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Kritik
Definition Kritik
Semantische Herleitung
Das Wort „Kritik“ stammt von dem französischen Wort „la critique“, welches griechischer Herkunft ist, „kritikē [téchnē]“, und „die Kunst der Beurteilung“ meint (vgl. Duden). Kritikē lässt sich ebenfalls mit „unterscheiden“ oder „trennen“ übersetzen (vgl. Wikipedia).
Grundlegende Bestandteile und Fragen
Versteht man Kritik als Kunst der Beurteilung in sozialen Kontexten anhand gesetzter (Wert)Maßstäbe, so stellt diese die Naturalisierung grundlegend bestehender Verhältnisse (gesellschaftliche Werte, Institutionen, Weltdeutungen, etc.) infrage (vgl. ebd.: 8). Dabei kann sie nur in Bezug zu und auf etwas existieren und besteht somit immer als Assoziation und Dissoziation: Sie bezieht sich auf etwas, von dem sie sich gleichzeitig zu trennen versucht (vgl. ebd.). Eine Frage, die sich in diesem Kontext stellt, ist, aus welcher Perspektive und welchem Standpunkt heraus die Kritik beurteilt – beruft sie sich auf universelle, extern gegebene Wertmaßstäbe (starke Normativität) oder bezieht sie sich auf bereits bestehende und versucht diese von innen heraus zu kritisieren (schwache Normativität)(vgl. ebd.: 9)?
Daran anknüpfend kann gefragt werden, inwiefern Kritik funktioniert, ist sie doch bereits in ihrer Entstehung in ein entsprechendes normatives System eingebunden, außerhalb dessen sie sinnlos wäre? Die kritisierende Person kann nicht außerhalb der Gesellschaft stehen, die sie kritisiert, da sie selbst ein Teil von ihr und durch sie geprägt ist - eine epistemische Außenposition der*des Kritisierenden ist somit nicht möglich, der Versuch einer Distanznahme zum Normativen jedoch ggf. eine der Hauptbedingungen der „kritischen Praxis“, so Jaeggi (2009: 9).
Arten der Kritik
Rahel Jaeggi arbeitet in ihrem 2009 erschienenen Werk „Was ist Kritik“ vier Arten der Kritik heraus:
- Erkenntnis-, bzw. Aufklärungskritik
In der Verbindung von Philosophie und Kritik in ihrem Selbstverständnis als Aufklärung versucht diese die Grenzen zwischen Wissen und Glauben/Täuschung (Logos und Mythos) herauszuarbeiten und so zu wahren Erkenntnissen zu gelangen (vgl. Jaeggi 2009: 10). Zu dieser Kategorie lassen sich beispielsweise Sokrates und Kant zählen.
- Historische Kritik
Die historische Kritik beinhaltet hauptsächlich eine Abgrenzung der eigenen Position gegenüber anderen (beispielsweise Aristoteles‘ Kritik an Platon oder Marx‘ Kritik an Hegel), wodurch das eigene Theorieprofil seine Konturenschärfe erhält (vgl. ebd.).
- Emanzipatorische Kritik
Diese Art der Kritik kann als Form der intellektuellen Einmischung mit der Intention der Emanzipation der beherrschten Subjekte verstanden werden, z.B. in Form eines Bildungsauftrags der Wissenschaft oder politischem Aktivismus. Dabei kritisiert Jaeggi etablierte moralisch-politische Wertvollstellungen und geltende Normen, indem sie versucht, Unrecht aufzuzeigen und Stellung zu beziehen (vgl. ebd.: 11).
- Philosophische Kritik
Die von Hegel eingebrachte 'Philosophische Kritik' unterscheidet sich insofern von vorherigen Formen der Kritik, als dass in ihr eine „Gleichsetzung von Vernunft und Kritik“ erfolgt, ohne jedoch alleinig darin aufzugehen (ebd.). Mit dem Streben Hegels danach, das „Negative der bestehenden Welt aufzuheben“, wird die Befreiung von ebenjenem Negativen die Basis seiner Philosophie (Hegel in ebd.). Dabei werden soziale Konflikte und Phänomene (wie z.B. Wissenschaft oder Politik) nicht als gegeben angesehen, sondern als Ergebnis der „kategorialen Denkformen“, die unsere Sicht und unser Verständnis der Welt bestimmen. Hegels Philosophie verbindet so Zeitdiagnose und Begriffsanalyse (vgl. ebd.: 12). Nach Hegel ergeben sich aus dieser Art der philosophischen Kritik jedoch keine direkten Handlungsanweisungen oder Utopieentwürfe. Stattdessen besteht ihre Wirkmächtigkeit in der „[…] Rekonstruktion konfliktlösender Potentiale, die in der Realität, in habituellen, sprachlichen oder institutionellen Praxisformen verkörpert sind“ (ebd.).
