Max Horkheimer: Traditionelle und kritische Theorie

Intro

Max Horkheimer 1964 In dem Essay Traditionelle und kritische Theorie, 1937 in der am Frankfurter Institut für Sozialforschung herausgegebenen Zeitschrift für Sozialforschung erschienen, formuliert Max Horkheimer eine Neuausrichtung des noch jungen Instituts für Sozialforschung. In dem rückblickend als Gründungsdokument bezeichneten Essay entwickelt Horkheimer zum ersten Mal den Terminus Kritische Theorie in Abgrenzung zur Traditionellen Theorie, der in den nachfolgenden Jahren die theoretische Perspektive der Frankfurter Schule maßgeblich prägt. Vor dem Hintergrund des Nationalsozialismus und erstarkender faschistischer Bewegungen, sieht Horkheimer das Ziel einer Kritischen Theorie in der Einrichtung vernünftiger Zustände (vgl. Horkheimer 2020: 44). Im Anschluss an Karl Marx gelte es die Widersprüche der bürgerlichen Gesellschaft aufzudecken, gleichsam „ihr Geheimnis aus[zusprechen]“ (ebd.). Indem Horkheimer die Traditionelle Theorie als Ausdruck des bürgerlichen Bewusstseins, folglich als ideologisch enttarnt, entwirft er die Idee einer emanzipatorischen Wissenschaft. Das Ziel sei folglich die Überwindung des gesellschaftlichen Gesamtzusammenhangs. Die Etablierung der Kritischen Theorie ist dabei vor dem historischen Hintergrund ihrer Entstehung zu betrachten. Die erkenntnistheoretischen und sozialphilosophischen Fragen, die Horkheimer in seinem Essay adressiert, und die in dem Verhältnis von Theorie und Praxis, von Subjekt und Objekt, von Begriff und Sache, von Einzelnem und Allgemeinem liegen, wurden besonders von Theodor W. Adorno und Jürgen Habermas in den darauffolgenden Jahren weiterentwickelt. Sie bilden noch immer die erkenntnistheoretischen und sozialphilosophischen Grundfragen, um die das kritische Denken der Frankfurter Schule kreist.
Damit zusammenhängend: Was bedeutet in diesem Zusammenhang Gesellschaftskritik? Wie gestaltet sich die kontinuierliche Arbeit an unserer Befreiung? Was bedeutet der Anspruch an radikale Selbstreflexivität für die Ausgestaltung einer Kritischen Theorie?

In der 2023 veröffentlichten Monografie Intersektionalität als kritische Sozialtheorie widmet sich Patricia Hill Collins multiperspektivisch dem Intersektionalitätsparadigma. Die Ausgangsfrage von Collins Monografie bildete dabei den roten Faden des Seminars. Dadurch, dass Collins explizit auf Horkheimers Skizzierung einer Kritischen Theorie eingeht und darauf aufbauend Intersektionalität als kritische Sozialtheorie entwirft, erscheint es mir produktiv, Horkheimers zentrale Argumente und Kategorien vorzustellen. Diese sind noch immer ein zentraler theoretischer Bezugspunkt kritischer Theoriebildung. Die Relektüre des Aufsatzes Traditionelle und Kritische Theorie stellt daher den ersten Teil meines Wikis dar. Anschließend reformuliere ich Collins Anliegen, indem ich frage: Intersektionalität als kritische Theorie? Ich untersuche im zweiten Teil meines Abschlusswikis den Intersektionalitätsbegriff aus der Sicht der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule und versuche so, mich der Beantwortung der Ausgangsfrage des Seminars aus einer anderen Perspektive anzunähern.

