Inwiefern eignet sich die Kritische Theorie für die intersektionale feministische Theoriebildung?
Gegenstand
Kritische Theorie kann als Impulsgeberin für intersektionale feministische Theorien betrachtet werden, wenngleich sie in einem Spannungsverhältnis zueinander stehen. Nach Karin Stögner (LINK) greifen feministische Theorien in unterschiedlichem Ausmaß Konzepte der Kritischen Theorie auf, „arbeiten sich daran ab oder verwerfen sie zu Gänze“ (Stögner 2022: 13). Diese Perspektive teilen auch die Soziologinnen Regina Becker-Schmidt und Gudrun-Axeli Knapp (LINK2x), die das Verhältnis von Kritischer Theorie und feministischer Theorie ebenfalls untersucht haben. Inwiefern es sich um hierbei um ein produktives Spannungsverhältnis handelt, das trotz Kritiken an der Kritischen Theorie auch Entwicklungspotential für die feministische Theoriebildung bereithält, soll Gegenstand dieses Wikis sein. Schlüsselbegriffe der Kritischen Theorie Schlüsselbegriffe der Kritischen Theorie
Totalität: Mit seinem Begriff der „Totalität“ beschreibt Adorno (LINK) die Organisation des gesellschaftlichen Gefüges als Ganzes (vgl. Becker-Schmidt 1991: 384). Er fordert auf, Gesellschaft als ein historisch konstituierter Verflechtungszusammenhang von Personen, Institutionen und Funktionsbereichen zu begreifen. Die Beziehung der einzelnen Gesellschaftssegmente untereinander – beispielsweise die von Individuum und Gesellschaft – entspricht einem Vermittlungszusammenhang, der von Macht- und Herrschaftsverhältnissen durchzogen ist (vgl. Knapp 2012: 141). Gesellschaftliche Totalität setzt damit voraus, alle Einzelphänomene des Strukturzusammenhangs als strukturell vermittelt zu betrachten (vgl. Becker-Schmidt 1991: 385). „Gesellschaft ist eine Kategorie der Vermittlung […], ein Funktions- und Verhältnisbegriff und kein Substanzbegriff“ (Knapp 2012: 142). Obwohl sich Gesellschaft nicht personalisieren oder durch die Kombination von Einzelanalysen begreifen lässt, existiert Herrschaft nicht ohne personelle Herrschaftsträger (vgl. Becker-Schmidt: 386; Knapp 2012: 141).
(Äußere) Vergesellschaftung: Die Begriffe Vergesellschaftung und Totalität sind eng miteinander verbunden. Vergesellschaftung wird hierbei als doppelter Prozess verstanden: Zum einen impliziert der Begriff die Tendenz des Kapitalismus, sich in alle denkbaren Lebensbereiche und Lebensformen gesellschaftlicher Reproduktion zu entfalten (vgl. Becker-Schmidt 1991: 384). Zum anderen wird Vergesellschaftung als Mechanismus verstanden, mit dessen Hilfe die Individuen in die sozialen Austauschprozesse des Kapitalismus eingebunden werden (vgl. Knapp 2012: 142). Seien es die „Verwertung menschlicher Arbeitskraft, Lenkung der Konsumption, Bewußtseinsbildung, institutionelle und normative Formierung der privaten Lebensäußerungen und Reproduktionsweisen “ (ebd.: 142) – sie alle sichern den Systemerhalt. Gleichzeitig hängt das Überleben der Menschen davon ab, inwieweit sie selbst in das kapitalistische System integriert sind (vgl. Becker-Schmidt 1991: 384). Zwischen dem System als Ganzes und den Individuen – sowie allen anderen Teilbereichen – besteht eine gegenseitige Abhängigkeit. Zwei Vergesellschaftungs- bzw. Organisationsprinzipien, welche die einzelnen Gesellschaftssegmente zueinander in Beziehung setzen, sind für moderne Gesellschaften zentral: Zusammenschluss/Bezogenheit bei gleichzeitiger Trennung (vgl. Becker-Schmidt 1991: 385; Knapp 2012: 143)
