Einleitung

Diese Seite entstand im Rahmen des Seminars „Gleicher Lohn oder gleiche Toiletten? Feministische Positionen und Identitätspolitik“, das im Wintersemester 2019/2020 stattfand. In den ersten Sitzungen wurde anhand des Buches „Identitätspolitiken. Konzepte und Kritiken in Geschichte und Gegenwart der Linken“ von Lea Susemichel und Jens Kastner in das Thema eingeleitet. Kapitel 1-4 dieses Buches werden auf dieser Seite zusammengefasst.

Identitätspolitik

Im Seminar erarbeitete Definition: Identitätspolitik ist eine Politik des Kampfes um Anerkennung mit Betroffenheit als Basis.

Die Autor*innen

Lea Susemichel
- geboren 1976 in Worms
- lebt in Wien
- studierte dort Philosophie und Gender Studies
- Deutsche Journalistin, Autorin, Feministin
- Redakteurin von an.schläge. Das feministische Magazin
- arbeitet zu Themen feministischer Theorie und Bewegung und feministischer Medienpolitik

Jens Kastner
- geboren 1970
- lebt in Wien
- Soziologe und Kunsthistoriker
- Dozent am Institut für Kunst- und Kulturwissenschaften der Akademie der bildenden Künste Wien
- Redakteur von Bildpunkt. Zeitschrift der IG Bildende Kunst
- schreibt über zeitgenössische Kunst, soziale Bewegungen und Kulturtheorien

Identitätspolitiken (Susemichel/Kastner 2018) Kap. 1-4: Zusammenfassung der Kapitel

Susemichel, Lea/Kastner, Jens (2018): Identitätspolitiken. Konzepte und Kritiken in Geschichte und Gegenwart der Linken. Münster: Unrast, 7-53.

1. »Identitätspolitik ist erst der Anfang« - Einleitung

Lea Susemichel und Jens Kastner befassen sich in „Identitätspolitiken. Konzepte und Kritiken in Geschichte und Gegenwart der Linken.“ mit Charakteristika und Geschichte linker Identitätspolitik und thematisieren darüber hinaus wichtige daraus entstehende Debatten.

„[Dieses Buch] versucht zu klären, wo die jeweilige Kritik tatsächlich berechtigt ist und wo definitiv nicht. Es soll die identitätspolitischen Errungenschaften der großen Emanzipationsbewegungen würdigen, ohne dabei in nostalgische und essenzialisierende Muster zu verfallen. Dabei geht es letzten Endes immer um die Frage, ob und wie Identitätspolitik für eine solidarische linke Praxis zu gebrauchen ist. Ob also mit ihrer Hilfe tatsächlich die „tiefgreifendste und potenziell radikalste Politik“ zu machen ist, wie das Combahee River Collective schrieb.“ (Susemichel/Kastner 2018: 20)

Geprägt wurde der Begriff Identitätspolitik 1977 durch das Combahee River Collective, ein Kollektiv schwarzer, lesbischer Frauen. 1)

Die Autor*innen charakterisieren linke Identitätspolitik als Reaktion auf Diskriminierung. Eine Gruppe von Menschen wird durch die fremdbestimmte Zuschreibung von Eigenschaften zu einem vermeintlichen Kollektiv, das eine spezifische Unterdrückungserfahrung teilt. Diese gemeinsame Situation ist nun der Ansatzpunkt für einen gemeinsamen Kampf gegen Diskriminierung und um Partizipation. Voraussetzung für kollektive Gegenwehr ist aber, dass die fremdbestimmte Zuordnung zu diesem Kollektiv akzeptiert und die zugewiesene Identität positiv neudefiniert wird. Aus der Affirmation der zugewiesenen Identität resultiert nun nach Susemichel und Kastner eine grundlegende Gefahr von Identitätspolitik: Essentialisierung und Ausschluss. Wird Zugehörigkeit definiert, werden immer auch deren Grenzen bestimmt. Wird beispielsweise Frausein über die Gebärmutter definiert, schließt dies trans Frauen aus. Ein weiteres Kennzeichen der Identitätspolitik ist die Homogenisierung. Gemeinsamkeiten der geteilten Identität werden strategisch in den Vordergrund gerückt und Unterschiede zurückgestellt, wobei auch die Negierung von Differenzen eine Gefahr für identitätspolitische Bewegungen darstellt.