Zentrale Stichworte: Ideologie; Vernunft; Theorie – Praxis; Subjekt – Objekt; Kritik; Widersprüche; materialistische Gesellschaftstheorie, Zeitkern der Wahrheit, Herrschaftskritik, Totalität, bürgerliches Bewusstsein, Befreiung, Selbstreflexivität, Dialektik

100 Jahre Institut für Sozialforschung - Wie lehrreich war die Frankfurter Schule?

Ein Audiobeitrag des SWR2 zur Aktualität der Frankfurter Schule

Zum Einstieg: Der Theoriepodcast der Rosa Luxemburg Stiftung
Max Horkheimer: Traditionelle und kritische Theorie

1. Traditionelle Theorie als Ausdruck des bürgerlichen Bewusstseins

Max Horkheimer sieht das Ziel der Traditionellen Theorie in der Aufstellung eines universalen Systems der Wissenschaft (vgl. Horkheimer 2020: 6). In diesem Verständnis werde Theorie als ein Inbegriff von Sätzen über ein Sachgebiet verstanden, die so miteinander verbunden sind, dass aus einigen von ihnen die übrigen abgeleitet werden können (vgl. ebd. 5). Die Methode der Traditionellen Theorie ist folglich die Deduktion (vgl. ebd. 6/25). Die Grundforderung eines solchen Systems bestehe darin, dass alle Teile durchgängig und widerspruchslos miteinander verknüpft seien (vgl. ebd. 8).

„Soweit dieser traditionelle Begriff von Theorie eine Tendenz aufweist, zielt sie auf ein rein mathematisches Zeichensystem ab. Als Elemente der Theorie, als Teile der Schlüsse und Sätze, fungieren immer weniger Namen für erfahrbare Gegenstände, sondern mathematische Symbole. Auch die logischen Operationen selbst sind bereits so weit rationalisiert, daß zumindest in großen Teilen der Naturwissenschaft die Theoriebildung zur mathematischen Konstruktion geworden ist.“ (ebd. 8)

Horkheimer arbeitet heraus, dass die Auffassung von Theorie in den verschiedenen Soziologenschulen mit den Naturwissenschaften identifiziert sei (vgl. ebd. 9). Er fragt anschließend, wie es sich nach diesem traditionellen Begriff von Theorie mit dem Erklären geschichtlicher Ereignisse verhalte (vgl. ebd. 12). Das Erklären geschichtlicher Ereignisse finde im Modus von Konditionalsätzen statt, welche auf eine spezifische Situation angewandt würden (vgl. ebd. 13).

Das Operieren mit Konditionalsätzen zur Erklärung geschichtlicher Ereignisse
Der Konditionalsatz, auch Bedingungssatz genannt, gibt die Bedingung (Kondition) an, die erfüllt sein muss, damit der im Hauptsatz genannte Sachverhalt zustande kommen kann.
Bsp: Wenn die Sonne scheint, können wir schwimmen gehen.
Horkheimer sieht in der Logik des Konditionalsatzes die Existenzweise von Theorie im traditionellen Sinn. Unter bestimmten Umständen a b c d, die zuvor bestimmt werden, muss das Ergebnis q erwartet werden (vgl. ebd.).

Horkheimer sieht in der Beschaffenheit der Traditionellen Theorie eine gesellschaftliche Notwendigkeit, die sich aus bestimmten ökonomischen und sozialen Mechanismen ergebe. Diese erfordern eine Formung des Wissensmaterials, die dem Ordnungsgefüge von Hypothesen entspreche (vgl. ebd.). Die Beschaffenheit der Traditionellen Theorie sei folglich sozial präformiert. Horkheimer enttarnt die Traditionelle Theorie als Ausdruck der bürgerlichen Ideologie.

„Soweit der Begriff der Theorie jedoch verselbstständigt wird, als ob er etwa aus dem inneren Wesen der Erkenntnis oder sonstwie unhistorisch zu begründen sei, verwandelt er sich in eine verdinglichte, ideologische Kategorie.“ (ebd. 14)

Indem sie vom wissenschaftlichen Betrieb abstrahiere und so ihre real gesellschaftliche Funktion innerhalb des gesellschaftlichen Produktionsprozesses leugne, erscheine die Traditionelle Theorie als Ausdruck eines inneren Wesens der Erkenntnis. Dadurch würde ihre positive gesellschaftliche Funktion verschleiert (vgl. ebd. 28).

„Eine Tätigkeit, die zur Existenz der Gesellschaft in ihren gegebenen Formen beiträgt, braucht durchaus nicht produktiv, das heißt wertbildend für ein Unternehmen zu sein. Trotzdem kann sie zu dieser Ordnung gehören und sie mit ermöglichen, wie dies bei der Fachwissenschaft wirklich der Fall ist.“ (ebd. 30)

Anstelle eines Wesens der Theorie fragt Horkheimer nach ihrer unmittelbaren Aufgabe in einem gesellschaftlichen Produktionsprozess zu einer spezifischen Zeit (vgl. ebd. 13).