Nach der Zeit von Hegel diversifiziert und erweitert sich das Feld, in dem Kritik praktiziert wird, bzw. praktiziert werden kann, über die Philosophie hinaus in verschiedenste Disziplinen. Kritik wird zentraler Bestandteil verschiedenster Ansätze: So lassen sich beispielsweise auch Marx‘ Ökonomiekritik und Gesellschaftstheorie, sowie Nietzsches Kulturkritik, Foucaults Machttheorie und Gesellschaftsanalyse oder Butlers Kritik des Gender-Sex-Systems darunter zählen (vgl. ebd.). Vor allem für die Kritische Theorie ist diese Art der Kritik, wie schon ihr Name besagt, essenzieller Kern ihres Selbstverständnisses. Hier bilden sich nach Jaeggi wiederum zwei Stränge heraus: Einerseits wird Kritik innerhalb der Gesellschafts- und Geisteswissenschaften genauer betrachtet (dabei ist z.B. Boltanski als Theoretiker hervorzuheben). Andererseits entsteht eine umfassende Kritik des Bestehenden, die dies einerseits kritisiert, jedoch auch ihre eigenen Ressourcen daraus schöpft – hier sind beispielsweise die immanente oder transzendente Kritik zu nennen (vgl. ebd.: 13).
Kritik als Liebe zur Wahrheit
Sokrates (nach Platos Beschreibung) praktiziert eine paradigmatisch-westliche Urform der Kritik in seiner Mäeutik: Ein dialogisches Fragen und Prüfen des Gegebenen mit einem einhergehenden Einklagen von Gründen in der Öffentlichkeit.
Die Philosophie schreitet dabei erst von einer „Liebe zur Weisheit“ zu einer „Liebe der Wahrheit“ über eine „Kunst des Sonderns“ fort (Krings et al. 1972: 809-810). Kritik hat insofern eine inhärente ethische Dimension – man kann keinen Vulkanausbruch kritisieren, jedoch durchaus die schlechte Wissensproduktion der Geolog*innen, deren Daten einen sicheren Vulkan suggerierten – und hinterfragt scheinbar Selbstverständliches (vgl. ebd.: 807-832).
Versteht man in dieser Art Kritik als 'Liebe zur Wahrheit' kann auch Kant hier dazugezählt werden. Kant geht es in seinem „Kritizismus“ um die „[…] Vermeidung von Täuschungen, die sich im theoretischen Wissen als Dogmatismus und im praktischen Wissen als Bevormundung ausdrücken.“ (Jaeggi 2014: 10), sowie die Aufdeckung von Scheinwahrheiten. So plädiert diese Form der Kritik einerseits für Aufklärung, wendet sich jedoch auch in deren Namen gegen eine vermeintliche, bzw. falsche Aufklärung (vgl. ebd.).
Kritik als Tugend
Rahmung
Was ist Kritik ist eine von Foucault 1978 an der Societe francaise de philosophie gehaltene, verschriftlichte und – entgegen des Autorenwillens – post-hum veröffentlichte Vorlesung. Eine zweite, thematisch ähnliche Vorlesung wurde unter 1983 dem Titel „Was ist Aufklärung“ gehalten. Rezeptionsgeschichtlich erweist sich diese Vorlesung doppelt interessant: im Rahmen der Habermas-Foucault Debatte rekurriert Foucault affirmativ auf ein kantisches Verständnis von Aufklärung (vgl. Foucault 2010: 242-243) und „entschärft“ so die Interpretation von Habermas, dass er ein für die Weiterentwicklung der kritischen Theorie disqualifizierter, „krypotonormativistischer“ und anarchistischer Denker sei (vgl. Kammler et al. 2020: 240). Zweitens setzt sich Foucault lobend, wenn auch distanzierend mit den Thesen der „Dialektik der Aufklärung“ auseinander (vgl. Foucault 2010: 247) und beschäftigt sich abgrenzend mit dem Themenfeld der „Theorie Kommunikativen Handelns“ (vgl. ebd.: 252-253).