Vereinheitlichung – Zusammenschluss/Bezogenheit – Trennung Dem Kapitalismus liegt die Tendenz zur Vereinheitlichung zu Grunde, welche sämtliche soziale Bereiche des Systems betrifft. Nur mittels der Vereinheitlichung gewährleistet das System die Fusionsfähigkeit einzelner sozialer Teilbereiche und sichert damit dessen weiteren Systemerhalt. Im Kapitalismus sind ökonomische Prozesse der Ort der Herrschaftsausübung, welche durch die Tendenz zur Vereinheitlichung weiter vergrößert wird. Symptome der Vereinheitlichung sind Verwertung, Rationalisierung und Bürokratisierung (vgl. Becker-Schmidt 1991: 384ff.). Der Zusammenschluss der sozialen Bereiche gelingt nur durch eine Hegemonie, „in der ökonomische, nationale, militärische – und ich möchte hinzufügen: androzentrische – Suprematieansprüche sich verbünden“ (ebd.: 386). Erst durch die Bezogenheit aller gesellschaftlichen Teilbereiche aufeinander erhält sich das Ganze (vgl. ebd.: 386). Damit die Teilbereiche ihre Funktionen voll erfüllen und ihren Beitrag zum gesellschaftlichen Erhalt leisten können, weisen sie zudem spezifische Strukturen und Eigenlogiken auf – sie sind notwendigerweise voneinander abgegrenzt (Trennung). Trotz allem bleibt die Autonomie der jeweiligen Teilbereiche relativ, da ihr Funktionieren stets an das Ganze gebunden ist. Zudem unterliegen selbst ihre spezifischen Strukturen einer Homologisierung (vgl. ebd. 1991: 386; Knapp 2012: 143). Gudrun-Axeli Knapp spricht daher von Paradoxer Formbestimmtheit (vgl. ebd.: 144).
Tauschprinzip: Dem Kapitalismus ist eine marktvermittelte Tauschrationalität eingeschrieben, die sowohl die äußere als auch die innere Vergesellschaftung (siehe nächster Abschnitt) durchzieht (vgl. Becker-Schmidt 1991: 388f). Das Tauschprinzip lässt sich am Beispiel der Erwerbsarbeit konkretisieren: Das Individuum bietet seine*ihre Arbeitskraft an und erhält im Gegenzug seinen*ihren Lohn. Der Tausch findet allerdings nicht unter gleichrangigen Verhältnissen statt, sondern ist stets durch Machtstrukturen gekennzeichnet („ungleiches Tauschverhältnis“) (vgl. Knapp 2012: 143f.).
Innere Vergesellschaftung: Der Begriff der inneren Vergesellschaftung beschreibt die Modellierung der psychischen und mentalen Persönlichkeitsstrukturen der Individuen in einem kollektiven Ausmaß. Betroffen sind die Trieb- und Affektstruktur, die Denk- und Wahrnehmungsweisen, insbesondere das Unterbewusste (vgl. Becker-Schmidt 1991: 387f.). Bei vollständiger Integration in das System „widerfährt [Vergesellschaftung] einem vorgeblich bloß biologischen Einzelwesen >Mensch< nicht länger von außen, sondern ergreift die Individuen auch im Innern und schafft sie um in Monaden der gesellschaftlichen Totalität; ein Prozeß, in dem fortschreitende Rationalisierung, als Standardisierung der Menschen, sich verbündet mit fortschreitende Regression. Sie müssen sich selber nochmal das antun, was ihnen, vielleicht, früher bloß angetan wurde“ (Adorno 1956: 36, zit. nach ebd.: 387). Daraus resultiert, dass die Individuen weder ein Ich haben noch unbewusst handeln, sondern „reflexartig den objektiven Zug widerspiegeln“ (Adorno 1972: 83, zit. nach ebd.: 388). Gemeint sind damit die gesellschaftlichen Zwänge und Normen, die Individualität bzw. Autonomie in der Persönlichkeitsentwicklung behindern. (Äußere) Vergesellschaftung und innere Vergesellschaftung können daher als Übermacht begriffen werden (ebd.: 388).