2. Die Skizzierung einer kritischen Theorie

In der Kontrastierung der Traditionellen Theorie mit der Kritischen Theorie entwirft Horkheimer eine Theorie, die sich ihrer historischen Verstrickung bewusst ist und diese selbst ins Zentrum rückt. Horkheimer wagt es, die Beeinflussung von Theorie und Praxis zu behaupten und so auf die soziale Präformierung von Theorie hinzuweisen (vgl. ebd. 63). Diese beinhaltet eine doppelte Situiertheit: die des Erkenntnissubjekts und die der Theorie, ihrer logischen Struktur und ihrer zentralen Kategorien. Theorie sei folglich stets Teil des gesellschaftlichen Produktionsprozesses und erhalte erst darin ihre Funktion (vgl. ebd. 43). Ziel der Kritischen Theorie sei es zum einen, sich dieser Situiertheit bewusst zu werden und dadurch den positiven Einfluss der Theorie auf die gesellschaftlichen Strukturen zu einer bestimmten Zeit zu unterlaufen.

„Die Theorie als Moment einer auf neue gesellschaftliche Formen abzielende Praxis ist dagegen kein Rad eines Mechanismus, der sich in Gang befindet.“ (ebd. 43)

Zum anderen gründet die Idee einer emanzipativen Wissenschaft in dem Ziel, das gesellschaftliche Ganze zu transformieren. Dafür muss sich die Kritische Theorie einen Begriff von der gesellschaftlichen Totalität machen. Gegenstand der Kritischen Theorie sei die Gesellschaft als Ganze. Dabei gründe die Kritische Theorie durchaus auf abstrakten Bestimmungen. Diese sieht Horkheimer in der auf Tausch begründeten Ökonomie und in den damit zusammenhängenden Begriffen von Wert, Ware und Geld (vgl. ebd. 54).

Die Kritische Theorie ist dabei weder reformistisch noch utopistisch. Das Interesse der Kritischen Theorie liegt nicht in der Verbesserung der gesellschaftlichen Unrechtsverhältnisse, sondern in deren Aufhebung. Zudem macht sich die Kritische Theorie kein konkretes Bild des vernünftigen Zustands einer zukünftigen Gesellschaft. Kritische Theorie ist negative Gesellschaftstheorie (vgl. ebd. 77).

„Die möglichst strenge Weitergabe der kritischen Theorie ist freilich eine Bedingung ihres geschichtlichen Erfolgs; aber sie vollzieht sich nicht auf dem festen Grund einer eingeschliffenen Praxis und fixierter Verhaltensweisen, sondern vermittels des Interesses an der Umwandlung, das sich zwar mit der herrschenden Ungerechtigkeit notwendig reproduziert, aber durch die Theorie selbst geformt und gelenkt werden soll und gleichzeitig wieder auf sie zurückwirkt.“ (ebd. 76)
Zum Begriff der Kritik in der Kritischen Theorie
Zum Begriff der Negativität in der Kritischen Theorie

2.1. Die wesentliche Bezogenheit der Theorie auf die Zeit

In Abgrenzung zur Traditionellen Theorie betont Horkheimer, dass die wissenschaftlichen Strukturen von der jeweiligen gesellschaftlichen Situation abhängen, ohne mit dieser identisch zu sein. Das Verhältnis von Wissenschaft und Ökonomie ist folglich kein identitätslogisches oder ableitungslogisches im Sinne des orthodox-marxistischen Basis-Überbau-Schemas.

„Und wie der Einfluß des Materials auf die Theorie so ist auch die Anwendung der Theorie auf das Material nicht nur ein innerszientivischer, sondern zugleich ein gesellschaftlicher Vorgang.“ (ebd. 15)

Horkheimer sieht die wesentliche Bezogenheit der Theorie auf die Zeit in der ständigen Veränderung des theoretischen Existenzialurteils über die Gesellschaft, die durch seinen bewussten Zusammenhang mit der geschichtlichen Praxis bedingt sei (vgl. ebd. 66).

