Theorie und Theoretisieren in der Grounded Theory

Ein Schlüsselelement der Grounded Theory-Forschungen stellt für Kathy Charmaz das Verständnis von Theorie und Theoretisieren dar. Dies begründet sie vor allem damit, dass im Rahmen der konzeptionellen Ausformung des Theoriebegriffes zentrale epistemologische und forschungspraktische Grundlagen definiert werden. Nach Einschätzung der Autorin mangelt es in der qualitativen Forschungen allgemein, wie auch in Grounded Theory-Forschungen im Besonderen, an einer intensiven Auseinandersetzung mit der theoretischen und epistemologischen Fundierung. Dies führt laut Charmaz dazu, dass den meisten Forschungen ein unreflektiertes und positivistisches Theoriekonzept zugrunde liegt. Von dieser Beurteilung ausgehend plädiert sie in ihren Explikationen deshalb für eine intensivere Auseinandersetzung mit den theoretischen Grundlagen und wirbt für die (Wieder-)Belebung eines konstruktivistischen Verständnisses von Theorie in die Grounded Theory-Forschung.

Vor diesem Hintergrund betont Charmaz zudem die Bedeutung des Theoretisierens als Praxis. Dabei wendet sie sich von der Zielvorstellung einer (all-)umfassenden formalen Theorie ab, welche der Autorin zufolge in sozialwissenschaftlichen Forschungsvorhaben ohnehin nicht zu erreichen ist. Vielmehr geht es laut Charmaz beim Theoretisieren darum, die Daten aufzubrechen und durch Reflexionsprozesse die eigene Positionalität in die Forschung zu integrieren. Ziel ist dabei die Konstruktion von theoretischen Konzepten begrenzter Reichweite, welche nicht dem Postulat der Wertneutralität unterliegen.

Im Fortgang ihrer Ausführungen zu Theorie und zum Theoretisieren geht Charmaz des Weiteren auch auf die Bedeutung der Postmoderne und einer globalen Forschungsperspektive für die Grounded Theory-Forschungen ein. Dabei befasst sie sich unter anderem mit den Gütekriterien für Grounded Theory-Forschungen, der Konzeption von Mixed-Methods-Ansätzen, der Zusammenführung von Grounded Theory-Studien mit der Gerechtigkeitsforschung sowie mit Kritik an dem Konzept der Grounded Theory-Methodologie selbst.

Konzeptionen von Theorie zwischen Positivismus und Interpretativem Paradigma

Charmaz zum Verständnis von Theorie

Der theoretischen Verankerung wird in den Ausführungen von Charmaz große Bedeutung beigemessen. Ihrem Verständnis nach bildet die Konzeption von Theorie einen zentralen Ankerpunkt für jegliche inhaltliche Auseinandersetzung mit der Grounded Theory. Dies gilt insbesondere auch für alle empirischen Studien, welche auf der Grounded Theory als methodologischem Konzept fußen. Ihr Theorieverständnis fasst sie dabei unter Rückgriff auf eine Definition aus einer früheren Publikation (Thornberg und Charmaz 2012, S. 41) wie folgt zusammen:

„A theory states relationships between abstract concepts and may aim for either explanation or understanding.“ (Charmaz 2014, S. 228)

Wie Charmaz betont, zielt die Grounded Theory mit ihrem Theoriebegriff nicht allein auf die Wie- und die Was-Fragen. Vielmehr geht es laut der Autorin auch darum, zu erklären, warum etwas passiert. Die Warum-Fragen können in der Grounded Theory auf unterschiedlichsten Abstraktionsniveaus bearbeitet werden, sodass ihre Beantwortung von erklärenden Generalisierungen bis hin zu abstrakten Konzepten von Beziehungen reichen kann. (Vgl. Charmaz 2014, S. 228)

Charmaz betont bezüglich des Theoriebegriffs allerdings ebenfalls, dass dieser im Diskurs um die Grounded Theory meist äußerst vage formuliert wird. Dies führt sie auf den Umstand zurück, dass viele Grounded Theory-Theoretiker*innen die Auseinandersetzung mit dem Theoriebegriff scheuen und diesen deshalb oftmals nicht explizit definieren. (Vgl. Charmaz 2014, S. 228)

Besonders problematisch erscheint für Charmaz das Fehlen einer Definition von Theorie in Bezug auf den Fachdiskurs um die Gestaltung und Anwendung der Grounded Theory, in welchem sie eine Vielzahl von Kontroversen identifiziert. Diese Dispute führt sie vor allem auf die ideologischen Grabenkämpfe der Sozialwissenschaften zurück, welche im Diskurs um die Grounded Theory aufgrund einer mangelnden Reflexion des epistemologischen Standpunkts und der unzureichenden Auseinandersetzung mit dem Theoriebegriff unreflektiert und verdeckt ausgetragen werden. Konkret setzt Charmaz die Konflikte in der Grounded Theory insbesondere mit den Differenzen zwischen dem interpretativen und dem positivistischen Theorieverständnis in Verbindung. Eine explizite Auseinandersetzung mit dem Theoriekonzept des Positivismus, wie auch mit Vorstellungen der Theorien Interpretativen Paradigmas, ist für sie deshalb unumgänglich. (Vgl. Charmaz 2014, S. 228)

Das Verständnis von Theorie im Positivismus

Charmaz stellt heraus, dass die meisten Definitionen von Theorie aus dem Spektrum des Positivismus stammen. Diese positivistische Auffassung von Theorie beeinflusst für sie eine Vielzahl von sozialwissenschaftliche Studien explizit oder implizit. Ihr Verständnis des positivistischen Theoriekonzepts fasst sie in der folgenden Textstelle prägnant zusammen:

