Sitzung 3: Praxis und Konzeption kritischer Sozialtheorie

Intro

In dieser Sitzung beschäftigen wir uns anhand der Seminarliteratur mit der Frage, was eine kritische Sozialtheorie (KST) auszeichnet und wie sie praktiziert werden kann. Dabei soll diskutiert werden, wie eine Praxis kritischen Forschens zu verstehen ist und inwiefern sich dieses Verständnis auf Forschungsmethodologie sowie produzierte Theorie auswirkt.

In ihrem Buch „Intersektionalität als kritische Sozialtheorie“ (2023) gibt Patricia Hill Collins eine Übersicht über verschiedene Ansätze kritischer Sozialtheorie. Daran anschließend lässt sich Nancy Frasers Aufsatz „What’s Critical about Critical Theory? The Case of Habermas and Gender“ (1985) als Beispiel der Synthese kritischer Sozialtheorie – vielleicht auch Beispiel einer Teamarbeit kritischer Sozialtheoretiker*innen – verstehen. Die damals 38-jährige Fraser extrapoliert, rekonstruiert und korrigiert Teile der 1981 erschienenen Theorie des kommunikativen Handelns des damals 56-jährigen Jürgen Habermas mit ihrem feministischen Impetus, den sie auch mit dem Vorhaben kritischer Sozialtheorie identifiziert.

Merkmale kritischer Sozialtheorie

Die Merkmale zur kritischen Sozialtheorie haben wir anhand von Collins Ausführungen selbst erarbeitet. Dabei handelt es sich nicht um feste Kategorien, sondern ihre Grenzen sind kontingent. Auch Frasers Text konnten wir, verstanden als Beispiel der Synthese kritischer Sozialtheorie, Merkmale entnehmen, die wir im Folgenden in eine Übersicht mit Collins historischen Rekonstruktionen bringen. Kurz: Wie wird kritische Sozialtheorie bei Collins und Fraser konzipiert und praktiziert?

Collins 2023 Fraser 1985
Forschungsziele - Etablierte Herrschaft abschaffen als Grundlage für sozialen Wandel (92) - shed light on the character and bases of subordination (of women),
- employ categories and explanatory models which reveal rather than occlude relations of male dominance and female subordination and
- demystify ideological rival approaches which obfuscate or rationalize those relations
→ „self-clarification of the struggles and wishes of the age“ (Marx's 1843 definition)
Forschungsthemen - Relationalität, Macht, soziale Ungleichheit, soziale Kontexte, Komplexität, Social Justice als Kernkonstrukte des paradigmatischen Denkens der Intersektionalität (90)
- Herrschaftskritik (102)
- Blick auf Widerstand richten, widerständiges Wissen produzieren (115)
- social and political theory,
- feminist theory, and
- contemporary French and German thought
(von ihrer akademischen Website)
Eigene (ethische, politische) Positionierung - Ablehnung von Naturalisierung und damit Legitimation von existierenden Formen der Gesellschaft (85)
→ Widerstand gegen Formen westlichen Wissens (102)
- Bemüht, sozialen Wandel umzusetzen, was ethische und normative Ansprüche impliziert (85, 102)
- Vorantreiben des sozialen Wandels sowohl mit Forschungsergebnissen als aber auch bereits mit der Forschungspraxis (112)
- identification with ‚the‘ feminist movement with which it has a partisan though not uncritical identification
Forschungsmethoden, -praxis - Dialektische Analyse bzw. dialogisches Engagement: Analyse von Machtstrukturen unter Bewusstsein der eigenen Verbindung mit diesen (88 f.)
→ Selbstreflexion der eigenen Praktiken unter Beeinflussung von Machtbeziehungen (90)
- Interdisziplinäre Arbeitsweise (80, 92)
- Übernehmen von Verantwortung für produziertes Wissen. Berücksichtigung dessen schon während der Forschungspraxis (82-84)
→ in die Analysen werden sowohl „Inhalt der Theorie (das theoretische Wissen) als auch die Entstehungsprozesse (die Theoriebildung)“ einbezogen (111 f.)
- Relationale Analyse: Doppelte Artikulation bzw. intersektionale Idee der Relationalität (98 f.)
- Perspektive der Unterdrückten: Nutzung des transformativen Potenzials von Befreiungskämpfen (102)
→ Befreiungstheorie (107)
- reflect if and how well an author does theorize the situation and prospects of the feminist movement (or any other supportable movement) and if the author's work is lacking, then extrapolate, reconstruct and adjust it according to the empirical adequacy and normative political implications
Arbeitsorganisation der Forschung - Heterogene, diverse Forschungsgruppe in Bezug auf Alter, Geschlecht, Klassenzugehörigkeit, Ethnizität, Sexualität, usw. (92)
→ für Multiperspektivität; Sichtbarmachung unsichtbarer bzw. ungehörter Positionen Gemeinschaftliche Wissensproduktion bzw. Teamarbeit, -forschung (92, 115)

