Kritik am „Queerfeminismus“

Die Autor*innen Patsy l’Amour laLove, Koschka Linkerhand und Jan Feddersen üben deutliche Kritik am sogenannten „Queerfeminismus“. Patsy l'Amour laLove kritisiert in dem Buch „Beißreflexe“ sehr deutlich autoritäre Tendenzen im aktuellen Queerfeminismus, bei dem „statt Empathie Anprangern und Ausschluss gängige Praxis sind.“ (20) Koschka Linkerhand kritisiert ebenfalls aktuelle Formen des Queerfeminismus und fordert eine Hinwendung zur Theorie sowie Konflikt- und Kompromissfähigkeit. Denn, so Linkerhand, Potenzial habe Queerfeminismus und somit Identitätspolitik in jedem Fall: es könnte gleichermaßen indivduelle Befindlichkeiten und allgemeine gesellschaftliche Fragen mitgedacht werden. Jan Feddersen ist mit seiner Kritik noch verurteilender: Beim Queer-sein gehe es letztendlich um die Frage, wer das größte Opfer ist.

Die Autor*innen

Patsy l’Amour laLove

  • bürgerlich: Patrick Henze
  • M. A. Gender Studies, Dr. Phil. Gender Studies
  • Promotion: „Schwule Emanzipation und ihre Konflikte: Zur westdeutschen Schwulenbewegung der 1970er Jahre“, 2019.
  • Lehrbeauftragt in Gender Studies, Forschungsinteressen: Schwulenbewegung der 1970er, schwule Männlichkeiten, (Gay) Porn Studies, Psychoanalyse und Homosexualität
  • Autor*in und Herausgeber*in sexualpolitischer Schriften wie „Selbsthass & Emanzipation“ (2016) und „Beißreflexe“ (2017) sowie „Psychoanalyse und männliche Homosexualität“ (2019).
  • Im Vorstand des Schwulen Museum Berlin
  • Redaktionsmitglied im Magazin „Lernen aus der Geschichte“
  • Organisation verschiedener Veranstaltungsformate sowie Kuration von Ausstellungen am Schwulen Museum Berlin, sowohl unter bürgerlichen Namen als auch als „Polittunte“
  • Eigene Website: https://www.patsy-love.de

Koschka Linkerhand (https://de.wikipedia.org/wiki/Koschka_Linkerhand)

Jan Feddersen (https://de.wikipedia.org/wiki/Jan_Feddersen)

  • 1957 in Hamburg geboren
  • Journalist und Redakteur bei der Berliner Tageszeitung taz, Themen: Gesellschafts- und Geschichtspolitik, Sexualität, Diskurstheorie, Pop- und Schlagermusik (Schwerpunkt: Eurovision Song Contest), Prominentenportraits, politische Analysen zu LGBTI*-Fragen sowie Mittelschichtskritik
  • Vorstand des Queeren Kulturhauses Berlin
  • Sein Account bei twitter: https://twitter.com/janfeddersen?lang=de

Zusammenfassung: Beißreflexe. Kritik an queerem Aktivismus, autoritären Sehnsüchten, Sprechverboten. (l'Amour laLove)

  • „Queer“ ursprünglich als „utopische[s] Glück, dass die sexuell Anderen ohne Angst verschieden sein können“, transportiert „eine Geschichte emanzipatorischen Kämpfens und ist ein theoretisch sowie politisch reizvoller Begriff, der zum Hinterfragen und zur Kritik an der heterosexuellen Normalität ebenso aufruft wie zur selbstbewussten Entgegnung der Perversen und Anderen“.
  • These: aktueller queerer Aktivismus ist vor allem um Verbote und Angriffe bemüht
  • Zentral sollte jedoch ein Umgang mit Irritationen und Diskriminierungserfahrugn sein, der die „Realität des subjektiven Erlebens respektvoll würdigen und dieselben hinterfragen“ kann
  • Zentrales Moment des Artikels: „autoritäre Form des aktuellen queeren Aktivismus, in dem statt Empathie Anprangern und Ausschluss gängige Praxis sind.“ (20)

Queer: Sammelbegriff, Subversion, Autorität (21)

  • Hintergrund von „queer“: HIV/Aids-Krise der 1980er und frühen 1990er Jahre; marginalisierte Communities reagierten auf Situation mit Zusammenschluss  „queer“ als Sammelbegriff für jene einzelnen und Gruppen, die ihrem Erschrecken über den offen ausgesprochenen Vernichtungswunsch gegen sexuelle Minderheiten in Aktionen Ausdruck verliehen.“ (Kunstreich 2015)
  • Was bedeutet queer überhaupt?
  • Begriff heute zwischen „Forderung und Wunsch nach Bündnis“, „neuem Wischiwaschi“, Forderungen nach Radikalität, mehr als die Summe seiner Teile

Falsche Zöpfe, oder: Queer in Berlin (23)

  • Beispiele aus aktivistisch-queeren Kontexten (Critical Whiteness, Queerer Kritik der queeren Hochschultage, des transgenialen CSD), um die autoritären Züge und den harschen Umgangston im Miteinander zu verdeutlichen.
  • Darstellung von hierarchisch formulierten Ich-Aussagen als „Politik der Bauchschmerzen“, um zu verdeutlichen, wie das Diktat der Subjektivität und emotionalen Sicherheit die Sprech- und Möglichkeitsräume schrumpfen lasse (27 f.)