Identität Kritische Theorie ist im Stande, den Zwangscharakter von Identität und ihre Herkunft aus Herrschaft nachzuweisen. Zudem stellt sie einen Zusammenhang zwischen der Ich-Schwäche der autoritären Persönlichkeit (LINK) und der Schwäche personaler Identität her. Die personale Identität löst sich, bedingt durch innere und äußere Vergesellschaftung, zunehmend auf. An ihre Stelle treten repressive Formen der kollektiven Identität, die unreflektiert übernommen werden und die autonome Handlungsmacht der Individuen untergraben (vgl. Stögner 2022: 25f.). file:/C:/Users/Julia/Downloads/Steiner_J_M_and_Fahrenberg_J_2004-1.pdf Triebunterdrückung Horkheimer (LINK) konnte feststellen, dass „das Handeln numerisch bedeutender sozialer Schichten nicht durch Erkenntnis, sondern durch eine das Bewusstsein verfälschende Triebmotorik bestimmt ist“ (Horkheimer 1988: 59, zit. nach Stögner 2022: 30). Aus diesem Grund greift Kritische Theorie auf die Psychoanalyse zurück, die mit der Theorie des Unbewussten (LINK) ein geeignetes Werkzeug zur Verfügung stellen kann, „das Verdeckte ans Licht zu fördern“ (Adorno 1997: 63, zit. nach ebd.: 30). Das Leiden des Individuums wird sowohl in der Kritischen Theorie als auch in der Psychoanalyse als Indikator eines nicht aufgelösten Konflikts zwischen Individuum und Gesellschaft betrachtet. Adorno stellt eine Verbindung zwischen Naturbeherrschung, psychologischer Triebunterdrückung und gesellschaftlicher Herrschaft her, die negative Auswirkungen auf das Innere des Subjektes hat: Sie führt zur Unterwerfung der inneren Natur, wodurch das Subjekt nachhaltige und unumkehrbare Schädigung erfährt. Triebunterdrückung hat dabei die Funktion, gegebene gesellschaftliche Herrschaftsverhältnisse aufrechtzuerhalten. Mithilfe der Kritischen Theorie kann das Bruchhafte im Subjekt sichtbar gemacht werden (vgl. ebd.: 30f.). Universalismus: Die Kritische Theorie kritisiert einen Universalismus, der das Partikulare unterdrückt. In dem Zusammenhang wird betont, dass die meisten Universalismen, wie z.B. universale Prinzipien oder Normen, nicht auf Universalien gründen, sondern auf hegemonialen Partikularitäten. Daraus resultiert, dass die Prinzipien oder Normen keine universelle Gültigkeit haben können, obwohl sie numerisch betrachtet in der Gesellschaft weit verbreitet sind. Sowohl der Universalismus als auch der Partikularismus werden in dem Zusammenhang als gleichermaßen beschädigt und verstrickt angesehen (vgl. Stögner 2022: 18). Geschlecht und Kritische Theorie Geschlecht und Kritische Theorie Institution der Familie: Die Institution der Familie wird in der Kritischen Theorie als Gesellschaftssegment betrachtet, welches in einem Tauschverhältnis mit der gesellschaftlichen Totalität steht. Die Familie hat die Funktion, Sozialisationsagentur zu sein und trägt ihren Teil dazu bei, ihre Mitglieder auf das (Erwerbs-)System vorzubereiten, damit eine nahtlose Integration gelingen kann. Sie bezieht sich daher direkt auf die Produktionssphäre (Vergesellschaftungsprinzip des Zusammenschlusses). Gleichzeitig ist die Familie von der Produktionssphäre separiert (Vergesellschaftungsprinzip der Trennung). Dies hängt mit ihrem naturalen Element zusammen, dem sie sich nicht entäußern kann: Generation und Regeneration von Leben stehen hier im Zentrum. Die Familie entspricht dem Naturwüchsigen/Besonderem. Aus Sicht der Gesellschaft erscheint ihr naturales Element als heteronom – es unternimmt den Versuch, sich