„Identitätspolitiken. Konzepte & Kritiken in Geschichte & Gegenwart der Linken“, Kapitel 5-8

Die Autor*innen

Lea Susemichel
- geboren 1976 in Worms
- lebt in Wien
- studierte dort Philosophie und Gender Studies
- deutsche Journalistin, Autorin, Feministin
- Redakteurin von „an.schläge. Das feministische Magazin“
- arbeitet zu Themen feministischer Theorie und Bewegung und feministischer Medienpolitik

Jens Kastner
- geboren 1970
- lebt in Wien
- Soziologe und Kunsthistoriker, Dozent am Institut für Kunst- und Kulturwissenschaften der Akademie der bildenden Künste Wien
- Redakteur von „Bildpunkt“, Zeitschrift der IG Bildende Kunst
- schreibt über zeitgenössische Kunst, soziale Bewegungen und Kulturtheorien

Zusammenfassung der Kapitel

5. Kapitel: Exkurs – „...den Sklaven ein Gewand geben". Identität und Sichtbarkeit“

In diesem Kapitel wird visuelle Identifizierung als Element zur Ermöglichung von Zugehörigkeitsgefühl hervorgehoben. Nach Georg Simmel und seinem Werk „Exkurs über die Sinne“ (1908) sei demnach die die Fähigkeit zum Klassenbewusstsein „erst mit dem Aufstieg von Fabriksaal und Massenversammlung“ (S. 54) (und Städten) ermöglicht worden. Dementsprechend referieren die Autor*innen an Antonio Gramscis Beispiel der SklavInnen im antiken Rom, bezüglich welcher ein Senator vorschlug, den SklavInnen ein Gewand zu geben, um sie besser kenntlich zu machen. Man entschied sich jedoch dagegen aus der Angst vor einem Bewusstwerden der SklavInnen über ihre große Anzahl.1) Sichtbarkeit kann also Mittel genutzt werden, um kollektive Stärke zu bilden. In anderen Fällen, jedoch, kann Sichtbarkeit ein Instrument der Herrschaft sein, wofür die Jim-Crow-Ära beispielhaft ist, in welcher es durchaus nützlich war, die eigenen ethnischen Hintergründe zu verbergen. Ebenso wurde die Sichtbarkeit von Juden zu Zeiten des NS-Herrschaft als maßgebliches Instrument für deren Verfolgung genutzt.

6. Kapitel: „...eine neue Artikulation von Schwarzsein“. Identitätspolitik und Black Liberation

In diesem Kapitel wird eine kleine Geschichte Schwarzer Identitätspolitiken aufgerollt. Sie fängt von der Gegenwart aus an und beschäftigt sich mit der „Black Lives Matter“-Bewegung in den USA, welche als Reaktion auf die unverhältnismäßigen Ausmaße von Gewalt an (jungen) schwarzen Menschen durch (oftmals weiße) Polizisten. Die AutorInnen stehen der „Human Lives Matter“-Reaktion kritisch gegenüber, da Armut und Inhaftierung deutlich häufiger der Fall sind als bei weißen US-Bürgern. (S. 59) Die BLM-Bewegung ist eine universelle bzw. universalistische und egalitäre Bewegung, möchte also nicht mehr zählen oder anders gezählt werden als andere, sondern so zählen wie andere auch. Ferner geht es in dem Kapitel um eine Zerlegung des Rassismus, worin beschrieben wird, wie die Konstruktion menschlicher „Rassen“ ein Erzeugnis dessen ist und einhergeht mit einer Essentialisierung, also dass es naturgegebene Unterschiede einfach gäbe. Für die emanzipatorische Identitätspolitik ergibt sich ein notwendiges Paradox: „Es geht nicht anders, als sich auf die spezifischen, auch von der Gewalt der Zuschreibung und all ihrer brutalen Folgen geprägten, kulturellen Errungenschaften zu berufen.“ (S. 61) Es muss also die Hautfarbe betont werden, während man eine Auflösung der gesellschaftlichen Konstruktion um die Hautfarbe herum in die Wege leitet.