Privileg, kulturelle Aneignung und schlechtes Gewissen (28)

  • Kritik an aktivistischen Kontexten im Allgemeinen, in denen „Autorität nach innen gewendet“ und aus Selbstreflexion ein egozentrisches Um-Sich-Selbst-Kreisen würde, und Hengameh Yaghoobifarah im Besonderen
  • Vorwurf: „inquisitorische Macht“ für Einzelne (31)

Intersektionalität, Community und Verantwortung (32)

  • Intersektionalität als nahezu inhaltsleeres Gütesigel
  • Benennung von Diskriminierung würde durch „gleichmachende Aneinanderreihung ununterscheidbar relativiert“
  • Vorwurf: „‚Diskriminierungsolympiade‘“, maßgeblich sei „die queere Suche nach dem subalternen Subjekt, auf das es, mitunter bis zur Unterwerfung, zu hören“ gelte
  • Zu Safe® Spaces: „Die Vorstellung, dass sich alle Menschen in den Schutzräumen gefälligst wohlfühlen sollen und keinerlei Irritation ertragen dürfen, führt dazu, dass jede potentielle Irritation, also jede Begegnung mit einem anderen, von entsprechenden Verhaltensregeln überlagert wird.“ (35)
  • Kritik: gegenseitiges Anprangern mit dem Ziel, selbst als besonders progressiv gelten zu können
  • These: „Die Autorität, die im Außen anhand von Eltern, Staat und deren Regeln abgelehnt wurde, übt zugleich eine Anziehung aus.“ (36)

Posing, Angriff und Sanktionen (37)

  • „Die Sehnsucht nach diesem politischen Kollektiv verkehrt den emanzipatorischen Ansatz von Queer in sein Gegenteil. Nicht mehr ein Bündnis der Verschiedenen, das bewusst Idee bleibt und seine Umsetzung in den sozialen Momenten des Aufeinandertreffens und Zusammenarbeitens erfährt, wird angestrebt., Unter Queer sollen vielmehr unterschiedliche Menschen eingemeindet und gleichgemacht werden – bis hin zu ihren Gedanken, Wünschen und Ansichten. Das bleibt grauenvolle Dystopie.“ (38)
  • „Aktueller queerer Aktivismus verwendet viel Anstrengung darauf, innerhalb der queeren Linekn und anhand politisch aktiver Homosexueller und Transleute falsches Verhalten zu sanktionieren. Was eigentlich angegangen werden soll, gerät aus dem Blick: Diskriminierung, Rassismus, Verfolgung, Islamismus und die erstarkende Rechte. Während Queer die Entgegnung der Perversen bedeuten könnte, entgegnen Queers den Perversen, dass diesenicht progressiv und in ihrem Sinne pervers genug seien.“ (41)

Kränkung, Neid und Altruismus (42)

  • „Queerer Aktivismus scheint oft von einer Kränkung geprägt, die zu einem Angriff auf diejenigen führt, denen es (angeblich) besser geht.“ (42)
  • „Was als Schutzraum in queerem Aktivismus aktuell gefordert wird, muss in vielen Fällen als steriler Ort bezeichnet werden, in dem erwachnene Personen von sämtlichen, potentiell schädlichen Reizen ferngehalten werden sollen. Bis hin zu dem Wunsch, sexuelle Begegnungen von jeder Form von Aggression und Triebhaftem zu befreien. Die konkreten Versuche der Umsetzung stellen keinen Schutz-, sondern Verbotsräume mit autoritär eingesetzten Regularien dar.“ (47)

Zusammenfassung: Treffpunkt im Unendlichen. Das Problem mit der Identität. (Linkerhand)

Eins (56)

  • Sternchen und Unterstrich als Dilemma: „die einerseits die potenzielle Unendlichkeit der Selbstbestimmungen hervorheben sollen – andrerseits all die schönen Kategorien als begrenzt, unwahr und uneigentlich markieren“  Verweis auf Frauen, die nicht als solche erkennbar seien
  • Vorwurf: Identitätspolitik als „hauptsächliches Schlachtfeld queerer Identitätspolitik, ihr Anfang und leider auch ihr Ende (57)  Identität als Fetisch und ausschließlicher Fokus

Zwei (58)