Zusammenfassung der historischen Herleitung von Collins Merkmalen kritischer Sozialtheorie

Die wissenschaftlichen Strömungen, die Collins untersucht hat, sind zum einen die Kritische Theorie der Frankfurter Schule (FS). Sie betont, dass die Mitglieder der FS während der NS-Zeit fliehen mussten, politisch verfolgt wurden, teilweise dem Leben bedroht waren und der Zensur unterlagen. All das stellte den Theoriebildungsprozess der FS unter besondere Bedingungen und sie waren durch äußere Umstände dazu angehalten, politisch klug und selbstreflektiert in ihrer theoretischen Praxis zu agieren. Natürlich waren die äußeren Umstände nicht allein ursächlich zur Entwicklung der Kritischen Theorie. Vom Marxismus ausgehend, interdisziplinär forschend, den sozialen Wandel anstrebend haben auch die Mitglieder selbst eigenen Anteil daran. Doch betont Collins diese äußeren Umstände der Menschen als Einflüsse auf die Theorie(-bildung). Biografien und Betroffenheit sind relevant. (vgl. Collins 2023: 81-90)

Bei den anderen von Collins untersuchten wissenschaftlichen Strömungen handelt es sich um die britische Cultural Studies ( Centre for Contemporary Cultural Studies = CCCS) (ebd.: 91-99) und das umstrittene Feld frankophoner Sozialtheorien (ebd.: 100-110). Beide Strömungen haben miteinander gemeinsam, dass sie sich mit den Folgen des Kolonialismus der betreffenden Nationen beschäftigen. In beiden Fällen stammten die Forschenden aus (ehemals) kolonialisierten Gebieten: Stuart Hall aus Jamaika als Direktor der CCCS sowie im frankophonen Feld Frantz Fanon aus Martinique, der eine Art Befreiungstheorie angelehnt am Existenzialismus ( Sartre) und den kolonialen Befreiungskämpfen (Algerien) entwickelte. Schwerpunkte waren dabei die Einnahme der Perspektive der Unterdrückten sowie eine kategorische Herrschaftskritik. Beide Personen fanden zu ihrer Zeit nur wenig Beachtung. Ein Phänomen, dass vielen nichtweißen Forscher*innen zuteilwird. Zudem betont Collins, dass im CCCS die Arbeitsorganisation besonders war. Die Forschungsgruppen waren sehr divers zusammengesetzt und die Zusammenarbeit zur gemeinsamen Wissensproduktion war Priorität. Im Falle Fanons betont sie die Involviertheit in Befreiungskämpfe als Vermischung aus politischem und wissenschaftlichem Handeln bzw. Bestreben.

Insofern stellt Collins Biografien, persönliche Betroffenheit von Diskriminierung, sozialer Ungleichheit, struktureller Gewalt, usw., die diverse Zusammensetzung der Forschenden, die Arbeitsorganisation sowie eine politisch-aktivistische Einstellung (möglicherweise als Konsequenz dessen) als relevante Faktoren für ein Betreiben von kritischer Sozialtheorie heraus. Äußere Einflüsse, Betroffenheit, Zusammenstellung der Forschenden, Arbeitsorganisation, politische Haltung spielen eine Rolle neben den klassischen wissenschaftlichen methodologischen Eigenschaften, wie Interdisziplinarität und Selbstreflexion. Wobei diese offenkundig durch die genannten Einflüsse von selbst zustande zu kommen scheinen.

Nancy Frasers aktuelle Arbeit

Nancy Fraser ist Professor of Philosophy and Politics at the New School for Social Research in New York. Zu ihrer akademischen Positionierung sagt sie:

→ „Ich identifiziere mich auf jeden Fall mit der Frankfurter Schule und ihrer späteren Entwicklung und ich werde in der Regel mit ihr in Verbindung gebracht. Aber es gibt auch andere Denktraditionen, die mich stark beeinflusst haben, etwa der amerikanische Pragmatismus, der frankofone Poststrukturalismus und natürlich der Feminismus. Wenn ich mich einer Generation zuordnen müsste, würde ich mich am ehesten in der Neuen Linken verorten. Meine politische und intellektuelle Weltanschauung wurde in den USA im Kontext der Bürgerrechtsbewegung, der Anti-Kriegsbewegung, der Students for a Democratic Society (SDS), der Entwicklung des Marxismus und der Suche nach einem zeitgemäßen Marxismus geformt.“ (Cicerchia und Fraser 2022)