der Durchsetzung von Verwertungsinteressen zu entziehen und ermöglicht gewissermaßen eine Nische für Besonderung. Die Gesellschaft betrachtet dies als Ärgernis, weil das naturale Element in der Tauschbeziehung nicht ganz aufgeht. Nichtsdestotrotz kann sich das naturale Element (Privatsphäre) gegenüber der Erwerbsphäre nicht behaupten, da diese eine Übermacht darstellt und der Anpassungsdruck zu groß ist (vgl. Becker-Schmidt 1991: 384+389). Adorno und Horkheimer beobachten in der Privatsphäre gleich zwei Unrechte, die sie als miteinander verbunden betrachten: Ein ökonomisches, durch die Ausbeutung hauswirtschaftlicher Arbeit, sowie ein politisches, durch die patriarchale Bevormundung. Sie zeigen damit, dass private generative Reproduktionsarbeit patriarchalisch-hauswirtschaftlichen Verhältnissen unterworfen ist (vgl. ebd.: 390). Zur Stellung der Frau in der Kritischen Theorie Laut der Kritischen Theorie sind Frauen gesellschaftlich in die Familie verortet, wo sie nicht in gleicher Weise wie Männer der Tauschrationalität unterworfen sind. Sowohl ihr Vergesellschaftungsmodus als auch der Grad ihrer Integration unterscheiden sich. Frauen gelten in einem eingeschränkten Maße als vergesellschaftet – sie sind primär privatisiert. Dies hat zur Folge, dass sie weder dem Rationalisierungsprozess der Moderne ausgesetzt sind, noch die Chance haben, gesellschaftlich relevante Erfahrungen zu machen (vgl. Becker-Schmidt 1991: 389). Die Nähe der Frau zu dem naturalen Element der Familie (Generation und Reproduktion des Lebens), lässt Frauen als naturnäher erscheinen. Das weibliche Ideal, die Identifikation von Frauen mit Natur, entsprechen nach Adorno und Horkheimer einer Ideologie und dienen der Erhaltung gesellschaftlicher Herrschaftsverhältnisse bzw. der Erhaltung eines ungleichen Geschlechterverhältnisses (vgl. Stögner 2022: 16), dem eine geschlechtsspezifische Arbeitsteilung zugrunde liegt. Indem Frauen mittels der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung an die Privatsphäre gebunden werden, werden sie von der herrschenden Form der Subjektivierung ausgeschlossen (vgl. Stögner 2022: 20). Diese findet in der Sphäre der Öffentlichkeit unter Männern statt: Es bilden sich Individuationsformen, die der gesellschaftlichen Selbsterhaltung dienen. Wollen Frauen ihre Existenz sichern, müssen sie sich den männlichen Modellen anpassen oder ihnen unterwerfen (vgl. Becker-Schmidt 1991: 389). Nach Adorno und Horkheimer mündet die Emanzipation der Frau daher „in ihre Durchtrainierung als Waffengattung“ (Horkheimer/Adorno o.J.: 253, zit. nach Stögner 2022: 22) - Ein Paradebeispiel für den „ungeheuren Sog der ‚radikal vergesellschafteten Gesellschaft‘“ (ebd.: 22). Ein Realbeispiel für die Anpassung von Frauen an männliche Modelle sind Frauen in Führungspositionen (LINK). Ideologiekritik Ideologiekritik ist eine Methode der Kritischen Theorie, um die verborgenen Orte der Macht zu erfassen, die in gesellschaftlichen Institutionen sowie der Sprache, Psyche, Ästhetik, Vernunft und dem Denken verortet sind. Damit geht sie über die konventionellen Bereiche der politischen und ökonomischen Analyse hinaus. Die Methode befähigt dazu, die Mechanismen von der Naturalisierung von Gesellschaftlichem (z.B. das Idealbild der Frau und ihre Nähe zur Natur) sowie die Universalisierung von Partikularem aufzuspüren. Kritisiert werden die gesellschaftlich geprägten Bewusstseinsstrukturen des Subjekts, welche die objektiven Strukturen