Kritik als Tugend und Aufklärungskritik
Foucault bestimmt Kritik nun als eine Art der Praxis „[…]zu denken, zu sagen, zu handeln[…] in Verhältnis zur Gesellschaft, zur Kultur, ein Verhältnis zu den anderen auch […]“ (Foucault 2010: 238).
Innerhalb dessen hat der Status der Kritik zum Kritisierten den eines Instruments inne: Sie existiert nur bezogen auf etwas anderes als sich selbst (vgl. ebd.: 238; vgl. Butler 2001). Foucault spricht des Weiteren von einer „Haltung der Kritik“, die sich „[…] mit der Tugend verschwägert.“ (Foucault 2010: 239) Diese „Kritik als Tugend“ ist nur im Rahmen seines über diesen Text hinausgehendes Subjektverständnis‘ zu verstehen (vgl. Butler 2001). Das Subjekt wird bei Foucault als dezentriertes und unterworfenes, als diskursiver Effekt und nicht Diskursurheber*in gedacht. Das unterworfene Subjekt konstituiert sich immer schon in und durch Machtverhältnisse und -kämpfe, ist folglich nicht Subjekt, sondern subjektiviert sich fortwährend in „[…] historischen Produktionsverhältnissen und kulturellen Sinnstiftungsprozessen.“ (Kammler et al. 2020: 340) Kritik als Tugend kann folglich als eine Praxis der Unfügsamkeit, als ein „[…] kritisches Unternehmen der Entunterwerfung gegenüber dem Spiel der Macht und der Wahrheit […]“ (ebd.: 242) oder als die Verschiebung des Fremd-Geführt-Werdens zu einer neuen Ethik des selbsttransformativen Sich-Selbst-Anleitens (sowie die dafür konstitutiven Diskursregime) gedacht werden (vgl. Butler 2001). Durch die nach Foucault im 15.-16. Jahrhundert, in der Pastoralmacht angelegte, exponentielle Zunahme der Regierungskünste („Regierbarmachen der Gesellschaft“) und der gesellschaftsweiten, institutionellen Umsetzung dieser Disziplinarformen, bildete sich als Gegentendenz eine „kritische Haltung“: „[…] eine moralische und politische Haltung, eine Denkungsart, welche ich nenne: die Kunst, nicht regiert zu werden […]“ (Foucault 2010: 240). Anknüpfend an das Subjektivierungsparadigma beschreibt Foucault Kritik als „[…] am Bündel der Beziehung zwischen der Macht, der Wahrheit und dem Subjekt […]“ entstehend (ebd.: 242). Das sich durch die auf Wahrheit berufenden Machtmechanismen bildende Subjekt nimmt sich im Vollzug der Kritik das Recht heraus „[…] die Wahrheit auf ihre Machteffekte hin zu befragen und die Macht auf ihre Wahrheitsdiskurse hin.“ (ebd.: 242)
Im Sinne dieser Kritikbestimmung haben sich drei distinktive Kritikformen gebildet:
- die biblisch-kritische Auslegung von heiligen Texten
- das Entgegensetzen von universellem Gesetz gegen juristisches Recht, auch juridische Kritik oder Naturrecht genannt
- das Einklagen von guten Gründen aufgrund des Problems der Gewissheit gegenüber der Autorität
Foucault bezieht sich in der weiteren Vorlesung positiv auf Kants Begriff der Aufklärung: die kantische Aufklärung sei, was Foucault unter Kritik verstehe (vgl. Foucault 2010: 243). Kants Aufklärung habe sich in drei Linien geschichtlich entfaltet:
- einer positivistischen Wissenschaft mit vollständigem Vertrauen in sich selbst
- einer „[…] Entwicklung eines Staates oder eines staatlichen Systems, das sich selbst als grundlegende Vernunft oder Rationalität der Geschichte ausgab […]“ (ebd.: 244) und zusätzlich andere Lebensbereiche rationalisiert
- eine Staatswissenschaft als Schnittstellenwissenschaft zwischen den beiden vorherig genannten Bereichen
