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Warum ein Gedicht?

Kontakt zur Wissenschaft ist von Seiten der Gegenwartslyrik alles andere als ungewöhnlich. So fand letztes Jahr erst eine mehrtägige Konferenz zur Verbindung von Lyrik und Wissenschaft statt, in der bisherigen Begegnungsräumen nachgespürt und neue Austauschformen erprobt wurden. Monika Rinck geht noch einen Schritt weiter, wenn sie vorschlägt, Gegenwartslyrik dem Sachbuchregal zuzuordnen.1) Lyrik ist also schon lange nicht mehr auf den Ausdruck individueller Erlebnisse oder das lebensferne Sprachspiel beschränkt, sondern will mit poetischen Verfahrensweisen Blickwinkel auf die Lebensrealität erarbeiten.

Doch wie sieht es von Seiten der Wissenschaft aus? Gerade im Bereich der feministischen und Schwarzen Wissenschaftskritik erscheint der Schritt zu künstlerischen Herangehensweisen nicht groß. So entwickelte sich auf dem Hintergrund des postkolonialen Feminismus das Konzept der kosmopolitischen Solidarität, die sich maßgeblich aus Imagination speisen soll (vgl. Leinius 2019: 84). Denn angesichts unverklärbarer Klüfte zwischen verschiedenen diskriminierten Gruppen bedarf es einer Fähigkeit, geteilte Utopien zu erstellen, um sich über Gruppengrenzen hinweg unterstützen zu können. Dies erinnert an Singers Plädoyer, den „Möglichkeitssinn“ (Singer 2005: 272) für Epistemologien einzusetzen, weil nur auf diese Art Wissen angestrebt werden könnte, das nicht nur den Status quo beschreibt, sondern auch Möglichkeiten der Emanzipation aufzeigt. Poetisches Denken und Schreiben könnte deshalb fruchtbar für emanzipatorische Epistemologien sein, denn es erlaubt ein Sprechen, das zwar auf gegenwärtige Zustände referiert, aber darin Brüche und Lücken für Veränderung oder bis her nur nicht Gesehenes erahnbar werden lässt. So stellt allein schon der große weiße Raum zwischen den Versen oder Wörtern eines Gedichts dar, was alles gesagt werden könnte, und dass die Wörter, die zwischen den weißen Räumen erscheinen, nur eine Möglichkeit unter vielen anderen darstellen (vgl. Wolf 2021).

Ein Gedicht verweist jedoch nicht nur auf eine unbestimmte Menge nicht realisierter Wörter, es legt die wenigen geschriebenen auch nicht auf eine starre Sinnzuschreibung fest. Deshalb bleibt es offen für das, was die verschiedenen Leser*innen aus ihren je eigenen Assoziations- und Erfahrungsräumen an das Gedicht herantragen. Das Gedicht will also nicht von oben herab belehren; es sucht den lebendigen und vielgestaltigen Kontakt mit einer*m Lesenden. Im Gedichtelesen lässt sich damit ganz direkt eine Subjekt-Objekt-Begegnung erleben, die nicht hierarchisch oder starr ist, sondern von der gegenseitigen Ansprache, von Irritation, Fragen und erneuter Kontaktaufnahme lebt und ohne sie nicht auskommt (vgl. Rinck 2019a). Für eine solche Subjekt-Objekt-Beziehung machen sich auch feministische Wissenschaftler*innen wie Donna Haraway stark (vgl. Haraway 1995: 96f.). Vielleicht wäre ein Ausflug in die Welt der Gegenwartslyrik deshalb auch vielversprechend, wenn es darum geht, das kreative Potenzial einer Begegnung von Subjekt und Objekt auf Augenhöhe zu erleben.

Quellen

1)
Anzumerken ist, dass Rinck dies auf die Lyrik, die sie wegen ihrer Beschäftigung mit der Lebenswelt für interessant hält, einschränkt (vgl. Rinck 2019b).