widerspiegeln. Finden sich Widersprüche im Subjekt, kann dies ein Hinweis auf eine widersprüchliche gesellschaftliche Realität sein (vgl. Stögner 2022: 14f.). In diesem Zusammenhang konnte die Kritische Theorie aufdecken, dass Ideologien selten allein auftreten, sondern – aus heutiger Sicht – intersektional verschränkt sind. Adorno und Horkheimer zeigten zudem eine Verstrickung aller Menschen hinsichtlich Naturbeherrschung, Klassen- und Geschlechterherrschaft, was zur Folge hat, dass sich selbst die Opfer von Unterdrückung an der Aufrechterhaltung dieser Verhältnisse beteiligen (vgl. ebd.: 16f.). Geschlechterverhältnis Das Geschlechterverhältnis taucht bereits in der ersten Generation der Kritischen Theorie auf, es kommt in dem Zusammenhang jedoch nicht zu einer systematischen Auseinandersetzung beziehungsweise Theorieaufstellung (vgl. Stögner 2022: 13f.). Regina Becker Schmidt bezieht in ihre Definition des Geschlechterverhältnisse alle Bereiche des gesellschaftlichen Prozesses ein, fragt nach der Formbestimmtheit und der Gestalt ihres Zusammenhangs, verortet das Geschlechterverhältnis innerhalb des Ganzen und folgt damit der Tradition der Kritischen Theorie. Der Begriff des Geschlechterverhältnis zielt demnach auf die Gesamtheit institutioneller Regelungen sowie normative Regulative in dem sozialen Gefüge, durch welche Männer und Frauen zueinander ins Verhältnis gesetzt werden und entspricht damit einem Funktions-, Positions- und Verhältnisbegriff, der ebenfalls andere Kategorien sozialer Strukturierung (wie Klasse, Schicht, Ethnizität) umfasst. Trotz der Integration von Frauen in die Erwerbsphäre ist die Organisation des Geschlechterverhältnisses nach wie vor durch die Prinzipien der Rangordnung und Segregation bestimmt. Wie genau die Organisation des Geschlechterverhältnisses mit der sozialen Totalität zusammenhängt, ist laut Becker Schmidt eine noch nicht beantwortete gesellschaftstheoretische Frage (vgl. Becker-Schmidt 1991: 391ff.; Knapp 2012: 144). Doppelte Vergesellschaftung Mit dem Begriff der „doppelten Vergesellschaftung von Frauen“ wird in feministischen soziologischen Theorien darauf hingewiesen, dass berufstätige Frauen mit Kindern sowohl Garantinnen der privaten Reproduktion als auch Teilnehmerinnen der marktvermittelten Produktion sind. Dieses doppelte Eingebunden-Sein bringt ihnen strukturelle Benachteiligungen gegenüber Männern, wie beispielsweise die Behinderung ihrer beruflichen Ziele wegen familiären Verpflichtungen (vgl. Becker-Schmidt 1991: 393; Knapp 2012: 144). Kritik an der Kritischen Theorie der ersten Generation Der Kritischen Theorie werden folgende Kritikpunkte angeheftet: Der Kritischen Theorie wird vorgeworfen, ein androzentrisches Weltbild in ihren Arbeiten zu reproduzieren. Darunter fallen das Bedienen von männlichen Stereotypen und das Blindsein für die Lebenswelt von Frauen. Ihre Kritische Theorie blieb blind für die Geschlechterverhältnisse. Jedoch beschreibt Stögner auch, dass die Kritik sich größtenteils auf die Rezeptionen der ersten Generation bezieht und nicht auf die Primärliteratur (vgl. Stögner 2022: 11). Innerhalb der Kritischen Theorie wurden die Geschlechterverhältnisse nicht systematisch analysiert. Es wurde sich lediglich in Bezug auf die bürgerliche Familie mit den Autoritätsverhältnissen des 20. Jahrhunderts auseinandergesetzt. Es wurden Studien über Autorität und Familie veröffentlicht (vgl. ebd.: 12-13). Dass durch dieses Vorgehen die Frau