Foucault fragt sich nun in einer weiteren metakritischen Wendung, inwiefern „eine naive Anmaßung der Wissenschaft [welche erst durch den vernunftangeleiteten Aufklärungsprozess sich bilden konnte] mit den eigentümlichen Herrschaftsformen der zeitgenössischen Gesellschaft verknüpft ist“ (Butler 2001). Anders gesagt: Foucault stellt sich die Frage, inwiefern die historisch bedingte Vernunft sich in unvernünftigen Formen (Gefängniskomplexe, sexistische Subjektivierungsformen, Genozide) verwirklichen konnte. Foucault fragt sich: „Wie kommt es, dass die Rationalisierung zur Raserei der Macht führt?“ (Foucault 2010: 247). Dies führt in eine intendierte unmittelbare Nähe zur Kernthese der „Dialektik der Aufklärung“, welche hiermit in der Vorlesung rezipiert wird. Analog dazu konzipieren Adorno und Horkheimer Aufklärung als Aufklärung am Mythos. Der Mythos selbst kann jedoch bereits als ein Versuch des Erklärbar-, bzw. Verfügbarmachens der Welt durch instrumentelle Vernunft begriffen werden und ist insofern nicht gegensätzlich, sondern identisch mit der Aufklärung. Ein gesellschaftlich-arbeitsteilig verankertes, dialektisches Umschlagen von Mythos in Aufklärung und Aufklärung in Mythos kennzeichnet die Menschheitsgeschichte (vgl. Horkheimer, Adorno 1969). Foucault distanziert sich jedoch von einer geschichtsphilosophischen Monorationalitätsthese und akzentuiert in seiner Arbeit vereinzelte, plurale und phänomenspezifische Rationalisierungsprozesse (vgl. Kammler et al. 2020: 239). Zusätzlich grenzt er sich von der „Theorie des kommunikativen Handelns“ ab. Seine eigene Projektfrage ist die nach dem „Nexus des Macht-Wissen […], mit dem sich die Akzeptabilität eines Systems […] erfassen lässt“ (Foucault 2010: 253), nicht nach „Legitimität und Illegitimität“ (ebd.: 252).
Zusammenfassend kann demnach behauptet werden, dass Foucault, Adorno und Horkheimer ihre eigenen Projekte als Vernunftkritik an der sich konkret geschichtlich realisierten Aufklärung, also als eine aufklärerische Kritik an der Aufklärung, verstehen.
Kritik in den Kritischen Theorien
Rahmung
Boltanski als einziger Schüler Bourdieus, mit einem sich von diesem explizit abgegrenzten Theorieentwurf, distanziert sich unter anderem von Durkheim und kritisiert dabei ein sich durch den französischen Diskurs ziehendes Paradigma, welches gelingende sozialwissenschaftliche Erkenntnis als Bruch mit den naiven und irreversibel präreflexiven Alltagsurteilen der sog. gewöhnlichen Akteur*innen konzipiert.
Durkheim äußert diese Ansicht durch die methodologischen Konsequenzen seiner positivistischen Soziologiegrundlagen: Soziale Tatsachen seien wie Dinge zu behandeln – unabhängig von Denken und Handeln der Akteur*innen –, sowie nur wissenschaftlich in Abgrenzung zu deren illusionärer Selbsteinschätzung zu erklären. So wie die Naturwissenschaften sich von der Theologie zu emanzipieren hätten, habe die Sozialwissenschaft mit den übermittelten Vorurteilen und Überlieferungen des vulgären Alltagverstandes zu brechen (vgl. Celikates 2006: 38-47). Wissenschaftsphilosophisch reflektiert und radikalisiert wird dieser Gedanke bei Gaston Bachelard und Georg Canguhilhem. Bachelard systematisiert ihn unter dem Begriff des „epistemischen Bruchs“: Wissenschaftliche Erkenntnis ist nur durch einen tiefen epistemologischen Einschnitt in ständiger korrektiver Abgrenzung zum Alltagsverstand mit dessen notwendigen naiven Intuitionen möglich. Louis Althusser beispielsweise überträgt diesen Gedanken auf die (marxistisch-strukturalistischen) Sozialwissenschaften: Wissenschaftliche Erkenntnis sei in ihrem Endprodukt konträr zu ideologischen Alltagsurteilen, zur Reproduktion der gesellschaftlichen Verhältnisse sei dieses notwendig falsche, undurchsichtige und impenetrable Bewusstsein der Alltagsakteur*innen jedoch notwendig. Dies führt paradoxerweise zu einem nahezu komplett externalisierten und szientistischen Erkenntnisstandpunkt des*der erkennenden Wissenschaftler*in: Nur dieser Erkenntnisstandpunkt könne anhand der struktural-marxistischen Methode soziale Phänomene adäquat erklären und erhebt so den Anspruch, entgegen der Selbsteinschätzung der Alltagsakteur*innen, deren „eigentliche“ Triebquellen besser zu (er)kennen als diese selbst (vgl. ebd.: 43-51).
