerhalb des Wissenschaftssystems und kann Änderungen zwar thematisieren, jedoch nicht erzwingen (vgl. Scholl 2011: 167).
Ein weiterer zentraler Punkt wäre das Interesse an der Pluralität von Wirklichkeitskonstruktionen. Die Fülle an möglichen Konstruktionen reduziert den Glauben an einen Dogmatismus in der Wissenschaft und führt zu einer größeren Entscheidungsfreiheit (vgl. Pörksen 2015: 13). Durch dieses Bewusstsein setzt sich die Wissenschaft vor allem mit der Wiederholung der eigenen Wissenstandards auseinander und ist versucht, die Eigenwerte, welche stets wiederkehren und festigen, aufzudecken und zu vermeiden (vgl. ebd.: 14).
Zuletzt nimmt die Rolle der Kommunikation an Bedeutung zu. Die Frage, wie Wissen an Bedeutung gewinnt und sozial geformt, sowie vermittelt wird, lässt sich meist nur dadurch beantworten (vgl. Knoblauch/Schnettler 2007: 133).
All die verschiedenen Richtungen des Konstruktivismus unterteilt Pörksen (2015: 5) grob in zwei Epistemologien, nämlich in die naturalistischen und die kulturalistischen.
Die naturalistischen Konstruktivsten beschäftigen sich mit der Wahrnehmung im Gehirn, Bewusstsein oder Kognition und befinden sich vor allem in der Biologie, Physik und Psychologie.
Die kulturalistischen Konstruktivisten nehmen hingegen die Konstruktion der Wirklichkeit durch Sprache, Kommunikation, Kultur, Medien und Gesellschaft in den Blick (vgl. Pörksen 2015: 5).
Karin Knorr-Cetina nimmt in ihrem Werk „Spielarten des Konstruktivismus“ (1989) eine andere Differenzierung vor: Sie unterteilt die drei Hauptrichtungen in „kognitionstheoretischen (erkenntnistheoretischen) Konstruktivismus“ (Knorr-Cetina 1989: 88), „Sozialkonstruktivismus“ (ebd.: 87) und in „das empirische Programm des Konstruktivismus" (ebd.:91). Zu ersterem zählt sie die Ansätze der Neurophysiologie und -biologie, die sich mit Hilfe der Philosophie und kognitiver Psychologie vor allem auf das Individuum konzentrieren (vgl. ebd.: 88). Den Sozialkonstruktivismus beschreibt Knorr-Cetina mit seinen Zentralfiguren Berger und Luckmann und geht auf wichtige Schlagwörter wie „Institutionalisierung“ oder „Objektivierung" ein (vgl. ebd.: 87). Die dritte Variante bezieht sich auf Aspekte der beiden bereits genannten dominanten Strömungen und setzt ihren Schwerpunkt auf Laborstudien (vgl. Knorr-Cetina 1989: 95; Pörksen 2015: 246).
Durch diese beiden Auffassungen wird deutlich, wie fluide der Begriff „Konstruktivismus“ ist und dass es keine festgelegten Unterteilungen dessen gibt.
Weitere mögliche Strömungen und Einflüsse:
Eine besonders bedeutende Theoriebildung zum Konstruktivismus ist der Sozialkonstruktivismus, auch bekannt als „wissenssoziologischer Konstruktivismus“, welcher besonders durch Peter L. Berger und Thomas Luckmann und ihrem Werk „Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit“ (1966) beeinflusst wurde (vgl. Knoblauch/Schnettler 2007: 131; Martinsen 2014: 9).
Dieser Ansatz untersucht, wie Wissen und soziale Ordnung durch die Gesellschaft geformt und reproduziert werden (vgl. Knoblauch/Schnettler 2007: 131). Dafür legt er sein Augenmerk auf soziale Vorgänge wie beispielsweise den Diskurs, durch welchen Konstruktionen erst geschaffen und verbreitet werden (vgl. ebd.: 132). Betont wird hier der Doppelcharakter der Gesellschaft, da diese selbst die Wirklichkeit zunächst durch ihren Diskurs und Rekurs formt und festigt, die Wirklichkeit aber letztendlich als naturgegeben und objektiv beschreibt (vgl. Martinsen 2014: 10). Aus diesen Gründen ist diese Auffassung sehr verbreitet in der Soziologie, da sich die Disziplin mit der Gesellschaft und dessen Regeln auseinandersetzt und Wissen laut dem Sozialkonstruktivismus nur in Relation zur Gesellschaft zu begreifen sei (vgl. Knoblauch/Schnettler 2007: 131; Martinsen 2014: 10).
Ein weiterer wichtiger Aspekt ist, dass die Wirklichkeit somit nicht allein vom Individuum, sondern von der Gesellschaft als Kollektiv geschaffen wird. Durch diesen Fokus kann der Sozialkonstruktivismus im Gegensatz zu anderen Theoriebildungen aufzeigen, wie soziale Realität durch den Rekurs erhärtet wird (vgl. Knorr-Cetina 1989: 87f). Dies tut er, indem er auf soziale Prozesse und Mechanismen wie Habitualisierung und Typisierung eingeht (vgl. Pörksen 2015: 10).
Knorr-Cetina betont drei weitere Schlüsselbegriffe, die der Sozialkonstruktivismus nutzt: Die Institutionalisierung, welche Verhalten zur Gewohnheit macht, die Objektivierung, welche individuelle Erfahrungen abstrahiert und typisiert, und schließlich den Legitimationsprozess, welcher institutionalisiertes Verhalten, durch beispielsweise Gesetze, rechtfertigt. Dadurch werden Verhaltensweisen für die Gesellschaft zur Norm, versprachlicht und schließlich ständig wiederholt (vgl. Knorr-Cetina 1989: 87f).
Das Ein-Hirn-Problem des neurobiologischen Konstruktivismus und das Zwei-Hirn-Problem der Erziehung wird hier zum Viel-Hirn-Problem der Gesellschaft (vgl. Pörksen 2015: 10). Der oder die Einzelne muss daher als formbare Existenz gesehen werden, welche durch die Gesellschaft und die damit verbundenen Erfahrungen beeinflusst und geformt wird (vgl. Pörksen 2015: 10). Die eigene Situiertheit und Positionalität spielen also ebenfalls eine wichtige Rolle für die soziale Konstruktion von Wissen.
Knoblauch, H., Schnettler, B. (2007), „Konstruktivismus“, in: R. Buber, H. H. Holzmüller (Hg.), Qualitative Marktforschung. Wiesbaden, 127-135.
Knorr-Cetina, K. (1989), „Spielarten des Konstruktivismus“, in: Soziale Welt 40(1/2), 86-96.
Martinsen, R. (2014), Spurensuche: Konstruktivistische Theorien der Politik. Wiesbaden.
Pörksen, B. (2015), Schlüsselwerke des Konstruktivismus. Wiesbaden.
Scholl, A. (2011), „Konstruktivismus und Methoden in der empirischen Sozialforschung“, in: Medien&Kommunikationswissenschaft 59(2), 161-179
Williams, L. P. (1974), „Normalwissenschaft, wissenschaftliche Revolutionen und die Geschichte der Wissenschaft“, in: I. Lakatos, A. Musgrave (Hg.), Kritik und Erkenntnisfortschritt: Abhandlungen des Internationalen Kolloquiums über die Philosophie der Wissenschaft. London, 49-50.