Im Gegensatz zu linker Identitätspolitik charakterisieren die Autor*innen rechte Identitätspolitik durch eine rigide Abgrenzung von Anderen, wobei Ausschlüsse dem Zweck dienen, vorhandene Privilegien zu sichern und zu verteidigen. Dabei betonen Susemichel und Kastner, dass rechte Identitätspolitik zwar oftmals als universell dargestellt wird, in ihrem Kern aber ebenfalls partikularistisch ist, da sie männliche, weiße Identität als Norm setzt und dadurch partikulare (männliche, weiße) Interessen vertritt.

Als Kriterium, um linke von rechter Identitätspolitik zu unterscheiden, wird dabei die Durchlässigkeit und Verschiebbarkeit der Grenzen der Zugehörigkeit benannt:

  • Wie emanzipatorisch sind diese?
  • Ist die Bewegung kritikfähig?
  • Ist ein Bewusstsein für den Konstruktionscharakter der eigenen Identität vorhanden?

Diese Faktoren sind auch Ansatzpunkte für die Kritik an Identitätspolitik, die aus dem gesamten rechten wie auch linken Spektrum kommt. Susemichel und Kastner führen an, dass BefürworterInnen von Identitätspolitik mitunter den gewaltförmigen Konstruktionscharakter von kollektiver Identität leugnen, wodurch weitere Essenzialisierungen entstehen. Außerdem kritisieren die Autor*innen das Feiern einer immer individualistischeren Identität, das sie besonders im Queerfeminismus beobachten, da es solidarischen Politiken kollektiver Identität entgegenwirkt. Weiterhin wird erläutert, dass die Forderung nach Anerkennung von Minderheitspositionen essentialistisch als eine Immunisierungsstrategie gegen Kritik verwendet werden kann.

Dabei wird die fehlende Geschlossenheit und damit das Fehlen gemeinsamer Forderungen in linken identitätspolitischen Bewegungen als größtes Hindernis für politische Erfolge benannt.

2. »Alles war miteinander verbunden« - Identitätspolitiken und Klassenkampf

These: „Linke Identitätspolitik ist ein Kampf um soziale Gleichheit und Gerechtigkeit, der an den Differenzen ansetzt, die sie verhindern.“ (Susemichel/Kastner 2018: 21)

Susemichel und Kastner widersprechen in diesem Kapitel den Kritikern der Identitätspolitik, die argumentieren, dass beim Kampf gegen kulturelle Diskriminierung der Klassenkampf vergessen werde, da Identitätspolitiken von sozialer Ungleichheit ablenken würden.

Dabei greifen sie Nancy Frasers Kritik am „progressiven Neoliberalismus“2) auf, stellen dem aber gegenüber, dass die überwiegende Mehrheit der neuen sozialen Bewegungen den Kampf gegen kulturelle Diskriminierung mit dem Kampf gegen soziale Ungleichheit verbinden, statt darauf abzuzielen, „sich mit ihren Diversitätsprogrammen in neoliberale Logiken ein[zu]passen“ (Susemichel/Kastner 2018: 23).

Außerdem betonen die Autor*innen, dass identitätspolitische Forderungen aufzeigen, in welchen Bereichen vermeintlich universale Rechte bisher noch keine Anwendung finden. Damit stehen bei Identitätspolitik eben keine Partikularinteressen im Mittelpunkt, auch wenn dies oft so dargestellt werde.

Die Vorstellung der Unvereinbarkeit und des Gegensatzes von Identitätspolitik und Klassenkampf wird dadurch als falsch markiert. Aufgrund eines Wandels der Produktionsverhältnisse, der neben besseren Arbeitsbedingungen auch eine zunehmenden Arbeitsteilung und Ausdifferenzierung der Arbeit beinhaltete, fand zudem zunehmend weniger kollektive Identifikation über die Arbeit statt.

„Im Zentrum der sozialen Frage standen nun nicht mehr Ausbeutung und Produktionsverhältnisse, sondern Ausschließung und Instabilität.“ (Wieviorka 2003: 47)3)

Linke Identitätspolitiken zeichnen sich nun dadurch aus, dass sie die Forderung nach kultureller Anerkennung mit der sozialen Frage verknüpfen.

3. »Bedingung der Freiheit« & »Prinzip des Determinismus« - Zur Genese des Begriffs der (kollektiven) Identität

In diesem Kapitel beschäftigen die Autor*innen sich mit psychologischen, sozialpsychologischen und philosophischen Identitätskonzepten und der Entstehung von Kollektiver Identität.