Was versteht Horkheimer unter dem Begriff des theoretischen Existenzialurteils?
Horkheimer betrachtet die kritische Gesellschaftstheorie als ein einziges theoretisches Existenzialurteil und grenzt sie dadurch von den Fachwissenschaften ab, deren kategorischen Urteile im Grunde hypothetischen Charakter aufweisen. Folglich würden in den traditionellen Wissenschaften Existenzialurteile weitestgehend vermieden. Das Existenzialurteil der kritischen Gesellschaftstheorie besage, dass die Warenwirtschaft die historisch gesellschaftliche Grundform darstelle vor dessen Hintergrund die neuere Geschichte sowie deren inneren und äußeren Widersprüche betrachtet werden müsse. Die Warenwirtschaft würde nach einer Periode des Aufstiegs, der Entfaltung menschlicher Kräfte, der Emanzipation des Individuums, nach einer ungeheuren Ausbreitung der menschlichen Macht über die Natur schließlich die weitere Entwicklung hemmen und die Menschheit in eine neue Barbarei führen (vgl. ebd. 57f).

Horkheimer betont, dass trotz des geschichtlichen Wandels, die grundlegende ökonomische Struktur der Gesellschaft und damit verbunden die Idee ihrer Aufhebung identisch bleibe (vgl. ebd. 67). Diese beiden Faktoren machen die Festigkeit der Kritischen Theorie aus. Gleichzeitig ist die Struktur der Theorie selbst von der gesellschaftlichen Entwicklung beeinflusst (vgl. ebd. 72). Daraus resultiert die Konzeption der Kritischen Theorie als eine radikal selbstreflexive Theorie. Das kritische Denken, das zwangsläufig in die historische Entwicklung verstrickt sei, muss sich stets selbst überdenken. An dieser Stelle formuliert Horkheimer die soziale Bedingtheit von Kritischer Theorie, die sich ihrer eigenen Situiertheit stetig gewahr werden muss.

2.2. Die Selbsterkenntnis des Menschen als Interesse an vernünftigen Zuständen

„Die Begriffssysteme des ordnenden Verstandes, die Kategorien, in die Totes und Lebendiges, gesellschaftliche, psychologische, physikalische Vorgänge gemeinhin aufgenommen werden, die Aufspaltung der Gegenstände und Urteile in die Fächer der einzelnen Wissensgebiete, all dies ist der gedankliche Apparat, wie er sich im Zusammenhang mit dem realen Arbeitsprozeß bewährt und eingeschliffen hat.“ (ebd. 46)

Horkheimer konstatiert, dass diese Begriffswelt das allgemeine Bewusstsein ausmache. Die gedankliche Entwicklung stehe dabei zur geschichtlichen Entwicklung in einer feststellbaren Relation, ohne dass beide parallel zueinander verliefen (vgl. ebd. 66). Karin Stögner schließt sich dem an, indem sie schreibt:

„Es ist eine Kritik gesellschaftlich geprägter Bewusstseinsstrukturen im modernen Subjekt, die Einsichten in die objektiven Strukturen der Gesellschaft verstellen.“ (Stögner 2022: 14)

Folglich sind die Grenzen der Kritikfähigkeit im modernen Subjekt selbst ausfindig zu machen und zu überwinden. Schließlich gebe es laut Horkheimer kein anderes Subjekt als das des geschichtlichen Augenblicks. (vgl. Horkheimer 2020: 74). Gleichzeitig vertrete die Kritische Theorie keinen Klassenstandpunkt. Da das Verhältnis von Sein und Bewusstsein bei den Klassen der Gesellschaft verschieden sei und sich eben nicht als miteinander identisch, sondern als dialektisch vermittelt darstelle, gebe die Beschreibung des proletarischen oder bürgerlichen Bewusstseins noch keine Auskunft über deren Aufhebung (vgl. ebd. 41). Eine Kritische Theorie, die sich die Beschreibung der Gefühle und Vorstellungen einer Klasse verschreibe, betreibe Sozialpsychologie und unterscheide sich darin nicht von der Traditionellen Theorie (vgl. ebd.). Horkheimer geht es demnach nicht darum, das proletarische Bewusstsein in Wissenschaft zu übersetzen. Vielmehr garantiere auch die Situation des Proletariats in dieser Gesellschaft keine richtige Erkenntnis (vgl. ebd. 40). Die richtige Erkenntnis könne nur mittels einer kritischen Theorie der bestehenden Gesellschaft erreicht werden. Diese sei vom Interesse an vernünftige Zustände getrieben. Die vernünftigen Zustände können wiederum nicht mit einem spezifischen Klasseninteresse identifiziert sein (vgl. ebd. 40). So konstatiert Horkheimer, dass mit der Beschreibung einer Not, noch nicht das Bild ihrer Beseitigung gegeben sei (vgl. ebd. 44). Nur mittels eines kritischen Denkens, das außerhalb der Klassenstandpunkte angesiedelt sei, könne der Mensch zur Selbsterkenntnis gelangen (vgl. ebd. 19). Horkheimer entlarvt dadurch sowohl den proletarischen Klassenstandpunkt als auch die Hypostasierung des Logos in der Traditionellen Theorie als falsches Bewusstsein und Ausdruck des Bestehenden.