Im Unterkapitel „Das strategische Doppel“ (S. 62 - 66) geht es um eben diese Erfahrungen kollektiver Erniedrigungen und Errungenschaften, wobei „kollektiv“ nicht notwendigerweise bedeuten muss, als Individuum dabeigewesen zu sein; vielmehr zählen Fremd- und Selbstzuschreibungen. Es gilt, ein Schwarzes Selbstbewusstsein der rassistischen Fremdzuschreibung gegenüber zu stellen. Die antikoloniale Négritude-Bewegung, die in den 1930er Jahren ins Leben gerufen wurde, könnte beispielhaft hervorgehoben werden als wichtige Bewegung zur Prägung der Idee und Ausbildung eines Schwarzen Selbstbewusstseins, welche sich positiv auf ein sehr traditionell geprägtes Bild Schwarzer Kultur bezog. Aus dieser heraus entstanden zwei Richtungen: afrikanisch-amerikanischer Nationalismus und antikolonialer Kommunismus. Aber auch hier waren noch stereotype Geschlechterbilder vorhanden. Mit der „Black-Consciousness“-Bewegung der 1970er Jahre tauchte eine neue Definition von Schwarzsein auf, die es nicht als „Angelegenheit der Pigmentierung“ festlegt, sondern als „Reflexion einer mentalen Haltung“ (S. 66) Das Unterkapitel „Black Power“ beschäftigte sich der gleichnamigen Bewegung der 1960er in den USA, die sich etwa in die zwei Strömungen ließ: „Integrationismus“ mit Martin Luther King Jr. als zentrale Figur und „Separationismus“, wozu sich Malcolm X einordnete. Insbesondere in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre tauchte der „Black Power“-Slogan auf als identitätspolitischer Schlachtruf Stokely Carmichaels, der ab 1966 Vorsitzender des „Student Nonviolent Coordination Comittees“ (SNCC) war, welche die wichtigste Organisation der Bewegung war. Der Slogan richtete sich gegen Kings Kurs des Integrationismus, welcher sich für eine Integration der Schwarzen in die US-Gesellschaft bei gleichzeitiger sozialer - und schließlich sogar sozialistisch gedachter - Transformation dieser Gesellschaft einsetzte. Dadurch wurde eine Spaltung in der Bewegung hervorgerufen, die sich auch etwa gegen Kings Postulat der Gewaltfreiheit der Bewegung richtete. Also wurde dem eurozentristischen Denken ein Afrozentrismus entgegengesetzt mit „afrikanischen Werten“ und Kategorien. Das „Power“ in „Black Power“ sollte schließlich auch als Machtergreifung verstanden werden, etwa beim Umkämpfen von Stellungen in Führungspositionen in Unternehmen und politische Ämter. 1966 gründete sich die Black Panther Party for Self-Defense, welche auch dem Schwarzen Nationalismus zuzuordnen wären, sich aber als sozialistisch und revolutionär verstanden. Der identitätspolitische Essentialismus schloss nicht nur Bündnisse mit Weißen aus, sondern auch mit Frauen, deren patriarchale Unterdrückung nicht in der Bewegung adressiert wurde.

Darauf folgen die beiden AutorInnen mit einem Unterkapitel zu linken Kritiken an Schwarzer Identitätspolitik. Aus der Perspektive eines liberalen Universalismus wird kritisiert, dass Schwarze Identitätspolitik die Einheit der Gesellschaft bzw. Nation zerstöre, weil sie lediglich partikulare Interessen hätte. Eine zweite Kritik kommt von einer feministischen Position und wendet sich gegen Schwarze Nationalismen, die eine solche Schwarze Identität als vermeintliche Einheit anzweifelten, allein weil die Unterdrückung der Frauen ausgeblendet wurden, welche sowohl von Weißen als auch von Schwarzen ausgeübt wurde (und immer noch wird). Dies äußert sich in Formen wie dem Ausblenden von Sexismus, der Zuweisen der Frau in eine bestimmte Rolle in der Familie und indem die Belange von LGBT-Menschen nicht zu thematisieren. Eine dritte Kritik kam aus der klassenkämpferischen Sphäre, die das Verwischen der Unterschiede zwischen armen und reichen Schwarzen anprangerte.