Diese akteurstheoretischen und epistemologischen Wiedersprüche ziehen sich bis in das Werk Bourdieus. Der Akteur*innenhabitus als akquiriertes Ensemble strukturierender Strukturen und strukturierter Strukturen tendiert in seiner Konzeptualisierung zur grundlegenden Intransparenz. Die habitual generierte Doxa (griechisch: Meinung, Illusion) ist notweniger Bestandteil der Täuschung über die Praxis der Akteur*innen und notwendig zu Reproduktion ebendieser. Erst das unhinterfragende, akzeptierende Partizipieren am Kunstfeld ermöglicht eine regelkonforme und reibungslose Teilnahme an diesem. Wer versucht über seinen*ihren Habitus zu reflektieren, tritt auf eine mittelbare Metaebene zu diesem und kann in diesem Moment seine*ihre unmittelbar-inkorporierten Habitualstrukturen dementsprechend nicht verlassen. Die Praxis der Kritik nach Bourdieu resultiert so in einer Praxis der Entschleierung, die, da sie durch die hypothetisierte Unreflektierbarkeit des Habitus und die Trägheit der Strukturen nur durch den*die Wissenschaftler*in vollzogen werden kann, keine emanzipative Wirkung hat, sondern stattdessen Abwehrreaktionen seitens der Akteur*innen provoziert (vgl. ebd.: 65-75).
Boltanski fragt nun in seiner sozialwissenschaftlichen Praxis nach der epistemologischen, theoriearchitektonischen Relation des*der Soziolog*in zu den Alltagsurteilen der zu erklärenden Akteur*innen und versucht zugleich auf etabliertes soziologisches Vokabular zu verzichten. Dabei betrachtet er beispielsweise in seinen 2008 gehaltenen Adorno-Vorlesungen unter anderem das Verhältnis von deskriptiver Soziologie und Sozialkritik und versucht Kompromisse zwischen dieser der Soziologie inhärenten Spannung auszuarbeiten. Während deskriptive Soziologie eher auf eine objektive Beschreibung gesellschaftlicher Verhältnisse ausgelegt ist und der gesellschaftlichen Legitimation, sowie der Verwirklichung des soziologischen Wahrheitsanspruches dient, deckt Sozialkritik konkret soziale Herrschaftsverhältnisse auf und stellt diese als unhaltbar da.
Macht & Herrschaft
Kritische Soziologien befassen sich demnach mit Macht- und Herrschaftsverhältnissen, um gesellschaftliche Asymmetrien zu erkennen und zu problematisieren (vgl. Boltanski 2010: 15-18). Während Macht jedoch beobachtbar ist, da sie sich selbst konstant artikulieren und rechtfertigen muss, um sich zu legitimieren, ist Herrschaft hingegen in die beherrschten Subjekte selbst eingeschrieben sowie in gesellschaftlichen Dispositiven versteckt und somit unsichtbar. Die beobachtbaren Machtverhältnisse bestehen lediglich als oberflächlich erkennbarer Ausdruck des verdeckten Herrschaftssystems (vgl. ebd.).
Kritische Herrschaftstheorien verfolgen nun das Ziel, diese den subalternen Subjekten verborgene Herrschaft in all ihren gesellschaftlichen Dimensionen als ein übergreifendes System zu enthüllen und mithilfe eines deskriptiv konstruierten Subjektes der „sozialen Ordnung“ die darin inhärenten Widersprüche zu identifizieren und zu problematisieren. Sie verpflichten sich nicht dem Neutralitätsgebot, da ihre soziologischen Beschreibungen bereits kritische Urteile über die thematisierte soziale Ordnung enthalten (vgl. ebd.).