„In general, positivist definitions of theory treat it as a statement of relationships between abstract concepts that cover a wide range of empirical observations. This definition of theory coincides with Abend’s (2008) first of six definitions of theory. In this case, theory means 'a general proposition, or logically-connected system of general propositions, which establishes a relationship between two or more variables' (p. 177). Positivists view their theoretical concepts as variables and focus on observable facts. They construct operational definitions of their concepts for hypothesis testing through efforts to achieve accurate, replicable, empirical measurement.“ (Charmaz 2014, S. 229)

Für Charmaz besteht das Ziel einer positivistischen Theorie somit darin, eine möglichst generelle, abstrakte und universelle Theorie zu generieren. Der Autorin folgend wird Theorie im Verständnis von Positivist*innen nicht konstruiert, sondern als ein Abbild der empirisch ergründbaren Wirklichkeit begriffen, welches in Auseinandersetzung mit dieser gewonnen wurde. Wie sie akzentuiert, gilt es im Positivismus deshalb auch um jeden Preis, eine Kontamination der Daten, Ergebnisse und Theorien durch die Werte und subjektiven Sinnsetzungen der Forscher*innen zu vermeiden. Die Trennung zwischen Fakten und Werten stellt für Charmaz also ebenfalls ein zentrales Element der positivistischen Theoriebildung dar. (Vgl. Charmaz 2014, S. 230)

Wie Charmaz im Anschluss an Turner (2006) präzisiert, ist es allerdings nicht die Absicht aller Positivst*innen, Konzepte immer in Variablen und Nummern überführen. Auch beleuchtet die Autorin, dass nicht alle Wissenschaftler*innen, die positivistischen Grundannahmen folgen, auf möglichst allgemeine und abstrakte Theorien zielen. Vielmehr gibt es laut Charmaz eine Tendenz zur Modifikation der positivistischen Grundlagen, sodass auch die erzeugten Theorien und Konzepte je nach Wissenschaftler*in in Art und Form stark variieren können (vgl. Charmaz 2014, S. 230). Dies gilt der Autorin zufolge insbesondere für Anhänger einer positivistisch geprägten Grounded Theory, wie sie in der folgenden Textstelle ausführt:

„Not all researchers who subscribe to positivistic assumptions would pursue formulating abstract laws, including most grounded theorists who theorize from a positivistic perspective. Instead, they aim to construct generalizations about a limited empirical problem.“ (Charmaz 2014, S. 230)

Charmaz kritisiert hinsichtlich des positivistischen Theoriekonzepts ebenfalls vehement, dass der Positivismus mit seinem Theorieverständnis häufig noch als die einzige wissenschaftliche Methode verstanden wird. Dabei bemängelt sie im Anschluss an Karen Henwood und Nick Pidgeon auch, dass in der qualitativen Forschung generell noch keine intensive Auseinandersetzung mit dem positivistischen Einfluss stattgefunden hat. Mit erneutem Bezug auf Henwood und Pidgeon (2003) spricht sie der Grounded Theory in diesem Zusammenhang ein großes Potenzial zu, eine Diskussion über den positivistischen Einfluss auf die Sozialwissenschaften anzustoßen und so die mit diesem Einfluss verbundenen Probleme zu adressieren. (Vgl. Charmaz 2014, S. 230)

Das Verständnis von Theorie in den Ansätzen des Interpretativen Paradigmas

Charmaz zufolge unterscheidet sich das interpretative Theorieverständnis deutlich von dem positivistischen Konzept. Die Grundlage des interpretativen Ansatzes bildet für die Autorin der Sozialkonstruktivismus, welcher seit dem interpretativen Turn der 1960er Jahre in den Sozialwissenschaften stark an Bedeutung gewonnen hat. Die interpretativen Ansätze der Grounded Theory fußen laut Charmaz aber auch im Symbolischen Interaktionismus, der Phänomenologie, der Feministischen Theorie, der „Cultural Theory“ und dem Poststrukturalismus (vgl. Charmaz 2014, S. 231).

Laut Charmaz liegt dem interpretativen Theorieverständnis die Annahme zugrunde, dass es nicht eine empirisch ergründbare externe Realität gibt, sondern eine Vielzahl durch Menschen konstruierte Wirklichkeiten. Wie sie weiter ausführt, kann es als Konsequenz dieser epistemologischen Annahme im Verständnis der Theoretiker*innen des Interpretativen Paradigmas keine Trennung zwischen Fakten und Werten geben. Vielmehr sind Theorien in dieser Tradition ebenfalls als Konstrukte zu verstehen, in welche die Werte der jeweiligen Wissenschaftler*innen eingeflossen sind (vgl. Charmaz 2014, S. 231). Vor diesem erkenntnistheoretischen Hintergrund können Theorien in der interpretativen sozialwissenschaftlichen Tradition nach Charmaz wie folgt gefasst werden:

„An alternative definition of theory emphasizes interpretation and gives abstract understanding greater priority than explanation. Proponents of this definition view theoretical understanding as gained through the theorist's interpretation of the studied phenomenon. Interpretive theories allow for indeterminacy rather than seeking causality and aiming to theorize patterns and connections.“ (Charmaz 2014, S. 230)

Für Charmaz stehen in den Ansätzen des Interpretativen Paradigmas somit vor allem das Verstehen von Handlungen sowie die (Re-)Konstruktion von Bedeutungen im Vordergrund. Charmaz zufolge ist das Ziel dabei weniger eine allgemeine, universelle und abgeschlossene Theorie, sondern vielmehr eine begrenzte theoretische Konzeption. Diese theoretischen Konstrukte sind für sie in ihrer Reichweite begrenzt und müssen stets mit Blick auf die in ihnen gebundenen subjektiven Standpunkte betrachtet werden. Charmaz fasst diese Ziele des Theoretisierens im Rahmen des Interpretativen Paradigmas in der folgenden Aufzählung prägnant zusammen:

„In brief, interpretive theory aims to:
* Conceptualize the studied phenomenon to understand it in abstract terms
* Articulate theoretical claims pertaining to scope, depth, power, and relevance of a given analysis
* Acknowledge subjectivity in theorizing and hence recognize the role of experience, standpoints, and interactions, including one's own
* Offer an imaginative theoretical interpretation that makes sense of the studied phenomenon“
(Charmaz 2014, S. 231)