3. Intersektionalität als kritische Theorie?

Patricia Hill Collins nähert sich in ihrer Monografie Intersektionalität als kritische Sozialtheorie dem Intersektionalitätsbegriff an. Ihr Anliegen ist es zum einen, die Genese des Intersektionalitätsparadigmas nachzuvollziehen, zum anderen verschiedene theoretische sowie praktische Ansätze zu bündeln, die eine intersektionale Perspektive stark machen. In dem Kapitel Was ist kritisch an einer kritischen Sozialtheorie? nimmt sie explizit Bezug auf Horkheimers Skizzierung einer Kritischen Theorie (vgl. Collins 2023: 84-91). Die Verwendung des Begriffs der Definition ist an dieser Stelle irreführend, da Horkheimer in meiner Lesart gerade keine Definition vornimmt. Horkheimers Ausführungen einer Kritischen Theorie sind vielmehr negativ bestimmt und entziehen sich zu gewissen Teilen einem definitorischen Vorgehen im traditionellen Sinn. Entscheidend ist jedoch, dass Collins in die Konzeption von Intersektionalität als kritische Sozialtheorie zentrale Aspekte der Kritischen Theorie aufnimmt. Diese sind folglich konstitutiv für eine intersektionale kritische Sozialtheorie, wie Collins sie entwirft. Zentrale Stichworte diesbezüglich sind Selbstreflexivität, soziale Situiertheit, das Verhältnis von Theorie und Praxis sowie der emanzipative Anspruch der Theorie.
Aus der Warte der Kritischen Theorie dreht sich die Frage gewissermaßen um: Kann das Intersektionalitätsparadigma für eine Gesellschaftskritik im Sinne der Kritische Theorie fruchtbar gemacht werden? Bereits in der Fragestellung tritt ein Problem zutage, das in der vorherigen Bestimmung des Begriffs der Intersektionalität begründet ist. Da unter dem Begriff der Intersektionalität in den letzten drei Jahrzehnten diverse theoretische sowie methodologische Ansätze firmieren, kann die Frage nicht unter Rückgriff auf eine feststehende begriffliche Bestimmung beantwortet werden. Gerade die begriffliche Offenheit kennzeichnet das Intersektionalitätsparadigma. Einige Theoretiker*innen, die in der Tradition der Kritischen Theorie stehen, haben sich mit unterschiedlichen Aspekten von Intersektionalität beschäftigt und versucht, die Potentiale und innertheoretischen Widersprüche intersektionaler Ansätze herauszuarbeiten.