Akteur*innenbezug, einfache & komplexe Außenposition
Kritische Theorien unterliegen nach Boltanski einem doppelten Zwang: Einerseits bestehe für sie die Notwendigkeit, sich in ihren normativen Annahmen von religiösen oder politischen Moralvorstellungen abzugrenzen, um sich als objektiv legitimieren zu können. Andererseits müssten sie auch die kritischen Alltagstheorien der Akteur*innen miteinbeziehen, die ihnen Sinn und Anschluss an die Subjekte selbst verliehen, sowie die Möglichkeit der Veränderung von deren Realität im emanzipativen Sinne schaffen (was sie von Utopien unterscheidet) (vgl. ebd.: 18-20). Der Zugang zur Kritik kann daher über die Alltagstheorien der gesellschaftlichen Objekte erfolgen oder innerhalb einer künstlich geschaffenen Außenposition. Sowohl die soziologische Beschreibung der Gesellschaft als auch die Kritik einer sozialen Ordnung versuchen eine solche externe Position einzunehmen, um den gesellschaftlichen Rahmen erfassen zu können, der einer internen Betrachtung verborgen bleibt. Die deskriptive Soziologie versetzt sich dabei in eine sog. einfache Außenposition, da sie eine generelle Beobachter*innenposition einnimmt, während die kritische Soziologie auf zwei unterschiedlichen Ebenen angesiedelt ist: Die soziale Ordnung muss sowohl deskriptiv erfasst werden als auch sich mit verschiedenen Mitteln ein Werturteil über diese bilden – ihre Außenposition ist somit komplex (vgl. ebd.: 24-26). Auch bei einer Orientierung an den Akteur*innen bleibt daher die Unterscheidung zwischen den Alltagstheorien und einer systematischen Kritik der bestehenden sozialen Ordnung in jedem Fall essenziell. Um den Bezug auf die Alltagsakteur*innen zu wahren, kann sie sich jedoch sowohl in ihrer Beschreibung als auch in der Bildung der Werturteile an den Akteur*innen orientieren (vgl.ebd.).
Kritik & Metakritik
Während Kritik eine punktuell angebrachte Alltagskritik beschreibt, welche nur sozial verwurzelt und kontextabhängig besteht, enthält die Metakritik nach Boltanski eine Perspektive mit umfassendem Anspruch als Bezeichnung jener theoretischen Konstruktionen, die auf Enthüllung von Unterdrückung, Ausbeutung und Herrschaft in ihren allgemeinsten Dimensionen und unterschiedlichen Realisierungsweisen abzielen (vgl. ebd.: 23).
Kompromiss
Boltanski versucht nun, mögliche Kompromisse zwischen der Erfordernis einer deskriptiven Neutralität (einfache Außenposition) und der Suche nach Ansatzpunkten für Kritik (komplexe Außenposition) auszuarbeiten (vgl. ebd.: 28-35).
Beispiele für Kompromisse:
- Fokus auf philosophische Anthropologie: Nachdem eine grundlegende Darstellung der für das (gute) Menschsein konstitutiven Eigenschaften erfolgt ist, kann die Kritik nun darin bestehen, darzustellen, inwiefern die bestehende soziale Ordnung die Verwirklichung dieser notwendigen konstitutiven Potenzialitäten nicht ermöglicht (vgl. ebd.: 28f).
- Fokus auf normative Position: Diese Kritik fokussiert sich darauf, darzulegen, inwiefern die bestehende soziale Ordnung nicht mit den Sitten und Werten konform ist, die sie sich selbst zugrunde legt (vgl. ebd.: 30).
- Fokus auf Alltagskritik: Ausgehend von einer Beobachtung der moralischen Erwartungen der Alltagsakteur*innen und deren Kritiken, wird eine generelle moralische Position abstrahiert, die aufzeigt, inwiefern die bestehende soziale Ordnung nicht den Bedürfnissen ebenjener Akteur*innen entspricht (vgl. ebd.: 31).
- Funktionale Kritik: Während die ersten drei Kritiken auf moralische Aspekte abzielen, so deckt die funktionale Kritik mithilfe eines historischen Bezugs immanente Widersprüche der bestehenden sozialen Ordnung auf, indem sie darstellt, inwiefern diese nicht über die notwendigen Mittel verfügt, ihren eigenen inhärenten Spannungen zu begegnen (vgl. ebd.: 31f).
Boltanski plädiert dafür, die der Kritik innewohnende pessimistische Beschreibung (Zerstörung der sozialen Ordnung) mit einer darauf aufbauenden optimistischen zu verbinden, um Raum für die aktive Auflehnung gegen bestehende Herrschaftsverhältnisse, und emanzipative Ansatzpunkte für die Entstehung neuer Möglichkeiten, sowie der Aufhebung der dialektischen Widersprüche zu schaffen (vgl. ebd.).
Soziologie & Sozialkritik
Eine metakritische Theorie bedarf notwendig der deskriptiven Soziologie als Stütze: Es muss erst ein möglichst konkretes Bild von der sozialen Ordnung geschaffen werden, die daraufhin der Kritik unterzogen werden kann. Auch soziologische Beschreibungen sind bereits konzeptionell auf jenen Gebrauch ausgerichtet, den die metakritischen Theorien von ihnen machen können (vgl. ebd.: 36).