Das positivistische und pragmatistische Theorieverständnis im Vergleich

Die folgende Tabelle von Charmaz kontrastiert anschaulich das positivistische Theorieverständnis mit dem der Ansätze des Interpretativen Paradigmas. Allerdings nimmt Charmaz vorab eine Einschränkung vor und fokussiert sich aufgrund ihres eigenen theoretischen und epistemologischen Standpunktes auf eine Sonderform interpretativer Theorie, den Pragmatismus. (Vgl. Charmaz 2014, S. 231)

Positivist Pragmatist
Follows the scientific method Emphasizes problem-solving
Assumes an external reality Assumes a fluid, somewhat indeterminate reality
Unbiased observer
Discovers abstract generalities Defines multiple perspectives
Explains empirical phenomena Studies people's actions to solve emergent problems
Separates facts and values Joins facts and values

(Charmaz 2014, S. 232)

Objektivistische und Konstruktivistische Grounded Theory

Die Objektivistische Grounded Theory und ihr Theorieverständnis

Für Charmaz ist es essenziell, dass nicht alle Wissenschafler*innen, die sich an der objektivistisch geprägten Grounded Theory orientieren, die Grundannahmen des Positivismus ungefiltert übernehmen. Wie die Autorin hervorhebt, ist ihnen jedoch meist gemein, dass der Empirismus das Fundament ihrer Forschung bildet, dass der historische und kontextuelle Einfluss auf die Daten eliminiert werden soll und dass Daten als objektive Fakten angesehen werden, welche einer erkennbaren Welt zu entnehmen sind (vgl. Charmaz 2014, S. 237). Das folgende Zitat veranschaulicht diesen Standpunkt:

„In this approach, grounded theorists make conceptual sense of data from rigorous analysis of these data. They understand meaning as inhering in the data and the grounded theorist as discovering it.“ (Charmaz 2014, S. 237)

Wissenschaftler*innen der Objektivistischen Grounded Theory sind somit für Charmaz dem Wertneutralitätspostulat verbunden, weshalb sie versuchen ihre eigene Positionalität klar von ihrer Forschung zu trennen. Dabei wahren sie eine analytische Distanz zu den Untersuchungssubjekten bzw. -objekten und versuchen durch Reflexionsprozesse ihren eigenen Einfluss auf die Daten zu reduzieren, sodass diese unverfälscht und „objektiv“ erfasst werden können. (Vgl. Charmaz 2014, S. 237)

Ziel der Objektivistischen Grounded Theory ist es dabei, über die rein deskriptive Ebene hinauszugehen. Vielmehr beabsichtigen diese Ansätze laut Charmaz, abstrakte Konzepte und Theorien zu erzeugen, was die Autorin vor allem mit Bezug auf Barney Glaser verdeutlicht. Dieser hebt hervor, dass Beschreibungen immer als wertgebunden zu verstehen sind und nur von Zeit, Ort und Situation unbeeinflusste theoretische Generalisierungen einen objektiven Blick auf die Daten und die Welt ermöglichen. (Vgl. Charmaz 2014, S. 238)

Die Konstruktivistische Grounded Theory und ihr Theorieverständnis

 Objektivistische und Konstruktivistische Grounded Theory im Vergleich

Die Konstruktivistische Grounded Theory entstand als Alternative zur Objektivistischen Grounded Theory, wie Charmaz erläutert. Sie umreißt das Konzept Konstruktivistischer Grounded Theories in aller Kürze wie folgt:

„Consistent with my stance in earlier chapters, a constructivist approach places priority on the studied phenomenon and sees both data and analysis as created from shared experiences and relationships with participants and other sources of data.“ (Charmaz 2014, S. 239)

In diesem Zitat sowie in den weiterführenden Erörterungen Charmaz’ wird deutlich, dass die Konstruktivistische Grounded Theory im Gegensatz zur Objektivistischen Grounded Theory alternative Blickwinkel auf empirische Phänomene eröffnet und auf abweichenden Grundannahmen fußt. Geht die Objektivistische Grounded Theory von einer externen Realität aus, welche empirisch ergründbar ist, so liegt der Konstruktivistischen Grounded Theory ein Konzept von multiplen Realitäten zugrunde. Somit bleibt jegliche Theorie selbst standortgebunden und wird als ein soziales Konstrukt verstanden, welches unumgänglich zeit-, orts- und situationsgebunden ist. Die folgenden Textstellen verdeutlichen dieses Verständnis von Charmaz besonders anschaulich:

„Constructivist grounded theorists assume that both data and analyses are social constructions that reflect the conditions of their production.“ (Charmaz 2014, S. 240)
„We construct research processes and products, but these constructions occur under pre-existing structural conditions, and are influenced by the researcher‘s perspectives, privileges, positions, interaction, and geographical locations.“ (Charmaz 2014, S. 240)

Folglich kommt auch dem Element der Reflexion der Forscher*innen in der Konstruktivistischen Grounded Theory eine andere Rolle zu. Für die Autorin sind die subjektiven Sinnsetzungen, Werte und Vorstellungen der Forscher*innen selbst Daten, welche durch die Integration in den Forschungsprozess ein umfassenderes Verständnis sozialer Wirklichkeit ermöglichen (vgl. Charmaz 2014, S. 240). Das Ziel konstruktivistisch inspirierter Grounded Theories fasst Charmaz schließlich folgendermaßen zusammen:

„The constructivist approach fosters renewal and revitalization of grounded theory by integrating methodological developments with the original statement of the method. This approach challenges the assumption of creating general abstract theories and leads us to situated knowledges (Haraway, 1991), while simultaneously moving grounded theory further into interpretive social science.“ (Charmaz 2014, S. 241)