Christine Achinger befragt in dem Aufsatz Bilder von Geschlecht, Judentum und Nation als Konstellation Konzeptionen von Intersektionalität auf ihre Tauglichkeit hin, unterschiedliche Konstruktionen des »Anderen« als aufeinander bezogen zu erfassen (vgl. Achinger 2022: 77). Mittels einer historischen Perspektive arbeitet Achinger heraus, dass die unterschiedlichen Diskurse des »Anderen« jeweils auf neuartige Problemkonstellationen in der Entwicklung der kapitalistischen Moderne reagieren und dadurch auch da aufeinander bezogen sind, wo sie sich nicht unmittelbar überschneiden. Diese Entwicklung gestalte vorkapitalistische Formen von Differenz grundlegend um. Der Fortbestand und Wandel dieser neu konstituierten Formen von Differenz können folglich als zentrales Moment der kapitalistischen Moderne ausgemacht werden (vgl. ebd. 78). Ein umfassendes Verständnis der kapitalistischen Moderne sei also notwendig, um den sich wandelnden und widersprüchlichen Bildern unterschiedlicher »Anderer« als eingebettet in ein gesellschaftliches Ganzes gewahr zu werden (vgl. ebd. 92). Achinger benennt ausgehend von ihrer Analyse die Frage nach dem Wechselverhältnis zwischen unterschiedlichen Formen von Unterdrückung und ihren Ursprüngen als zentral für die Auseinandersetzung mit Konzeptionen von Intersektionalität (vgl. ebd. 77).

„Zwar geht es vielen intersektionalen Ansätzen nicht in erster Linie um die Frage nach den Verbindungen zwischen verschiedenen Formen von Feinderklärung und Diskriminierung am Ort ihrer Entstehung, einer spezifischen Gesellschaft zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt, sondern um ihre Beziehung gewissermaßen am Ort des Einschlags, in ihren Auswirkungen auf Individuen, die von mehreren solchen Zuschreibungen betroffen sind. Dennoch gibt es auch hier ausgedehnte Debatten um die Frage, wie das Wechselverhältnis zwischen unterschiedlichen Formen von Unterdrückung und ihren Ursprüngen vorzustellen sei.“ (Achinger 2022: 77)

Karin Stögner schließt an Überlegungen Achingers an und leitet daraus die zentrale Aufgabe einer intersektional ausgerichteten feministischen Kritischen Theorie ab.

„Die vordringliche Aufgabe einer intersektional ausgerichteten feministischen Kritischen Theorie ist, basierend auf einem tragfähigen Begriff von Gesellschaft, jener Totalität gewahr zu werden, in welche alle Erscheinungsformen von Alterität verstrickt sind.“ (Stögner 2022: 36)

Karin Stögner schlägt ein Verständnis von Intersektionalität vor, das die „Intersektionalität von Ideologien“ ins Zentrum rückt (vgl. ebd. 35). Ein solches Verständnis isoliere nicht die unterschiedlichen Herrschaftsmechanismen und -techniken, sondern mache sie als aufeinander bezogen und ineinander verflochten begreifbar (vgl. ebd. 17). So gerate die Multidimensionalität gesellschaftlicher Herrschaftsverhältnisse in einer Totalität in den Blick, die wesentlich als Prozess zu verstehen sei, der die subjektive und strukturelle Ebene vermittele (vgl. ebd. 35).

Cornelia Klinger und Gudrun-Axeli Knapp ergänzen diese Beobachtungen in ihrem Aufsatz Achsen der Ungleichheit – Achsen der Differenz: Verhältnisbestimmungen von Klasse, Geschlecht »Rasse«/Ethnizität, indem sie die Leerstelle in der Auseinandersetzung um die Triade Klasse, »Rasse«/Ethnizität und Geschlecht in ihrer Beschränkung auf die Kritik an Identitätskategorien ausmachen (vgl. Klinger/Knapp 2007: 36). Folglich stelle die intersektionale Analyse auf der Subjektebene lediglich Begrifflichkeiten bereit, um die Erfahrungen verschiedener Subjektpositionen, also die Perspektiven von Betroffenen, ausdrücken zu können.

„Obwohl es ohne jeden Zweifel ein großes Verdienst der Frauen- und Geschlechterforschung ist, die Überschneidungen verschiedener Ungleichheitsrelationen zuerst thematisiert zu haben, bleiben viele Fragen offen, die nicht allein das Was und Wie ihrer Überschneidungen betreffen. Die Debatten, die um die Triade Klasse, »Rasse«/Ethnizität und Geschlecht in den vergangenen Jahrzehnten geführt wurden, kranken daran, dass die Begriffe im anglo-amerikanischen Diskurs, teilweise aber auch im deutschen Sprachraum in erster Linie als Identitätskategorien aufgefasst, also auf der Subjektebene angesiedelt werden. Das heißt, es geht vorrangig darum, wie Individuen durch ihre Zugehörigkeit zu einem Geschlecht, einer Klasse oder Ethnie »betroffen« sind, welche Erfahrungen sie damit machen und wie sie sich die verschiedenen »Subjektpositionen« überschneiden.“ (Klinger/Knapp 2007: 36)