auf die Familie bzw. die Privatsphäre reduziert wird, kann als ein Kritikpunkt an die Kritische Theorie verstanden werden. Ein anderer Punkt, der aus dem Fokussiert-Sein auf die Familie resultiert, ist die Fehleinschätzung von Adorno und Horkheimer, was die Vergesellschaftung von Frauen angeht. Sie sind nämlich nicht nur, wie die beiden in ihren Schriften behaupten, eingeschränkt einfach vergesellschaftetet, sondern doppelt. Außerdem reduzieren sie das Frauenbild auf die Hausfrauenrolle, die die häusliche Arbeit nur unzureichend darstellt (vgl. Becker-Schmidt 1991: 390). Adorno und Horkheimer verfehlen mit ihrer Reproduktion des Hausfrauenklischees eine Dekonstruktion des diskriminierenden Arbeitsverständnisses von Frauen in der privaten Sphäre. Die Annahme, dass Lohnarbeit eine „bessere“ Arbeit als die Hausarbeit ist, ist eine sozial Konstruierte. Ein weiterer Kritikpunkt bezieht sich auf die Analyse der geschlechterspezifischen Arbeitsteilung von Adorno und Horkheimer in der Dialektik der Aufklärung Adorno Handbuch. Sie sehen durch die Bindung der Frau an den Reproduktionsbereich einen Ausschluss von den herrschenden Formen der Subjektivierung. Anders formuliert: Das weibliche Geschlecht bleibt in ihrer Natürlichkeit verhaftet. Dies kritisiert Becker-Schmidt. Dieses Frauenbild lässt die Frauengeschichte außen vor (siehe z.B. Frauenbewegungen und die arbeitende proletarische Frau). Becker-Schmidt plädiert für eine umfassende feministische Herrschaftskritik, die sowohl die Auswirkungen des Kapitalismus als auch die des Patriacharts in diesem Zusammenhang mit in die Analyse einbezieht (vgl. Stögner 2022.: 20). Daran anschließend wurde Horkheimer auch wegen seines psychoanalytischen Androzentrismus kritisiert. Ihm wurde eine „nostalgische Romantisierung der väterlichen Autorität im Zeitalter der Vernunft und eine systematische Vernachlässigung der Rolle der Mutter im Prozess der Subjektivierung des Kindes vorgeworfen“ (Stögner 2022: 32). Die Subjektbildung des Kindes vollzieht sich nur mit dessen Interaktion mit der Umwelt (Subjekt-Objekt-Dialektik) und blenden die sozialen Einflüsse der Mutter aus (Subjekt-Subjekt-Dialektik) (vgl. Stögner 2022: 32). Anknüpfungspunkte der Feministischen Theorie an die Kritische Theorie Seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wird Feministische Theorie mit der Kritischen Theorie in Verbindung gebracht. Sowohl die zweite Welle der Frauenbewegung als auch die Gründung der neuen Linken haben dazu beigetragen. Deutschland orientierte sich an der ersten Generation der Kritischen Theorie nach Adorno und Horkheimer, während sich die USA der zweiten Generation rund um Habermas zuwandte (vgl. Stögner 2022: 11). Feministische Theoretiker*innen in den 70er und 80er Jahren hatten Schwierigkeiten, sich auf die Kritische Theorie zu beziehen, da sie den Individuen wenig emanzipatorisches Potenzial in ihren Theorien einräumte, was sich als nicht besonders anschlussfähig an die Frauenbewegung erwies. Gleichzeitig eignen sie sich aber sehr gut für eine kritische Bezugnahme auf eine irrationale und gewaltförmige Ökonomisierung und Rationalisierung der Gesellschaft (vgl. ebd.: 139). In den 80er Jahren wurde die Dialektik der Aufklärung von verschiedenen feministischen Theoretiker*innen verwendet, da sie politisch als relevant angesehen wurde, um die Vergangenheit und die Gegenwart zu analysieren (vgl. Knapp 2012: 136). Feministische Theorie hat sich in der Vergangenheit