Die Bedeutung des Theoretisierens in der Konstruktivistischen Grounded Theory

Von der abstrakten Theorie zum Theoretisieren

„Whether positivist or interpretive, theories are rhetorical – although interpretive theorists more often acknowledge this point than their positivist counterparts.“ (Charmaz 2014, S. 233)

Wie das vorangehende Zitat verdeutlicht, geht Charmaz in ihren Erörterungen davon aus, dass Theoretiker*innen immer auch rhetorisch arbeiten, da sie versuchen ihre Leser*innen von den dargelegten Konzepten und Schlussfolgerungen zu überzeugen. Theorien zielen laut der Autorin somit immer auch darauf ab, die Rezipient*innen zu beeinflussen und die Ansichten der Forscher*innen zu vermitteln. Charmaz zufolge muss Theorien daher generell eine große Reichweite zugeschrieben werden, da sie das Potenzial besitzen, den Blickwinkel von Rezipient*innen auf die Welt zu verändern und Phänomenen neue Bedeutungen zuzuschreiben. (Vgl. Charmaz 2014, S. 233)

Bedeutend an Charmaz’ Ausführungen zur Theoriebildung ist zudem, dass sie darin dem Theoretisieren eine größere Bedeutung beimisst als der finalen umfassenden Theorie (vgl. Charmaz 2014, S. 233). Unter Theoretisieren versteht die Autorin eine Praxis, welche nicht zwangsläufig auf eine allumfassende und abstrakte Theorie hinzielen muss. Für Charmaz sind im Besonderen auch theoretische Konzepte mit begrenzter Gültigkeit und Reichweite erstrebenswert, welche im Rahmen des Theoretisierens erzeugt werden.

Die Praxis des Theoretisierens

Charmaz zum analytischen Denken

„Theorizing means stopping, pondering, and thinking afresh. We stop the flow of studied experience and take it apart. To gain theoretical sensitivity, we look at studied life from multiple vantage points, make comparisons, follow leads, and build on ideas. Because you chart your direction through acts of theorizing, you may not be able to foresee endpoints or stops along the way.“ (Charmaz 2014, S. 244)

Wie durch das vorstehende Zitat nochmals deutlich wird, erfüllt das Theoretisieren in der Grounded Theory für Charmaz eine Vielzahl an wichtigen Aufgaben. Ein zentraler Effekt des Theoretisierens besteht für sie im Aufbrechen der theoretischen Vorannahmen und Perspektiven der Wissenschaftler*innen durch die Zuwendung zum Feld. Darüber hinaus stellt sie die Entwicklung neuer Fragestellungen während des Theoretisierens als besonders wichtig heraus. (Vgl. Charmaz 2014, S. 245)

Die konkrete Praxis des Theoretisierens variiert für Charmaz dabei ebenfalls in Abhängigkeit vom Feld und dessen Anforderungen. Sie betont in diesem Zusammenhang insbesondere die Bedeutung des Gerundiums beim Codieren und beim Memoschreiben, da diese hilfreich sein können, um statische Themen und Kategorien aufzubrechen. Charmaz empfiehlt für ein anregendes Theoretisieren zudem, den Fokus auf Prozesse sowie Handlungen zu legen. Dies begründet sie damit, dass ein solcher Zugang Forscher*innen helfen kann, nicht auf die deskriptive Ebene zu verfallen, wie es etwa bei einem Individuen- oder Themenfokus leicht passieren könne. Charmaz gibt im Anschluss an Glaser bezüglich des analytischen Momentums noch den Hinweis, dass man „versuchen solle für alle theoretischen Möglichkeiten offen zu bleiben“ (Charmaz 2014, S. 246; frei übersetzt von CW). (Vgl. Charmaz 2014, S. 246)

Darüber hinaus benennt Charmaz den Prozess des Kategorisierens als zentral für das Theoretisieren. Dabei geht sie allerdings nicht genauer auf die Konstruktion der Kategorien selbst ein, sondern fokussiert vornehmlich das Entwickeln von Leitkategorien und theoretischen Konzepten. Der Autorin folgend sind vor allem die Kategorien zu theoretischen Konzepten weiterzuentwickeln, welche die Daten am effektivsten repräsentieren (vgl. Charmaz 2014, S. 247). Charmaz schlägt Forscher*innen dabei ein Vorgehen vor, in welchem die unterschiedlichen (Leit-)Kategorien miteinander verglichen werden sollen. Ziel dieses Verfahrens ist es, eine „abstraktere aber gleichzeitig aussagekräftige Kategorie zu erstellen, welche die höherrangigen Kategorien umfasst“ (Charmaz 2014, S. 247; frei übersetzt CW). Leitkategorien lassen sich laut Charmaz durch dieses Vorgehen zu theoretischen Konzepten ausbauen. Den Prozess der Konstruktion der theoretischen Konzepte beschreibt die Autorin in der nachfolgenden Textstelle besonders anschaulich. Deutlich wird anhand dieses Zitats zudem noch einmal, wie stark die Bedeutung und Nutzung der theoretischen Konzepte in der Objektivistischen und der Konstruktivistischen Grounded Theory variieren.

„We choose to raise certain categories to concepts because of their theoretical reach, theoretical centrality, incisiveness, generic power, and relation to other categories. Raising categories to concepts includes subjecting them to further analytic refinement and involves showing their relationships to other concepts. For objectivists, these concepts serve as core variables and hold explanatory and predictive power. For constructivists, theoretical concepts serve as interpretive frames and offer an abstract understanding of relationships.“ (Charmaz 2014, S. 247)

Im Rahmen ihrer Konzeption vertritt Charmaz den dargelegten konstruktivistischen Standpunkt. Diesbezüglich hebt sie in ihren Ausführungen mehrfach hervor, dass die Daten und der analytische Forschungsprozess ungeachtet des Bottom-Up Ansatzes der Konstruktivistischen Grounded Theory stark durch die Entscheidungen sowie Handlungen der Forscher*innen geprägt sind. Unter Rückgriff auf eine frühere Publikation (Charmaz 1990) beschreibt sie dies in ihren eigenen Worten wie folgt:

„Rather than discovering order within the data, we create an explication, organization, and presentation of the data“ (Charmaz 2014, S. 248).