Schließlich folgt das Unterkapitel „Anerkennung und Transformation“, die sich gegen Essentialismus ausspricht. Es schwert demnach Solidarität und damit auch politische Bündnisse. Kritik daran fand sich auch bereits in den 1960ern, etwa durch Eldrigde Cleaver an Stokeley Carmichael. Spätestens ab den 1990er Jahren plädierte man immer stärker für offene Konzepte von Schwarzsein, wie dass man sich nach der Hautfarbe orientieren sollte, sondern an den gemeinsamen Grundlagen, die alle Unterdrückten teilen. Obwohl essentialistische Strömungen auch bei den Black Panthers vorzufinden waren, waren sie für lange Zeit diejenigen, die sich auch für Schwulenrechte einsetzten und auch eine Gruppe, in der viele Frauen Machtpositionen innehatten. Angela Davis insistiert ferner darauf, dass die Black-Liberation-Bewegung eine Freiheitsbewegungen für alle war. Freie Bildung, kostenlose medizinische Versorgung und bezahlbares Wohnen standen bei ihnen ebenfalls auf der Tagesordnung.

7. Kapitel: „Kein Wesen, sondern eine Positionierung“. Von den Postcolonial und Cultural Studies zur Kritik an kultureller Aneignung

In diesem Kapitel werden die Postcolonial Studies vorgestellt, welchen es um die Folgen und Effekte geht, die der Kolonialismus hat, auch nachdem die militärische Besatzung und staatliche Verwaltung beendet ist. Das kann anhand von ökonomischen Abhängigkeiten und kolonialen Denkweisen, wie etwa der Einteilung der Bevölkerung in unterschiedliche Ethnien. Zentral ist die weit verbreitete Erkenntnis, dass die „Konstruktion des Anderen als „konstitutives Außen“ für die Produktion des imperialen Projektes Europa“ (S. 76) einen zentralen Stellenwert einnimmt, denn ohne die konstruierte Unterlegenheit der oder Anderen kann keine eigene Überlegenheit konstruiert werden, die den kolonialistischen Akt rechtfertigt. Phänomene des „Othering“ sind hierbei typisch für die sprachlichen Aspekte der Hierarchisierung in der Kolonialisierungsgesellschaft. Postkolonialistische Theorie müsse „als eine Widerstandsform gegen die koloniale Herrschaft und ihre Konsequenzen betrachtet werden.“ (S. 77) Daher geht es der postkolonialistischen Theorie fast immer um Politik. Bei ihr geht es ebenfalls oft um den Prozess der Identifizierung, also wie Identität hergestellt und verändert wird. Nach Homi K. Bhabha vollzieht sich Identifizierung einerseits immer in der Beziehung zu Anderen, zur Andersheit. Andererseits findet sie immer in Form einer Spaltung statt, die durch die Spannung von eigenem Begehren auf der einen Seite und Forderungen von anderen auf der anderen Seite ausgelöst würden. Außerdem beziehe sich Identifizierung nie auf vorherige Identitäten, sondern sie ist stets die Produktion eines Bildes von Identität. Identifizierung selbst produziert erst die Identität. Demnach geht es den Postcolonial Studies eher um die Prozesse der Identifizierung als darum, Identität eindeutig festzulegen. Das selbe Forschungsinteresse der Herstellung von Identitäten teilen auch die Cultural Studies. Für den vertretenden Denker Stuart Hall ist Identität problematisch, weil der Identitätsprozess innerhalb von Repräsentation stattfindet. Identität steht also nicht fest und wird anschließend in Bildern und Vorstellungen dargestellt, also im Nachhinein repräsentiert. Ferner beschreibt er kulturelle Identität auf zwei Weisen. Einerseits ist kulturelle Identität eine Einheit, die als Maßstab und Referenzpunkt dient. Identitätsstiftung kann demnach machtvoll und wichtig sein für den Zusammenhalt als eine Ressource des Widerstands. Andererseits ist der Verlauf der Geschichte für ihn maßgeblich, weil Brüche, genauso wie Kontinuitäten, die kulturelle Identität formen.