Nach Boltanski bedeutet kritisch zu sein demnach, die unsichtbaren Herrschaftsstrukturen, die unsere Gesellschaft rahmen und prägen, infrage zustellen sowie aufzudecken und dies emanzipatorisch zu nutzen. Kritik innerhalb der kritischen Theorien ist also ebenfalls (s. Foucault) die Kunst, nicht dermaßen regiert zu werden, bzw. hat die Funktion der Entunterwerfung (vgl. Foucault 2010: 240).
Kritik in der Perspektive der Kritischen Theorie
Neben den vorherig behandelten Bestimmungsversuchen der Kritik entstammt der dritten Generation der sog. Kritischen Theorie ein weiteres, dreiteiliges, Hegel nahes Modell, welches die Arten der Kritik nach ihrer Maßstabsgewinnung klassifiziert.
Externe Kritik
Externe Kritik ist eine Art der Kritik, deren Kriterien „[…] an die Normen und Praktiken einer gegebenen sozialen Formation von außen herangetragen werden“ (Jaeggi 2014: 261). Die für die Kritik konstitutiven Normen, Werte und Prinzipien sind „[…] unabhängig vom Selbstverständnis des kritisierten Kollektivs oder Individuums und […] existieren etwa in objektiven sozialwissenschaftlichen Erkenntnissen […]“ (Celikates 2006: 160). Der „Blick von Nirgendwo“, szientistische Methodologien, sowie universalistische ethische Theorien können unter dieser Kritikform zusammengefasst werden (vgl. Jaeggi 2014: 261f), ebenso wie alltägliche Formen der Gemeinschaftsgegenüberstellung (ich als x finde schlecht, was ihr als y tut).
Interne Kritik
Interne Kritik ist eine Art der Kritik, die soziale Formationen anhand der in diesen instituierten Idealen und Normen kritisiert, welche de facto in der Praxis nicht erfüllt werden. Der Kritikmaßstab wird insofern aus dem Selbstverständnis – intern – des Kritiksubjekts, bzw, -objekts gewonnen (Vgl. Jaeggi 2014: 263, Celikates 2006: 161). So wäre beispielsweise eine an die Kindesmissbrauchsskandale anknüpfende Kritik an der katholischen Kirche möglich, indem auf den systematischen Missbrauch des Nächstenliebepostulats verwiesen wird. Interne Kritik muss folglich einen interpretatorischen Kritikrahmen des zu kritisierenden Subjekts/Objekts voraussetzen, sowie die innerhalb von diesem ausgetragenen divergierenden und heterogenisierenden narrativen Deutungskämpfe Angebote um die vorherrschende Rahmeninterpretation homogenisieren. Zusätzlich tendiert interne Kritik zu einer Art „strukturellem Konventionalismus“, da der Inhalt der Kritik die in der sozialen Formation vorzufindenden Normen und die daraus durch Nicht-Erfüllungen folgenden Wiedersprüche nicht überschreiten kann – Kritik kann in diesen Fällen nur Kritik an fertigen, nicht erfüllten Idealen sein (vgl. Jaeggi 2014: 268-274) und verweist somit nicht über diese Ideale hinaus.