Dabei betrachtet sie den Forschungsprozess stets als eingebettet in den historischen Kontext und in die Disziplingeschichte. (Vgl. Charmaz 2014, S. 247 ff.)

Einordnung und Bewertung einer Grounded Theory

Kritik an der Grounded Theory

Der Diskurs um die Grounded Theory ist laut Charmaz durch eine Vielzahl von kritischen Stimmen geprägt. Im Zentrum dieser Auseinandersetzungen um die Grounded Theory befinden sich nicht zuletzt auch der Theoriebegriff bzw. die epistemologischen Grundannahmen der Theoretiker*innen. Des Weiteren stehen laut der Autorin die Logik der Grounded Theory-Forschung, das durch sie implizierte Vorverständnis, ihr Konzept einer induktiven Forschung, ihr Individuen-Fokus, ihre dekontextualisierende Analyseformen und die konkrete Durchführung von Studien in der Kritik. (Vgl. Charmaz 2014, S. 242 ff.)

Charmaz hebt in ihrer Auseinandersetzung mit diesen Kritikpunkten jedoch hervor, dass die Kritik sich meist nur auf einzelne Formen und Varianten der Grounded Theory rekurriere. Auch stellt sie heraus, dass die Kritik sich meist auf die ursprüngliche Grounded Theory beziehe und oftmals einzelne Aspekte der Grounded Theories aus dem Zusammenhang löse (vgl. Charmaz 2014, S. 241 ff.). Darauf aufbauend entkräftet Charmaz in ihrer Argumentation viele der kritischen Einwände. Ihre gegen die Kritiker*innen gewandten Argumente fasst sie dabei selbst wie folgt zusammen:

„Critics of grounded theory commonly miss five crucial points about the method: 1) theorizing is an on-going activity; 2) grounded theory methods provide constructive ways to proceed with this activity; 3) the method involves abduction as well as induction; 4) the research problem and the researcher's unfolding interests can shape the content of theorizing, rather than the method presupposing the content; and 5) the products of theorizing reflect how researchers acted on these points.“ (Charmaz 2014, S. 244)

Gütekriterien für Grounded Theory-Forschungen

Charmaz erklärt, dass es keine fixen Gütekriterien zur Bewertung einer Grounded Theory gibt. Vielmehr betont sie, dass die Kriterien zur Bewertung einer Grounded Theory abhängig von dem jeweiligen epistemologischen Verständnis der Wissenschaftler*innen, dem Fokus des Forschungsvorhabens und der Beschaffenheit des Untersuchungsfeldes variieren. In folgendem Zitat unternimmt Charmaz dennoch einen Versuch verallgemeinernd darzustellen, was sie unter einer guten Grounded Theory versteht.

„When born from reasoned reflections and principled convictions, a grounded theory that conceptualizes and conveys what is meaningful about a substantive area can make a valuable contribution. Add aesthetic merit and analytic impact, and then its influence may spread to larger audiences“ (Charmaz 2014, S. 338)

Ergänzend zu dieser Rahmung stellt Charmaz noch die folgenden Kriterien zusammen, welche ihr zufolge ebenfalls eine Anregung zur Bewertung einer Grounded Theory darstellen:

Credibility Usefulness
* Has your research achieved intimate familiarity with the setting or topic?
* Are the data sufficient to merit your claims? Consider the range, number and depth of observations contained in the data.
* Have you made systematic comparisons between observations and between categories?
* Do the categories cover a wide range of empirical observations?
* Are there strong logical links between the gathered data and your argument and analysis?
* Has your research provided enough evidence for your claims to allow the reader to form an independent assessment - and agree with your claims?
* Does your analysis offer interpretations that people can use in their everyday worlds?
* Do your analytic categories suggest any generic processes?
* If so, have you examined these generic processes for tacit implications?
* Can the analysis spark further research in other substantive areas?
* How does your work contribute to knowledge? How does it contribute to making a better world?
Resonance Originality
* Do the categories portray the fullness of the studied experience?
* Have you revealed both liminal and unstable taken-for-granted meanings?
* Have you drawn links between larger collectivities or institutions and individual lives, when the data so indicate?
* Does your grounded theory make sense to your participants or people who share their circumstances? Does your analysis offer them deeper insights about their lives and worlds?
* Are your categories fresh? Do they offer new insights?
* Does your analysis provide a new conceptual rendering of the data?
* What is the social and theoretical significance of this work?
* How does your grounded theory challenge, extend, or refine current ideas. concepts, and practices?

Tabelle in direktem Anschluss an Kathy Charmaz (2014, S. 237 ff.)

Aktuelle Entwicklungen im Kontext der Grounded Theory

Die Grounded Theory in Mixed-Methods-Ansätzen

Die Verbindung der Grounded Theory mit Mixed-Methods-Forschungen betrachtet Charmaz insbesondere hinsichtlich deren Zielsetzung. Sie stellt in diesem Zusammenhang heraus, dass diese Ansätze meist versuchen, durch die Kombination verschiedener Methoden aussagekräftigere Ergebnisse zu erzielen. Bei der Bewertung der Vorteile der Grounded Theory für ein Mixed-Methods-Projekt kommt Charmaz zu dem Schluss, dass diese sich vornehmlich durch die Induktivität der Methode ergeben. Ausführlicher erörtert sie:

„The inductive, iterative process of grounded theory can complement moving between methods and mixing the results. The inductive, iterative process in qualitative grounded theory studies can lead researchers to seeking quantitative data. After developing an analysis, grounded theorists may subject their emergent theoretical Frameworks to quantitative testing (Hesse-Biber, 2010b, 2010c). Quantitative researchers may adopt grounded theory explorations to help them refine survey tools. Mixed methods research benefits when grounded theorists can follow up with qualitative research on intriguing but undeveloped quantitative responses. To the extent that a mixed methods design can accommodate theoretical sampling, the project results will be stronger.” (Charmaz 2014, S. 324)