Die AutorInnen widmen dann ein Unterkapitel der Debatte über „kulturelle Aneignung“. Unter diesem Begriff fasst sich eine Kritik zusammen, die die Verwendung und Nutzung von bestimmten Ausdrucksformen, Zeichen und Praktiken durch Menschen, die dazu aufgrund ihrer kulturellen (bzw. ethnischen) Position als nicht legitimiert gelten. Hierfür werden drei Beispiele herangezogen aus Kunst, Alltag und Protest, welche alle auf Argumenten ethnischer Zugehörigkeiten fußen und somit essentialistisch sind. Während sie die Kritik an Phänomenen kultureller Aneignung im Fall von kommerzialisiertem Profit bejahen, erklären sie eine Kritik, die einen bestimmten Zeichengebrauch an kulturelle Identitäten bindet, für unberechtigt. Dadurch werde kollektive Identität essentialisiert und es entscheide nicht mehr die politische Haltung über Legitimität von Ausdrucks- und Protestformen, sondern das (vermeintliche) Wesen der ethnischen Zugehörigkeit bestimmt, welche Kunst, Kleidung etc. als legitim gelten sollte und welche nicht. Sie machen dazu den Punkt stark, dass nach den Cultural Studies Identität eine Positionierung und kein Wesen ist. Es sei nicht erforderlich, fertige Einheiten als gegeben zu begreifen, um zu verstehen, wie Menschen sich identifizieren und identifiziert werden. Identität sei eine „Praxiskategorie“, angelehnt an den Ethnizitätsforscher Rogers Brubaker. Dennoch lässt sich das Weißsein nicht durch Positionierung abstreifen, aber es lässt sich durch eine Haltung gegen Privilegien und Profit entwickeln.

8. Kapitel: Exkurs – „Die Gegensätze der Völker verschwinden mehr und mehr“. Linker Nationalismus als Identitätspolitik

In diesem kurzen Kapitel wird die affirmative Bezugnahme von Begriffen wie „Nation“, „Volk“ und „Ethnie“ von Seiten linker Nationalismen thematisiert. Eingangs wird bereits erklärt, wie sich diese Begriffe, auch manchmal unter Miteinbeziehung von „Rasse“ generell gegenseitig bedingen und konstruieren, also gemeinsam ein in sich „schlüssiges“, aber tautologisches Konstrukt essentialistischer Zusammengehörigkeit geschaffen wird. Manifestationen solchen Denkens tauchen etwa bei Bewegungen und Parteien wie der spanischen PODEMOS-Partei auf, dem Stalinismus, etlichen Bewegungen in Lateinamerika, aber auch in Strömungen der deutschen Linkspartei rund um Sahra Wagenknecht auf. Auffällig ist eine diskutierte These, die sich mit Marx' und Engels' Auffassung des gesellschaftlichen Fortschritts im Kapitalismus beschäftigt. Diese nahmen an, dass die nationalen Absonderungen und Gegensätze der Völker mehr und mehr verschwinden würden, je weiter sich die kapitalistische Gesellschaft entwickelt. Die AutorInnen behaupten, dass sich das „ganz offensichtlich nicht erfüllt hat“ und meinen, dass das Gegenteil der Fall wäre: „Der fortgeschrittene Kapitalismus, das neoliberale Regime, hat die Identifizierung über das Nationale reanimiert und nationalistische Bewegungen gestärkt.“ (S. 95)

Quellen & Referenzen

Susemichel, L. & Kastner, J. (2018). Identitätspolitiken: Konzepte und Kritiken in Geschichte und Gegenwart der Linken. Münster: Unrast.

1)
Gramsci, Antonio: Gefängnishefte, Band 9, 22.-29. Heft. Hamburg: Argument Verlag 1999, S. 2197.
Drucken/exportieren