Immanente Kritik
Immanente Kritik ist eine Spielart hegel-marxistische Kritikform, welche versucht, durch dialektisches Kritisieren die Aporien beider Kritikformen (extern, intern) zu umgehen. Sie beschreibt den Versuch, die dialektische Vermittlung zu denken, die nicht auf dem Denken der Mitte zweier Gegensatzpaare beruht, sondern der vermittelt verknüpften Extreme durchdenkend ihres eigenen Gegenteils gewahr werden will (vgl. Bittlingmayer et al. 2016: 60). Aufgrund der anspruchsvollen theoretischen Implikationen dieser Kritikform kann nur schemenhaft auf deren Strukturmerkmale eingegangen werden. Ähnlich wie die interne gewinnt die immanente Kritik ihre Kritikkriterien aus dem zu kritisierenden Objekt/Subjekt und „[…] beruht dabei aber auf einem Verständnis davon, wie Normen in sozialen Praktiken wirksam sind“ (Jaeggi 2014: 277). Sozialen Praktiken sowie sozialer Wirklichkeit wohnt eine inhärent-implizite Normativität inne (vgl. ebd.: 288). Diese Normativitäten und Selbstverständnisse sind jedoch nicht willkürlich situiert, sondern entsprechen einer Art konstitutiver Funktionalität. Beispiel: Der Glaube eines Bankiers an die freie Hand des Marktes und die inhärente Fairness dieses Marktmechanismus‘ entspringen nicht einer bodenlosen ethischen Privatüberzeugung, sondern werden (nicht determinierend) durch diverse gesellschaftliche Verhältnisse bedingt. Dabei geht die immanente Kritik nicht von zufälligen Widersprüchen zwischen propagierten Normen und tatsächlicher Praxis aus, sondern von grundlegenden systematischen (im Sinne von zusammenhängenden und eine Einheit bildenden) Widersprüchen in den Kontexten in sich. Normen, wie beispielsweise jene der „freien Hand des Marktes“, verlieren nicht einfach an Wirksamkeit (interne Kritik), sondern verwirklichen sich invertiert und verkehren sich scheiternd in ihr Gegenteil: Statt für selbstregulativen Wohlstand für jede Person zu sorgen, verwandeln sie sich in eine Legitimationsideologie für wenige Menschen. Die durch Scheitern und Misslingen ausgelösten Krisenmomente, an welche die immanente Kritik anknüpft, verweisen auf zusammenhängende, systematische und richtungsoffene Notwendigkeiten. Erst aus der Bewegung dieses Scheiterns gewinnt die immanente Kritik objektnah die Maßstäbe, an denen sie sich orientiert. Immanente Kritik hat insofern einen transformativen Anspruch, da der Akt der transformierenden Negation dieser Widersprüche nur in Akten der Praxis stattfinden kann (vgl. ebd.: 277-281). Im Prozess der Aufhebung dieser Wiedersprüche wird folglich weder die Wirklichkeit an die Norm, noch die Norm an die Wirklichkeit angepasst, sondern beide werden durch eine gegenseitige Vermittlung transformiert.
Kritik und Intersektionalität
Nach Patricia Hill Collins (2023: 37) kann Intersektionalität als ein „Werkzeug der Kritik“ verstanden werden, welches verschiedene soziale Problemlagen (Rassismus, Klassismus, etc.) thematisiert, als solche erst problematisiert und sie zu verändern sucht. Dabei betrachtet Hill Collins Intersektionalität einerseits als Heuristik und andererseits als Metapher, welche als Kritik bestehender Macht- und Herrschaftsdynamiken zu einem Paradigmenwechsel, also einer Änderung unserer internalisierten Denkprozesse, führen sollen (vgl. ebd.: 37-73). (Gesellschafts)Kritik bildet demnach die Grundlage der Intersektionalität, die versucht den Ansprüchen einer kritischen Sozialtheorie gerecht zu werden.
Literatur
- Bittlingmayer, U. H., et al. (Hg.) 2016, Handbuch Kritische Theorie. Wiesbaden.
- Boltanski, L. (2010), Soziologie und Sozialkritik. Frankfurter Adorno-Vorlesungen 2008. Berlin.
- Butler, J. (2001), „Was ist Kritik? Ein Essay über Foucaults Tugend“ in: Transversal Texts; URL: https://transversal.at/transversal/0806/butler/de [letzter Aufruf: 11.03.2024].
- Celikates, R. (2006), Kritik als soziale Praxis. Gesellschaftliche Selbstverständigung und kritische Theorie Frankfurt a.M.
- Foucault, M. (2010), Kritik des Regierens. Schriften zur Politik. Ausgewählt und mit einem Nachwort von Ulrich Bröckling. (1. Aufl.). Berlin.
- Hill Collins, P. (2023), Intersektionalität als kritische Sozialtheorie. Münster.
- Horkheimer, M., Adorno, T. W. (1969), Dialektik der Aufklärung: philosophische Fragmente. Frankfurt.
- Jaeggi, R. (2009), Was ist Kritik? Berlin.
- Jaeggi, R. (2014), Kritik von Lebensformen. Berlin.
- Kammler, C., et al. (Hg.) 2020, Foucault-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Heidelberg.
- Krings, H., et al. (Hg.) 1972, Handbuch Philosophische Grundbegriffe. München.
Links
- https://www.duden.de/rechtschreibung/Kritik [letzter Aufruf: 30.03.2024]
- https://de.wikipedia.org/wiki/Kritik [letzter Aufruf: 30.03.2024]