Ungeachtet der dargelegten Vorteile verdeutlicht Charmaz aber auch, dass sich bei der Integration der Grounded Theory in eine Mixed-Methods-Forschung eine Vielzahl von Problemen ergeben kann. Dies gilt für sie insbesondere dann, wenn in der Anwendungspraxis von Mixed-Methods-Verfahren die Spezifika der integrierten Forschungsmethoden nicht angemessen berücksichtigt werden (vgl. Charmaz 2014, S. 323). Zudem ist für Charmaz gerade die Konstruktivistische Grounded Theory durch ihre epistemologischen Grundlagen und ihre immanente Forschungslogik nur bedingt mit anderen Methoden kombinierbar. Auch weist sie in ihren Ausführungen darauf hin, dass gerade die Integration der Konstruktivistischen Grounded Theory in einen Mixed-Methods-Ansatz ethische Probleme mit sich bringe, welche durch Forscher*innen unbedingt reflektiert werden sollten. So bezeichnet sie es beispielsweise als problematisch, wenn bei der Durchführung von Interviews auf die verstehende Rekonstruktion von subjektiven Sinnsetzungen gezielt wird, die Forscher*innen im Rahmen ihrer Auswertungs- und Analyseverfahren jedoch von diesem Ziel abweichen. (Vgl. Charmaz 2014, S. 325)

Die dargelegten Probleme schließen für Charmaz allerdings eine Integration der Konstruktivistischen Grounded Theory in verschiedene Mixed-Methods-Ansätze keinesfalls aus, sofern auf die Besonderheiten der Konstruktivistischen Grounded Theory eingegangen wird. Etwas ausführlicher expliziert sie dies in der folgenden Textstelle:

„In my view, whatever the mix or combination – be it qualitatively driven with a quantitative component, quantitatively driven with qualitative additions, and all permutations within and amongst these components – the criteria for effective mixed methods research rest on the analytic coherence of the research product, integrated findings, and illumination of the research problem“ (Charmaz 2014, S. 325)

Die Grounded Theory und die Gerechtigkeitsforschung

Charmaz setzt sich in ihrer Arbeit zudem auch mit der Beobachtung auseinander, dass die Grounded Theory in jüngerer Vergangenheit immer stärker in Forschungen zur sozialen Gerechtigkeit eingesetzt wird. Diesbezüglich erklärt sie, dass die Grounded Theory generell eine Vielzahl an Werkzeugen bereitstellen kann, welche in der Ungleichheitsforschung von Nutzen sein können. Als besonders vorteilhaft stellt sie unter anderem die Möglichkeiten der Grounded Theory heraus, Forschung über das deskriptive Level hinaus zu führen, ohne dabei die Verbindung zur empirischen Wirklichkeit zu verlieren. Gerade der Konstruktivistischen Grounded Theory schreibt sie diesbezüglich eine herausgehobene Stellung zu. Dies begründet sie vor allem mit der Verwurzelung des Ansatzes im Pragmatismus, die es für Charmaz ermöglicht, die subjektiven Erfahrungen von Akteuren mit den vorherrschenden sozialen Rahmenbedingungen in einer systematischen Analyse zusammenbringen (vgl. Charmaz 2014, S. 326). Charmaz stellt in diesem Zusammenhang auch die Induktivität und Reflexivität der Konstruktivistischen Grounded Theory als besonders positiv heraus, was sie in der folgenden Textstelle anschaulich erörtert:

„Adopting grounded theory strategies in social justice research means that we cannot import a set of concepts such as hegemony and domination and paste them onto the realities in the field. Instead, we can treat them as sensitizing concepts - to begin inquiry and evaluate if, when, how, to what extent, and under which conditions these concepts become relevant to the study. We need to treat concepts as problematic and look for their characteristics as lived and understood, not as given in textbooks“ (Charmaz 2014, S. 326)

Darüber hinaus beleuchtet Charmaz die Gerechtigkeitsforschung noch aus einer anderen Perspektive. Hierbei betont sie insbesondere die inhaltlichen Anregungen, die sich bei der Auseinandersetzung mit diesem Themenkomplex ergeben. Als besonders vielversprechend sieht sie dabei erneut die Konstruktivistische Grounded Theory Forschungen an, welche die Bedeutung von Ressourcen, Hierarchien, Ideologien, Politiken und Praktiken für die soziale Ungleichheit in den Blick nehmen (vgl. Charmaz 2014, S. 327). In diesem Zusammenhang spricht Charmaz der Verbindung der Konstruktivistischen Grounded Theory mit der Ungleichheitsforschung ein enormes kritisches Potenzial zu. Warum sie zu dessen Nutzung anregen möchte, expliziert sie in der folgenden Textstelle:

„By asking such questions, I aim to stimulate thinking and to suggest diverse ways that critical inquiry and grounded theory research may join. The potential of advancing such endeavors has been undertaken by symbolic interactionists who point the way to demonstrating micro consequences of structural inequalities (Anderson & Snow, 2000; Marvasti & McKinney, 2011; Morris, 2012; Schwalbe et al., 2000; Wolkomir, 2001, 2006). Bringing critical inquiry and grounded theory together furthers these efforts“ (Charmaz 2014, S. 328)

Für Charmaz steht hinter ihren Überlegungen der Gedanke, Themen, wie „Fairness, Gerechtigkeit, demokratische Prozesse, Status und Hierarchie, individuelle und kollektive Rechte sowie Verpflichtungen“ (Charmaz 2014, S. 326; frei übersetzt von CW) verstärkt in den Blick zu nehmen. Für sie ist es aus einer moralischen Perspektive besonders erstrebenswert, über die Menschheit, gute Gesellschaftsformen sowie eine bessere Welt nachzudenken und dabei Handlungspraxen, Organisationen sowie soziale Institutionen kritisch zu hinterfragen (vgl. Charmaz 2014, S. 326).