Es fehle aber an einer Ausarbeitung der soziokulturellen Grundlagen der Konzepte sowie an der konkreten Bestimmung der Zusammenhänge zwischen Klasse, »Rasse«/Ethnizität und Geschlecht (vgl. ebd.). Eine intersektionale Perspektive vermag es nicht, die Eigentümlichkeit bzw. Eigenständigkeit der Kategorien und zugleich ihren Zusammenhang zu denken (vgl. ebd. 37). In dem Aufsatz Konstellationen von Kritischer Theorie und Geschlechterforschung geht Gudrun-Axeli Knapp auf die Ko-Konstitution und Interdependenz zwischen einer spezifischen Form des Geschlechterverhältnisses und der Gesamtgesellschaft ein (vgl. Knapp 2022: 49). Sie stellt die Frage nach dem Verhältnis von Wesen und Erscheinung, von Einzelnem und Allgemeinem. Wie lassen sich die einzelnen Diskriminierungserfahrungen in ihrer Eigentümlichkeit begrifflich erfassen und gleichzeitig in ein Verhältnis zur gesellschaftlichen Totalität bringen?

Interview mit Nancy Fraser: »Intersek­tionalität beschreibt etwas, aber erklärt nichts«
Im JACOBIN-Interview spricht die Philosophin darüber, warum die Analyse des Kapitalismus der Schlüssel zum Verständnis unserer Gesellschaften bleibt.

4. Offene Frage- und Problemstellungen

Es konnte herausgearbeitet werden, dass viele Fragen, mit denen die Intersektionalitätsforschung konfrontiert ist, in Horkheimers Aufsatz zum ersten Mal ausformuliert werden. Dazu gehört das Verhältnis von Theorie und Praxis, von Erkenntnissubjekt und Erkenntnisobjekt, das Paradigma der Selbstreflexivität der Theorie sowie ein spezifisches Identitätsverständnis. Abschließend lässt sich festhalten, dass sich eine vertiefte Auseinandersetzung mit der Frage, inwiefern eine intersektionale Analyse gesellschaftlicher Strukturen für die Kritische Theorie fruchtbar gemacht werden kann, mit verschiedenen Frage- und Problemstellungen konfrontiert sieht. Diese lassen sich folgendermaßen zusammenfassen.