In Bezug auf die Persönlichkeitsentwicklung des Individuums wird dabei betont, dass sich das Ich aus psychoanalytischer Sicht durch Verdrängung abweichender Persönlichkeitsanteile herausbildet. Identität existiert also immer in Abgrenzung vom Anderen. Werden die Grenzen einer Gruppenzugehörigkeit definiert, entsteht kollektive Identität. Als Teil einer Gruppe integriert man dann wiederum Merkmale von Gruppenidentitäten in die eigene Identität (soziale Anpassung).

George Herbert Mead charakterisiert Identität als selbstreflexiven Prozess, der immer im Austausch mit Anderen geschieht. Identität verändert sich also ständig durch Reflexion des eigenen Handelns und Denkens sowie der Reaktionen Anderer darauf. Dabei muss eine Balance zwischen der Anpassung an soziale Erwartungen und dem Widerstand dagegen gefunden werden (Krappmann 1973: 72)4). Bei diesem Balanceakt ist für das Individuum neben der Kohärenz seiner Entscheidungen auch die Kontinuität relevant: Entscheidungen und Handlungen von heute müssen in das Selbstbild in Vergangenheit und Zukunft integriert werden.

Auf der Ebene der kollektive Identitäten bieten Identitätspolitiken Lösungen für die Probleme der Kohärenz und Kontinuität an. Sie steuern die Auswahl der Gemeinsamkeiten, die die Gruppenzugehörigkeit bestimmen (Kohärenz) und deren Kontinuität über die Zeit. Selbst- und Fremdwahrnehmung sind dabei miteinander verknüüft, Kohärenz und Kontinuität müssen immer auch von Anderen wahrgenommen werden.

„Bedingung der Freiheit, ist Identität unmittelbar zugleich das Prinzip des Determinismus.“ (Adorno 1966: 216)5)

Auf Identitätspolitiken angewendet, mündet dies in dem Dilemma, sich positiv auf die Kategorie beziehen zu müssen, die die Grundlage der eigenen Unterdrückung bildet. Identität wird von außen festgeschrieben6) und in alltäglichen Praktiken, wie der Anrede als männlich oder weiblich, reproduziert. Dadurch wird die spezifische Identität bestätigt, aber auch die ideologische Ordnung anerkannt, es wird sowohl individuelle als auch kollektive Identität hervorgebracht.

Francois Jullien kritisierte die Vereinheitlichung von Identitäten, die durch Identitätspolitik vorgenommen werde.

„Eine Einheit von Identität existiere weder sprachlich noch hinsichtlich irgendwelcher Gewohnheiten, sie müsse daher immer künstlich erzeugt werden.“ (Susemichel/Kastner 2018: 36)

Obwohl es daher folgerichtig wäre, festzustellen, dass es aus sich selbst heraus keine kulturelle Identität gäbe, schlussfolgern die Autor*innen, dass die Auseinandersetzung mit kultureller Identität empirisch notwendig ist, da sie für viele Menschen als Realität in Diskriminierungserfahrungen evident ist. Aus Sicht der Identitätspolitik ist die Bezugnahme auf Identifizierungen und Identitäten aber auch politische Notwendigkeit, sie stellt die „Bedingung der Freiheit“ dar.

4. » ... konstituiert sie sich als Klasse für sich selbst.« - Identitätspolitiken in der Arbeiterlnnenbewegung

Schon in ihrer Einleitung machten Susemichel und Kastner deutlich, dass auch die ArbeiterInnenbewegung als identitätspolitische Bewegung verstanden werden muss (Susemichel/Kastner 2018: 13).

Die Identifizierung mit der Arbeiterklasse musste mittels Identitätspolitik erst hergestellt werden. Produktionsverhältnisse und wirtschaftliche Interessen bildeten zwar die Grundlage für das Klassenbewusstsein, waren aber für sich genommen nicht ausreichend, um kollektive Identität herzustellen. Marx betont, dass das Klassenbewusstsein konfliktiv in sozialen Auseinandersetzungen hergestellt wird.

„In dem Kampf […] findet sich diese Masse zusammen, konstituiert sie sich als Klasse für sich selbst.“7)

Daraus folgert Lenin, dass der politische Kampf von ausschlaggebender Bedeutung sei um ein Klassenbewusstsein herzustellen, da die entscheidenden Interessen der Klassen nur durch politische Umgestaltungen befriedigt werden könne.8) Die Identifizierung mit der Klasse muss aktiv von der Partei in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens hergestellt werden.