Die Grounded Theory in der globalen Perspektive

Charmaz zur Bedeutung der Postmoderne und des Konstruktivismus

„The historical moment when Glaser and Strauss (1967) developed grounded theory occurred a few years before the tumult of the late 1960s.The method emerged during a time of unquestioned capitalism, taken-for-granted hierarchies of race, class, and gender in the United States, and of political and economic dominance beyond its borders.“ (Charmaz 2014, S. 328)

Wie aus dem vorangestellten Zitat ersichtlich wird, befasst sich Charmaz im Rahmen ihrer Ausarbeitungen zur Grounded Theory auch mit dem soziohistorischen Standpunkt der Methodologie. Sie begreift die Grounded Theory selbst als kulturelles Produkt und betrachtet ihren weltweiten Einfluss unter Rückgriff auf Positionen anderer Wissenschaftler*innen kritisch. Charmaz verweist in diesem Zusammenhang auch auf die kolonialistischen Implikationen der Grounded Theory. In ihren kurzen Erörterungen zu dieser Thematik stellt sie unter anderem mit Bezug auf Elaine Keane (2011) heraus, dass ein Zuschnitt der Grounded Theory auf die kulturellen Traditionen der Anwendungsregion nicht zwangsläufig nötig sei, da generell bereits eine kontinuierliche Anpassung der Grounded Theory-Methodologie an das untersuchte Feld erfolge. Dabei sei jedoch nicht auszuschließen, dass der jeweilige kulturelle Kontext das Sammeln von Daten sowie die Forschungsbeziehungen beeinflussen und verändern kann. (Vgl. Charmaz 2014, S. 329 ff.)

Bezüglich der internationalen Anwendung der Grounded Theory weist Charmaz des Weiteren den verwendeten Sprachen eine besondere Rolle zu, da diese die Forschung durch ihre spezifischen Charakteristika prägen. Sie bezieht sich allerdings nicht ausschließlich auf die durch Sprache transportierten Strukturbedingungen und -vorgaben. Darüber hinaus stellt sie auch einige Problematiken und Chancen heraus, welche sich bei der Nutzung von unterschiedlichen Sprachen im Forschungsprozess ergeben können. So kann für Charmaz beispielsweise das Codieren in einer anderen Sprache als der Muttersprache die Ergebnisse einer Forschung entscheidend (positiv wie auch negativ) beeinflussen. (Vgl. Charmaz 2014, S. 331 ff.)

Charmaz problematisiert hinsichtlich des globalen Anwendungskontextes der Grounded Theory zudem, dass die Forschungskultur im Umgang mit der Grounded Theory von Land zu Land starken Variationen unterliegt. Sie beklagt diesbezüglich insbesondere, dass an vielen Orten neuere Entwicklungen in der Grounded Theory Forschung (noch) nicht berücksichtigt werden. Auch das abweichende Verständnis darüber, was Grounded Theory bedeutet, bezeichnet sie als problematisch für die internationale Zusammenarbeit. Doch Charmaz stellt die genannten Probleme nicht als unüberwindbar dar, da die weltweite gegenstandsbezogene Adaption der Methodologie grundsätzlich im Sinn einer offenen Grounded Theory ist und somit auch positiv gewertet werden kann. (Vgl. Charmaz 2014, S. 334 ff.)

Reaktionen auf Charmaz‘ Ansatz einer Konstruktivistischen Grounded Theory

Die dargelegte Konzeption einer Konstruktivistischen Grounded Theory von Kathy Charmaz wird in verschiedenen Rezensionen zu ihrem Buch intensiv diskutiert und besprochen. Die in diesen Publikationen dargelegten Kritiken und Anmerkungen beziehen sich dabei auch auf zentrale Aspekte des Theoriekonzepts von Charmaz.

Kommentar von Barney Glaser

Barney Glaser setzt sich in seinem Artikel „Constructivist Grounded Theory?“ intensiv mit den Thesen von Kathy Charmaz auseinander. Hierbei betrachtet er vor allem Charmaz‘ Ausführungen zum Konstruktivismus der Grounded Theory. Glaser kritisiert dabei unter anderem, dass Charmaz die Bedeutung des Konstruktivismus für die Grounded Theory überbewerte. Für Glaser ist das Konstruieren im Rahmen des Theoretisierens zwar auch unumgänglich, im Gegensatz zu Charmaz stellt er die Grounded Theory allerdings explizit als Methodologie dar, welche die Bedeutung der Konstruktionen sowie den Einfluss der Forscher*innen reduzieren kann und soll. Er führt dies wie folgt aus:

„So we can see that constructivism—joint build of an interactive, interpreted, produced data — is an epistemological bias to achieve a credible, accurate description of data collection — sometimes. But it depends on the data. If the data is garnered through an interview guide that forces and feeds interviewee responses then it is constructed to a degree by interviewer imposed interactive bias. But, as I said above, with the passive, non structured interviewing or listening of the GT interview-observation method, constructivism is held to a minimum. […] As I have said, to the degree a researcher's personal predilection biases the data, it is a variable to consider, for example 'she thinks that way because she is a feminist.' But as I have also said, the constant comparative process reveals these biases. AND I am also quite gratified to see that most researchers, I have worked with, take great pains to not intrude their own views in the data. In addition, the abstractions that emerge become independent of the researcher bias that CHARMAZ worries about. (Glaser 2002, A. 14)

