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Einstieg Diskursforschung (in der Soziologie)
Die Diskursforschung versteht sich als kritisches Projekt, weil sie die Naturalisierung von sozialen Verhältnissen hinterfragt. Im expliziten Gegensatz zu realistischen und positivistischen Richtungen fokussiert die soziologische Diskursforschung die gesellschaftliche Realität von Sprachlichem und Diskursivem.
In der deutschsprachigen soziologischen Diskursforschung lassen sich drei idealtypische Richtungen unterscheiden:
- Strukturalismus / Post-Strukturalismus
- Praxeologie, Interaktionismus, pragmatisch orientierte Richtungen
- interpretativ-hermeneutische Orientierungen der qualitativen Sozialforschung
In der Diskursforschung sind Diskurstheorie und Diskursanalyse (siehe unten) untrennbar verschränkt.
Quelle: Johannes Angermuller/Juliette Wedl 2014. Diskursforschung in der Soziologie. In: Angermuller et al. (Hg.). Diskursforschung: ein interdisziplinäres Handbuch. Bielefeld: 162-191.
Der Begriff Diskurs
Der Begriff „Diskurs“ wird in vielen Disziplinen (zum Beispiel in der Linguistik, Philosophie, Sozialpsychologie) gebraucht. Die Bedeutung des Begriffs unterscheidet sich sowohl zwischen als auch innerhalb der Disziplinen. Verschiedene Theoretiker*innen nutzen den Begriff sehr unterschiedlich. Teilweise wird der Begriff auch verwendet, ganz ohne ihn zu definieren. Daher ist eine Bedeutungsbestimmung nicht einfach und es handelt sich eher um eine fließende Bedeutung.
Eine weite Definition von Diskursen ist, dass sie aus Äußerungen bestehen, die Bedeutung, Macht und Wirkung innerhalb ihres sozialen Kontextes haben. Ein Diskurs existiert nicht (nur) für sich und kann daher nicht isoliert analysiert werden. Er produziert etwas anderes wie eine Äußerung, ein Konzept, einen Effekt. Bestandteile von Diskursen sind Ideen, Meinungen, Konzepte, Denk- und Verhaltensweisen. Sie kommen innerhalb eines spezifischen Kontextes vor. Das heißt, Diskurse existieren nicht im Vakuum, sondern stehen auch in ständigem Konflikt mit anderen Diskursen und sozialen Praktiken. Ein Beispiel dafür ist die Schulmedizin gegenüber der Alternativen Medizin und dem jeweiligen Anspruch auf Wahrheit. Ein Diskurs wird oder ist dominant, z.B. durch öffentliche Gelder, Bereitstellung von Gebäuden und Personal des Staates, Achtung der Bevölkerung. Diskurse sind prinzipiell durch Ausschluss-Praktiken organisiert, darin stimmen viele Ansätze überein: „Natürliches“, Sagbares wird durch Nicht-Sagbares erst erzeugt – z.B. Menstruation als etwas Negatives. Der diskursive Rahmen setzt Grenzen für das, was sagbar und was denkbar ist. Änderungen daran sind möglich, aber erfolgen aufgrund der Dominanz und Verwobenheit meist sehr langsam.
Quelle: Sara Mills 2007. Einleitung. In: Der Diskurs: Begriff, Theorie, Praxis. Tübingen: 1-30.
Diskurstheorie
Die Diskurstheorie erfolgt im Bereich von Arbeiten zu sozialer, kultureller und politischer Theoriebildung (S. 21). Sie hinterfragt die Naturalisierung und Essentialisierung sozialer Verhältnisse. Im Fokus von Diskurstheorien stehen die Problembereiche Macht, Wissen und Subjektivität:
- Macht: Diskurse sind von Machtstrukturen geformt, Machtstrukturen wiederum werden durch Diskurse (re-)produziert
- Wissen: es gibt eine unauflösliche Verstrickung von Wissen und Macht: Machtausübung geschieht über Wissen, Macht kann Wissen „wahr“ oder „ideologisch“ machen
- Subjektivität: Diskurse sind zentral für die Konstruktion von Subjekten, Identitäten, Beziehungen; denen, die in einen Diskurs eintreten, werden Positionen zugeteilt
Die Abbildung zeigt die Foki von Diskursanalyse und Diskurstheorie, die in einem engen Zusammenhang zueinanderstehen.
Abbildung: Johannes Angermuller 2014, S.26
Quelle: Johannes Angermuller 2014. Einleitung. Diskursforschung als Theorie und Analyse. Umrisse eines interdisziplinären und internationalen Feldes. In: Angermuller et al. (Hg.). Diskursforschung: ein interdisziplinäres Handbuch. Bielefeld: 16-36.
Quelle: Johannes Angermuller/Juliette Wedl 2014. Diskursforschung in der Soziologie. In: Angermuller et al. (Hg.). Diskursforschung: ein interdisziplinäres Handbuch. Bielefeld: 162-191.
Diskursanalyse
Diskursanalyse umfasst „empirische, gegenstandsbezogene und analytische Arbeiten am sprachlichen Material und die empirische Untersuchung von sozialen Problemzusammenhängen“ (S.21). Mithilfe der Diskursanalyse können Ähnlichkeiten unterschiedlicher Texte herausgearbeitet werden, die als Produkt von spezifischen Macht-Wissen-Konstellationen entstehen. Erforscht werden soll die Produktion von Sinn. Sinn wird verstanden als das Resultat aus dem Zusammenspiel von Sprache, Kontext und Praxis:
- Sprache: Repertoire semiotischer Ressourcen: Sprachliche Formen und Ausdrücke, nicht-sprachliche Gesten, Zeichen, Bilder, Geräusche etc.
- Kontext: sozial definierte Situation, das materiale Setting, der weitere soziohistorische Zusammenhang, in dem diskursive Praxis stattfindet
- Praxis: Handlungen, Prozesse, Aktivitäten, mit denen Individuen ihr Verhalten gegenseitig koordinieren
Im Gegensatz zu stärker disziplinärem Vorgehen werden bei der Diskursanalyse alle drei Komponenten untersucht.
Quelle: Johannes Angermuller 2014. Einleitung. Diskursforschung als Theorie und Analyse. Umrisse eines interdisziplinären und internationalen Feldes. In: Angermuller et al. (Hg.). Diskursforschung: ein interdisziplinäres Handbuch. Bielefeld: 16-36.