  • Inwiefern ist der Intersektionalitätsbegriff selbst ideologisch? Ist folglich eine intersektionale Gesellschaftsanalyse nicht emanzipativ im Sinne der Kritischen Theorie, sondern Ausdruck des bürgerlichen Bewusstseins?
  • Ist in der intersektionalen Perspektive der Schematismus bereits angelegt?
    Hier erscheint mir eine Betrachtung der Metapher der intersection (Kreuzung) als produktiv. Die Quelldomäne der Kreuzungsmetapher ist der Straßenverkehr, der wiederum ein spezifisch modernes Phänomen darstellt. An dieser Stelle wäre es interessant, zunächst den Kontext zu klären, aus dem heraus Kimberlé Crenshaw 1989 die Metapher der intersection entwickelt, um für die Erfassung der Multidimensionalität von Diskriminierungserfahrungen einen geeigneten Analyserahmen zu schaffen (vgl. Crenshaw 2019: 158). Crenshaw addressiert dabei ein grundsätzliches erkenntnistheoretisches Problem: Die Frage nach der Darstellbarkeit, bzw. der begrifflichen Darstellung von Wirklichkeit. Dabei ist es wichtig, die Metapher der Kreuzung, die noch immer das Verständnis des Intersektionalitätsparadigmas prägt, in Bezug auf ihre Anwendungsbereiche zu untersuchen. Was wird dadurch sichtbar bzw. beschreibbar? Was wird durch die Metapher der intersection womöglich verschleiert?
Zur weiteren Beschäftigung mit der Bedeutung von Metaphern für die intersektionale Forschung: Die Verbildlichung der Intersektionalität
  • Auf welchem Subjektbegriff bzw. Verständnis von Identität gründet die intersektionale Analyse?
    In meiner Lesart dominanter intersektionaler Analysen geht es zunächst um die Beschreibung diverser Diskriminierungserfahrungen. Um der Affirmation moderner Subjektkonstitutionen zu entgehen, ist es meines Erachtens unerlässlich, das Verhältnis von Subjekt und gesellschaftlicher Totalität auszumachen. Hier gilt es, das Verhältnis von Einzelnem und Allgemeinem, sowie den Vermittlungszusammenhang einzelner Herrschaftssysteme in den Blick zu nehmen. Wie sich dieses in einer intersektionalen Gesellschaftskritik ausgestaltet, ist daher eine zentrale Fragestellung.
  • Kann die Bedeutung des Unbewussten, eine psychosoziale Perspektive, in einer intersektionalen Gesellschaftskritik berücksichtigt werden?
  • Das Konzept der Intersektionalität wird oft im Zusammenhang mit Machttheorien angeführt. Die Kritische Theorie geht hingegen vom Begriff der Herrschaft aus. Ziel ist folglich die Herrschaftskritik, wohingegen jüngere Theorien sich eher als machtkritisch begreifen. Hier ist eine Auseinandersetzung mit den Kategorien Macht und Herrschaft notwendig, um potentielle Widersprüche im Begriff der Intersektionalität selbst ausfindig machen zu können.
  • Läuft die begriffliche Offenheit des Intersektionalitätsparadigmas Gefahr, beliebig zu werden? Worin liegt die Festigkeit einer intersektionalen Kritischen Theorie?
  • Verbleibt eine intersektionale Gesellschaftsanalyse auf der Erscheinungsebene oder vermag sie es, das Wesen des gesellschaftlichen Gesamtzusammenhangs auszumachen?

5. Literatur

  • Achinger, Christine 2022: Bilder von Geschlecht, Judentum und Nation als Konstellation. Intersektionalität und Kritische Theorie. In: Kritische Theorie und Feminismus. Hg. v. Karin Stögner und Alexandra Colligs. Suhrkamp Verlag Berlin. S. 75-96.
  • Colligs, Alexandra 2022: Zwei Formen der Kritik an Identität. Zum Verhältnis von Kritischer Theorie und Queerfeminismus. In: Kritische Theorie und Feminismus. Hg. v. Karin Stögner und Alexandra Colligs. Suhrkamp Verlag Berlin. S. 225–246.
  • Crenshaw, Kimberlé 2019: Das Zusammenwirken von Race und Gender ins Zentrum rücken: Eine Schwarze feministische Kritik des Antidiskriminierungsdogmas, der feministischen Theorie und antirassistischer Politiken [1989]. In: Schwarzer Feminismus – Grundlagentexte. Hg. v. Natasha A. Kelly. Unrast Verlag Münster. S. 143-184.
  • Hill Collins, Patricia 2023: Was ist kritisch an einer kritischen Sozialtheorie? In: Dies. Intersektionalität als kritische Sozialtheorie, Kapitel 2. Unrast Verlag Münster. S. 78–115.
  • Horkheimer, Max 2020: Traditionelle und kritische Theorie [1937]. Reclam Verlag Ditzingen.
  • Klinger, Cornelia/ Knapp, Gudrun-Axeli 2007: Achsen der Ungleichheit – Achsen der Differenz: Verhältnisbestimmungen von Klasse, Geschlecht »Rasse«/Ethnizität. In: Achsen der Ungleichheit. Hg. v. Cornelia Klinger et. al. Campus Verlag Frankfurt. S. 19–41.
  • Knapp, Gudrun-Axeli 2022: Konstellationen von Kritischer Theorie und Geschlechterfor-schung. In: Kritische Theorie und Feminismus. Hg. v. Karin Stögner und Alexandra Colligs. Suhrkamp Verlag Berlin. S. 37–57.
  • Stögner, Karin 2022: Kritische Theorie und Feminismus – ein produktives Spannungsverhältnis In: Kritische Theorie und Feminismus. Hg. v. Karin Stögner und Alexandra Colligs. Suhrkamp Verlag Berlin. S. 11–36.
Drucken/exportieren