Eine durch den Konstruktivismus geprägte Grounded Theory, wie sie Charmaz vertritt, führt für Glaser somit weg von objektiven Daten, da sie diese immer mit den Interessen der Forscher*innen vermischt. Glaser zufolge wendet sich Kathy Charmaz durch diese Prämissen von den Grundsätzen der Grounded Theory ab und wandelt sie zu einem einfachen Instrument der Qualitativen Datenanalyse (QDA) um, welches nicht mehr fähig ist, Forschungen über die deskriptive Ebene hinaus zu heben. Des Weiteren unterstellt er der Konstruktivistischen Grounded Theory in diesem Zusammenhang, dass sie die Perspektiven der interviewten Personen herabwürdigt, da sie den Interpretationen der Forscher*innen ähnlich viel Raum einräumt wie denen der Interviewten selbst. Für Glaser wird durch Charmaz‘ Ansatz die grundlegende Aufgabe der Grounded Theory vernachlässigt, welche er folgendermaßen definiert:

”Let us be clear, researchers are human beings and therefore must to some degree reify data in trying to symbolize it in collecting, reporting and coding the data. In doing so they may impart their personal bias and/or interpretations—ergo this is called constructivist data. But this data is rendered objective to a high degree by most research methods and GT in particular by looking at many cases of the same phenomenon, when jointly collecting and coding data, to correct for bias and to make the data objective. This constant correction succeeds in both QDA methods and in GT's methodology especially so because the corrections are conceptualized into categories and their properties, hence become abstract of researcher interpretations. The latent patterns—categories—hold as objective if the GT researcher carefully compares much data from many different participants. Personal input by a researcher soon drops out as eccentric and the data become objectivist not constructionist.” (Glaser 2002, A. 24)

Laut Glaser müssen Grounded Theories demnach auch zukünftig auf die Produktion von abstrakten Theorien zielen und dürfen nicht, wie von Charmaz gefordert, auf der Ebene der theoretischen Konzepte verweilen. Anders als Charmaz sieht er darin gerade nicht die Gefahr des Verschleierns von subjektiven Standpunkten, sondern den einzigen Weg, um diese zu relativieren. Eine Abwendung von der Zielvorstellung einer möglichst objektiven Theorie ist für Glaser dabei auch eine Abwendung von dem zentralen Prinzip der Grounded Theory als Methodologie selbst und führt ihm zufolge den Ansatz der Grounded Theory insgesamt ad absurdum. Er spricht sich aus diesem Grund in aller Deutlichkeit gegen den Ansatz von Charmaz aus, was er wie folgt darlegt: „Her constructivist position is totally irrelevant to GT methodology, EXCEPT as it is allowed to remodel GT methodology by default. Do not let it.“ (Glaser 2002, A. 32)

Kommentar von Paula Krüger und Imke K. Meyer

Die Publikation Constructivising Grounded Theory wird auch von Paula Kürger und Imke K. Meyer in ihrem Buchkommentar intensiv besprochen. Die Autorinnen gehen dabei ebenfalls auf die Schwächen und Stärken des Werkes ein. Hervorgehoben werden insbesondere die Anwendungsmöglichkeiten des Ansatzes, welche sich durch die von Charmaz entwickelten praktischen Handlungsempfehlungen und Richtlinien ergeben. Als besonders positiv würdigen Krüger und Meyer in diesem Zusammenhang zudem, dass Charmaz keine festen Kriterien vorgibt, sondern „die Lesenden an einer langen Leine“ (Meyer und Krüger 2007, A. 44) lässt, sodass diese die Methodologie je nach Anwendung variieren können. Die Gegenüberstellung von Objektivistischer und Konstruktivistischer Grounded Theory beurteilen die Autorinnen am Werk von Charmaz ebenfalls als positiv, wie die folgenden Ausführungen von Krüger und Meyer zeigen:

„Eine weitere Stärke des Buches ist, dass CHARMAZ explizit unterschiedliche Ansätze und Forschungen vorstellt. Wenn sie auch deutlich einen konstruktivistischen Ansatz verfolgt, wertet sie eher objektivistisch orientierte Arbeiten nicht ab und lässt den Lesenden so die Freiheit, sich selber zu positionieren.“ (Krüger und Meyer 2007, A. 45)

Kritik an dem von Charmaz verfassten Werk üben Krüger und Meyer lediglich bezüglich einiger formaler und didaktischer Aspekte.

Quellen

Allen, L. M. (2010). A critique of four grounded theory texts. The Qualitative Report, 15(6), 1606.

Charmaz, K. (1990). Discovering’ chronic illness: Using grounded theory. SSM Social Science & Medicine, 30(11), 1161–1172.

Charmaz, K. (2014). Constructing grounded theory (2nd edition.). London ; Thousand Oaks, Calif: Sage.

Gibbs, G. R. (2015). A Discussion with Prof Kathy Charmaz on Grounded Theory. https://www.youtube.com/watch?v=D5AHmHQS6WQ&t=1988s. Zugegriffen: 28. Juli 2017

Glaser, B. G. (2002). Constructivist Grounded Theory? Forum Qualitative Sozialforschung. doi:10.17169/fqs-3.3.825

Henwood, K. & Pidgeon, N. (2003). Grounded theory in psychological research. In P. M. Camic, J. E. Rhodes, & L. Yardley (Hrsg.), Qualitative research in psychology: expanding perspectives in methodology and design. Washington, DC: American Psychological Association.

Keane, E. (2011). Dependence-deconstruction: widening participation and traditional-entry students transitioning from school to higher education in Ireland. Teaching in Higher Education, 16(6), 707–718. doi:10.1080/13562517.2011.570437

Krüger, P. & Meyer, I. K. (2007). Review Essay: Eine Reise durch die Grounded Theory. Forum Qualitative Sozialforschung. doi:10.17169/fqs-8.1.226

Thornberg, R. & Charmaz, K. (2012). Grounded Theory. In S. D. Lapan (Hrsg.), Qualitative research: an introduction to methods and designs. San Francisco: Jossey-Bass.

Turner, J. H. (2006). Explaining the social world: Historicism versus Positivism. The Sociological Quarterly, 47(3), 451–463. doi:10.1111/j.1533-8525.2006.00053.x

Drucken/exportieren