schon häufiger auf den Gesellschaftsbergriff der kritischen Theorie berufen. Durch die Verwendung des Gesellschaftsbegriffs kann ein universeller Anspruch kreiert werden, der vom Partikularen auf das Universelle schließen lässt und gleichzeitig den historischen Kontext von Kritik nicht außer Acht lässt (vgl. Stögner 2022: 13). Die Ideologiekritik ist ein Werkzeug der Kritischen Theorie, die auch von der Feministischen Theorie verwendet wird. Sie ist eine Form der Herrschaftskritik, die sich gut mit der feministischen Theorie verbinden lässt, da auch die Kategorie Geschlecht in Herrschaftsverhältnisse verstrickt ist und viele Mechanismen erst sichtbar gemacht werden müssen. Inhaltlich geht es bei der Ideologiekritik um das Rekonstruieren von Mechanismen, die Gesellschaftliches naturalisiert sowie aus dem Partikularem Universelles produziert haben, um dadurch auch bestimmte Herrschaftsstrukturen sichtbar machen zu können. Durch die Ideologiekritik wird versucht, gesellschaftlichen Bewusstseinsstrukturen des Subjekts Stück für Stück aufzulösen, um zu objektiven Strukturen der Gesellschaft zu gelangen. Dabei werden auch die gesellschaftlichen Widersprüche offengelegt, die unsere Realität durchdringen (vgl. ebd.: 14-15). Durch die Erkenntnis der Studie Authoritarian Personalitiy, dass Ideologien intersektional sind, können sich intersektional feministische Ideologiekritik und intersektionale Geschlechterforschung auf die Theorien der Kritischen Theorie beziehen (vgl. ebd.: 16-17). Ausgehend von den Geschlechterverhältnissen kann in intersektionaler Perspektive auf andere Ideologien Bezug genommen werden und dadurch gesamtgesellschaftliche Machtverhältnisse analysiert werden. Hierbei ist wichtig zu verstehen, dass diese Herrschaftsverhältnisse, die sich durch sämtliche Ideologien ziehen, als ein totalitäres System begriffen werden können (vgl. Stögner 2022: 35). Auch bei der Subjekt- und Identitätsfrage, die eine vieldiskutierte Frage innerhalb der feministischen Theorie ist, bietet die kritische Theorie beiden Lagern Anknüpfungsmöglichkeiten. Sowohl der feministischen Richtung, die das Konzept des Subjekts und der Identität fundamental in Frage stellt, als auch der Richtung, die durch das Festhalten an Subjektivität und Identität eine Voraussetzung für eine gelingende Emanzipation sieht. Denn Kritische Theorie hinterfragt einerseits fundamental das Konzept der Identität und gleichzeitig sieht es eine Gefahr eines Identitätsverlustes, der durch Herrschaft vorangetrieben wird und in einer kollektiven Identität mündet (vgl. ebd.: 25-26). Das kann so verstanden werden, dass es zu einem gewissen Zeitpunkt eine emanzipatorische Identität gibt, die es zu festigen gilt, ohne dass sie von Herrschaftsstrukturen geformt wird. Allgemein kann gesagt werden, dass die „feministische Gesellschaftsanalyse […] weniger inhaltliche Aussagen über Gesellschaft und Geschlechterverhältnis von der Kritischen Theorie [übernehmen konnte], sondern eher ihre erkenntniskritischen und methodologischen Perspektiven“ (ebd.: 139). Dazu zählen die wechselseitige Bereicherung von Empirie und Theorie sowie Subjekt- und Gesellschaftstheorie und auch die historische Begründung (vgl. ebd.: 140). Durch die Aneignung der Kritischen Theorie ist eine „politisch-wissenschaftliche Konstellation“ (ebd.: 150) entstanden, die durch den Kontakt zu der Frauenbewegung eine immer wieder sich gegenseitig korrigierende Lebendigkeit aufweist (vgl. ebd.: 151).