Susemichel und Kastner schildern drei Schritte, die klassenbezogene Identitätspolitik in der Geschichte der ArbeiterInnenbewegung beinhaltete:

  • Identifizierung mit der und über die Arbeit
  • Identifizierung mit anderen ArbeiterInnen
  • und Identifizierung mit der politischen Vertretung.

Kollektive Identifizierung ist jedoch nicht als ausschließlich kognitiv zu betrachten, sondern findet immer auch im Alltag in teilweise unbewussten Praktiken statt, sie ist alltägliche Praxis. Die Entstehung der Arbeiterklasse ist also als aktiver Prozess zu verstehen, der durch menschliches Handeln entstand. So erfuhren die ArbeiterInnen sich durch kollektiv organisierte Lektüren neben der Arbeit als Teil eines Konflikts zwischen Klassen.9) Auch in Arbeitersportvereinen, Klubs und Kneipen wurde kollektive Identität praktiziert.

Susemichel und Kastner schließen das Kapitel ab, indem sie am Beispiel von Klassenpraxis und Klassenbewusstsein zwei zentrale Probleme linker, emanzipatorischer Identitätspolitiken aufzeigen.

  • In identitätspolitischen Bewegungen geschehen oft nicht beabsichtige Ausschlüsse. So schlossen die ArbeiterInnen nicht nur die KapitalistInnen aus, sondern auch Frauen (die beispielsweise von Kneipenbesuchen ausgeschlossen wurden) und ArbeiterInnen aus anderen Weltregionen.
  • Kollektive Identität entsteht durch eine Fremdzuschreibung, die die Zugehörigkeit eines Menschen zu einer Kategorie bestimmt. Man ist nicht aus freien Stücken ArbeiterIn, sondern weil man als solche abgestempelt wurde. Dies bildet dann den Ausgangspunkt für einen Kampf gegen das Abstempeln und die daraus folgende Ausbeutung.

Aus diesem Dilemma ziehen Antonio Negri und Michael Hardt den Schluss, dass Identitätspolitik letztlich die Abschaffung der kollektiven Identitäten zum Ziel haben muss.

„Es gilt, an der Abschaffung der eigenen Identität zu arbeiten. Die Selbstabschaffung der Identität ist der Schlüssel, um zu verstehen, dass revolutionäre Politik bei der Identität beginnt, aber nicht mit ihr endet.“ (Negri/Hardt 2009: 339)10)

Weitere Materialien

The Privilege Game, Kurzfilm von Neel Kolhatkar zum Thema Privilegien.

Gespräch mit Lea Susemichel über Kernaussagen des Buches.
#11 Mehr Gerechtigkeit für mehr Menschen, dissens podcast

Literatur & Referenzen

Susemichel, L. & Kastner, J. (2018). Identitätspolitiken: Konzepte und Kritiken in Geschichte und Gegenwart der Linken. Münster: Unrast.

3)
Michel Wieviorka: Kulturelle Differenzen und kollektive Identitäten. Hamburg: Hamburger Edition 2003, S. 47.
4)
Lothar Krappmann: Soziologische Dimensionen der Identität. Strukturelle Bedingungen für die Teilnahme an Interaktionsprozessen.Stuttgart: Ernst Klett Verlag 1973, 3. Aufl., S. 72.
5)
Theodor W. Adorno: Negative Dialektik. [1966] Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 1997, 9. Aufl., S. 216.
6)
Anrufungsszenario (Althusser): Menschen werden durch ideologische Ordnungen identifiziert, beispielsweise als Männer oder Frauen, als schwarze oder weiße Menschen. Dabei gibt es „Identifizierer“ wie den modernen Staat, der die materiellen und symbolischen Ressourcen besitzt, um diese Klassifikationsschemata festzulegen. Individuelle Personen reproduzieren diese Identifikationen im Alltag und reagieren darauf. (Susemichel/Kastner 2018: 33f)
7)
Karl Marx: „Das Elend der Philosophie“ [1846/47]. In: Karl Marx und Friedrich Engels: Marx-Engels-Werke. Band 4. Berlin: Dietz Verlag 1972, S. 180f.
8)
W. I. Lenin: Was tun?? Brennende Fragen unserer Bewegung. In: Ders.: Werke. Band 5, S. 402 (Fußnote).
9)
Edward P. Thompson: The Making of the English Working Class. New York: Random House (vintage) 1996, S.712, Übers. L.S./J.K.
10)
Antonio Negri und Michael Hardt: Common Wealth. Das Ende des Eigentums. Frankfurt am Main/New York: Campus Verlag 2009, S.339.
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