In ihrem Text „What’s Critical about Critical Theory? The Case of Habermas and Gender“ konfrontiert sie Habermas' Arbeit mit einem feministischen Impetus, der sich in den letzten 40 Jahren weiterentwickelt hat - unter anderem zum oder im Konzept der Intersektionalität. In zwei verschiedenen Interviews positioniert sie sich dazu folgendermaßen:

→ „Intersektionalität unterscheidet sich davon meiner Meinung nach. Sie benennt ein Problem und verdeutlicht das Bedürfnis nach einem inklusiveren Denken und einer inklusiveren politischen Praxis. Für mich war Intersektionalität zunächst eine Perspektive, um die spezifische Situation Schwarzer Frauen zu analysieren und die sich überkreuzenden Formen der Unterdrückung sichtbar zu machen, denen sie ausgesetzt waren. Nach und nach entwickelte sich die Intersektionalität zu einer umfassenderen Theorie, die die Verbindungen zwischen Patriarchat, Kapitalismus und Rassismus aufzuzeigen versucht. Für mich ist das aber problematisch, weil der Kapitalismus auf einer anderen analytischen Ebene operiert. Das »Patriarchat« lasse ich mal außen vor, weil mir der Begriff als historische Kategorie widerstrebt. Ich denke, dass männliche und rassifizierte Vorherrschaft in ihrer kapitalistischen Ausprägung nicht auf Willkür fußen. Und ich glaube nicht, dass das Konzept der Intersektionalität wirklich erklären kann, warum das so ist. Die Intersektionalität beschreibt etwas, aber sie erklärt nichts. Ich möchte hingegen ergründen, woher diese sich überkreuzenden Herrschaftsformen herrühren. Und dazu brauchen wir ein erweitertes Verständnis des Kapitalismus und der drei Formen der Arbeit [ausgebeutet, enteignet, domestiziert].“ (Cicerchia und Fraser 2022)

→ „Ich teile das Ziel intersektionalistischer Theoretikerinnen, die Kämpfe und Forderungen jener sozialen Gruppen zusammenzudenken, die als getrennt wahrgenommen werden. Ich glaube aber, dass man hier noch tiefer gehen kann, indem man nicht nur sagt, dass Dinge intersektional sind, sondern auch auf welche Art und Weise, wie sie zusammenhängen. Man muss also auch zeigen, wie die Gemeinsamkeiten verschiedener Interessengruppen verdeckt oder warum sie von den Beteiligten sogar dezidiert verneint wurden. Es geht nicht nur um die potenziellen Überschneidungen, sondern auch darum, wieso diese von den Betroffenen oft ungesehen bleiben – gerade wenn einem daran gelegen ist, am Ende Verbindendes zu betonen.“ (Markwardt und Fraser 2022)

Wie auch in ihrem Text von 1985, scheint Fraser in ihrer aktuellen Arbeit Kapitalismuskritik in den Vordergrund zu stellen, gar eine „neue kritische Theorie des Kapitalismus“ (Markwardt und Fraser 2022) anzugehen. In ihrem neuesten Buch „Der Allesfresser“ (2023) möchte sie den Kapitalismus nicht nur als ein Wirtschaftssystem verstanden wissen, sondern als „eine Beziehung zwischen der Ökonomie und anderen gesellschaftlichen Bereichen“, die einerseits zur Aufrechterhaltung des Wirtschaftssystems dienen, aber gleichzeitig auch vom Kapitalismus „kannibalisiert“ werden.

Sitzungsgestaltung 09.11.23

Leseeindrücke und Fragen

Bezogen auf die Frankfurter Schule: Überheblichkeit kritischer Sozialforschung?

Gruppenarbeit: Verantwortung kritischer Sozialtheorie in der...

1. …Rezeption

→ (Wie) Kann Verantwortung für die Rezeption von produziertem widerständigem Wissen übernommen werden? Oder laufen kritische Forscher*innen damit Gefahr, ihre Kompetenzen zu überschreiten (Paternalismus)?

Textbezug: Collins 107 zu Bourdieus Kontroverse
2. …Methodologie

→ (Wie) Kann in der Forschung garantiert werden, nicht unbeabsichtigt Herrschaftsstrukturen zu legitimieren/ reproduzieren? (Wie) Können Forscher*innen sich kritisch gegenüber Herrschaftsstrukturen verhalten, wenn sie nicht von Diskriminierung betroffen sind (z.B. „gender-blindness“ eines Habermas‘ zu verhindern?