  • Historischer Ursprung: feministische Sprache als einer der emanzipatorischen Kämpfe der 2. Frauenbewegung; im Kontext des Black Feminism erstes Auftreten von Identitätsdifferenzen und (laut Linkerhand) auch erster Unterwanderungen der „Solidarität unter Frauen“ (58)
  • Geburtsstunde von queer: Zusammenschluss der Marginalisierten im Zuge der HIV/Aids-Krise, queer als „Sammelsurium an Verqueren, Perversen, Ausgestoßenen, die nicht den gesellschaftlichen Normen entsprachen und das auch nicht mehr wollten“ (59)  Vermeidung der Nennung spezifischer sexueller Identitäten, stattdessen Sammelbegriff
  • Bezugnahme auf Butler, welche die Frau als politisches Subjekt abgeschafft habe (59)
  • Vorwurf einer „unreflektierten Dialektik des Identitätenfetisch, der von gesellschaftlicher Vermittlung nichts wissen“ wolle: „die Verneinung der weiblichen Identität schlägt haltlos um in alternative Identitätsbestimmungen, ohne dass gefragt würde, welchen ideologischen Sinn und Zweck Identität“ habe (59)
  • Anschlussfähigkeit des „Sprachfeminismus“ an den Neoliberalismus: „Im Neoliberalismus lieht die vorrangige Aufgabe des bürgerlichen Subjekts darin, die Identität mit sich selber durch permanente Selbstgestaltung und -optimierung zu gewährleisten“ (60)  damit „Zugriff des Marktes auf das Intimste“ gewährleistet, „geschlechtliche und sexuelle Zuordnungen müssen zu individuellen und fürchterlich selbstbestimmten Merkameln umgewertet und sich angeeignet werden (60)

Drei (61)

  • Kritik einer unsichtbaren Hegemonie, Aktivistinnen selbst sei nicht mehr bewusst, dass sie einer bestimmten feministischen Linie folgten (61)
  • Vorwurf queerfeministischer Theoriefeindlichkeit (61)
  • Zum Potential: „Dabei ist Identitätspolitik ein unverzichtbarer Teil feministischen Denkens und Handelns. Feminismus wird gerade interessant durch die ihm innewohnende Spannung zwischen dem Erforschen der eigenen Geschlechtsidentität und ihrer gesellschaftlichen Bedingtheit und, andrerseits, einer objektiven, revolutionären Theorie der patriarchalen Gesellschaft, deren Triebfeder gerade das subjektive Leiden an der weiblichen Identität ist.“ (62)
  • Forderung nach mehr Konflikt- und Kompromissfähigkeit und einem stärkeren Interesse an feministischer Gesellschaftstheorie (63)

Zusammenfassung: LGBTI*QA – Über die politische Karriere einer Chiffre. (Feddersen)

  • Zentrale These: „Beim Kürzel LGBTI*QA geht es nicht nur um Identitätssuche. Vielmehr geht es darum, ein besonderes Privileg zu erobern: das des Opferseins, des Signals, zu den Mühseligen und Beladenen zählen zu dürfen.“
  • Kritik: staatliche Förderung von Aktivismus setze voraus, dass Aktivist*innen „mehr als sich selbst“ meinen; „schwules allein reicht nicht“

Homophober Beigeschmack

  • Zum Ursprung: Selbstbezeichnungen wie ‚schulesbisch‘ und ‚lesbischwul‘ waren „bürgerrechlich, nicht ideologisch oder identitär, gemeint. Es ging […] um die Announce öffentlicher Geltung, nicht mehr klandestiner Existenz – und damit um die Fähigkeit, öffentlich besprechbar zu werden.“
  • Ablehnung des Chiffre als unverständlich und unzugänglich für Mehrheitsgesellschaft
  • Vor allem: Kritik an Q und A im Chiffre: LGBTI*-Anliegen seien relevant für Anerkennung, weil faktische Auswirkungen fehlender Anerkennung gegeben; bei Q und A hingegen verliere die Chiffre „ihren strikt alliierenden politischen Charakter, sie wird zu einer identitär im Irgendwie operierenden Gefühlsformel.“

Lustlosigkeit als Haltung

  • Q als queer = Sammelbegriff für alle, die sich nicht der heterosexuellen Ordnung zurechnen (können oder wollen) oder Q als ‚questioning‘
  • These: Alle wollen ins Chiffre inkludiert werden, weil das Dasein als Opfer mit Privilegien verknüpft sei; sowohl in der öffentlichen Wahrnehmung als auch bei der Vergabe von staatlichen Fördermitteln
  • „Die zu LSBTI*QA mutierte – ja entgrenzte – Formel markiert nicht mehr ein politisches, sondern ein identitäres Programm, das […] alles ablehnt, was irgendwie schlicht und ergreifend heterosexuell oder homosexuell sich äußert.“

Weitere Medien

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