Textbezug: Collins 102 zu Fanons Herrschaftskritik, Perspektiven (oder ihre Annahme) der Unterdrückten
(und 85 f. zu Horkheimers Überlegungen)
3. …wissenschaftliche Arbeitsorganisation

→ Inwiefern kann bereits die Methodologie bzw. die Forschungspraxis sozialen Wandel voranbringen? Wie beeinflusst die Arbeitsorganisation das produzierte theoretische Wissen?
(Welche Erfahrungen haben wir aus unserem bisherigen akademischen Leben – und speziell aus Freiburg?)

Textbezug: Collins 92 f. zu Birmingham School und Frasers kritische Rezeption von Habermas
4. …Korrespondenz mit „social movements“

→ Mit welchen der verschiedenen aktuellen „social movements“, die verschiedene Diskriminierungserfahrungen artikulieren, auf verschiedene Probleme hinweisen und verschiedene Lösungen suchen/anbieten, soll kritische Sozialtheorie korrespondieren? Nach welchen Kriterien kann das entschieden werden?

Textbezug: Fraser 97 zu besagter Korrespondenz

Dokumentation der Gruppendiskussionen

1. …Rezeption

- Wie wird Verantwortung/ Verantwortlichkeit verstanden? 1) Pariser Wissen auf Algerien angewandt?! 2) Aktivismus/ Agitation fördern?

- These: Die Verantwortung liegt nicht (mehr) nur beim Text/Autor*in

- schwierig, Kausalität der Rezeption nachzuvollziehen

2. …Methodologie

- Transparenz dazu, dass Herrschaftsstrukturen immer reproduziert werden, zu eigenen blinden Flecken

- Transparenz zu eigener Position und eigener (Nicht-)Betroffenheit, auch im Forschungsprozess

- im Forschungsprozess große Diversität an Perspektiven einholen → „reality check“

3. …wissenschaftlicher Arbeitsorganisation

- Forschung muss sich Interdisziplinarität, Diversität der Perspektiven, Heterogenität des Forschungsteams als Ziel setzen

4. …Korrespondenz mit „social movements“

- Welchen sozialen Bewegungen sollte kritische Sozialforschung Gehör schenken? Der lautesten, der größten?

- Es muss keinen affirmativen Bezug auf die sozialen Bewegungen geben, mit denen Forscher*innen korrespondieren?

- Welcher soziale Wandel soll gefördert werden?

Literaturangaben

- Cicerchia, Lillian; Fraser, Nancy (2022): Interview mit Nancy Fraser. »Intersektionalität beschreibt etwas, aber erklärt nichts«. JACOBIN. Online verfügbar unter https://jacobin.de/artikel/nancy-fraser-intersektionalitat-beschreibt-etwas-aber-erklart-nichts-kapitalismus-feminismus-ausbeutung.

- Fraser, Nancy (1985): What's Critical about Critical Theory? The Case of Habermas and Gender. In: New German Critique (35), S. 97. DOI: 10.2307/488202.

- Fraser, Nancy (2023): Der Allesfresser. Wie der Kapitalismus seine eigenen Grundlagen verschlingt. Sonderdruck, deutsche Erstausgabe. Berlin: Suhrkamp (Edition Suhrkamp).

- Hill Collins, Patricia im Podcast „New Books in Philosophie“ (2019) über ihr Buch „Intersectionality as C>ritical Social Theory“ (wie sie dazu kam, was sie motivierte, wie sie Kritik versteht)

- Hill Collins, Patricia (2023): Intersektionalität als kritische Sozialtheorie. 1. Auflage. Münster: Unrast Verlag.

- Markwardt, Nils; Fraser, Nancy (2022): Interview mit Nancy Fraser. „Der Kapitalismus kannibalisiert seine eigenen Grundlagen“. ZEIT ONLINE. Online verfügbar unter https://www.zeit.de/kultur/2022-05/nancy-fraser-kapitalismus-feminismus-rassismus/seite-2.

- Misik, Robert (2023): Wir sind erledigt. Neues Buch über Gegenwartskapitalismus. taz, die tageszeitung. Online verfügbar unter https://taz.de/Neues-Buch-ueber-Gegenwartskapitalismus/!5918463/.

- The New School For Social Research: Nancy Fraser. Henry A and Louise Loeb Professor of Political and Social Science. New York. Online verfügbar unter https://www.newschool.edu/nssr/faculty/Nancy-Fraser/.

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