Gruppe 2 (Pro)
NF […] Ich glaube aber, dass die postkoloniale Theorie sehr gute psychoanalytische, emotionale und auch, wenn man so will, Hypothesen für empirische Zugänge geschaffen hat. Sie hat das nicht so stark empirisch geprüft, aber die Zugänge sind so gut beschrieben, dass ich finde, dass es legitim sein müsste, sie auch auf andere Ungleichheitsverhältnisse anzuwenden, die nicht die starken Unterdrückungsmechanismen hatten, wie der europäische Kolonialismus. Aber das ist immer heikel. Ich möchte im komparativen Zugang erkennen, welche Phänomene sich ähneln und welche nicht. Leider glauben viele ganz schnell, dass der Vergleich dieser Ansätze, zum Beispiel von Mimikry, von Subalternität oder von Othering-Prozessen, automatisch der Versuch sei, die Ostdeutschen in einem ›Opferstatus‹ ehemals versklavten Menschen in den Kolonien gleichzusetzen. Das ist natürlich nicht der Fall. Wenn diese Kritik im Raum ist, müssen wir aber überlegen, wie man andere Worte finden kann. Aber wenn etwas konzeptionell so klug durchdacht ist wie die postkoloniale Kritik, dann finde ich es schon schwer, etwas Anderes mit anderen Worten zu benennen, wenn eigentlich diese Werkzeuge bereits da sind, um eine kritische Gesellschaftsanalyse zu betreiben, die den Blick mehr auf hegemoniale Strukturen lenkt.
KH Ich selbst habe in meiner Forschung zu Diskursen über Ostdeutschland mit Ansätzen aus der postkolonialen Theorie gearbeitet.12 Eine Sache, die ich immer sage, ist, dass postkoloniale Theorie nicht dazu da ist zu entscheiden, wer Täter*in oder Opfer in einer post-/kolonialen Welt war und ist. Stattdessen lehrt uns postkoloniale Theorie, wie moderne, post-/koloniale Gesellschaften funktionieren. Dazu gehört auch, wie Weißsein und Rassismus funktionieren und wie Gesellschaften funktionieren, die im Kolonialismus profitiert haben, die am Kolonialismus teilgehabt und ihn vorangetrieben haben. Gleichzeitig finde ich es schade, wenn gesagt wird, dass diese Theorieansätze angeblich nur für einen eng begrenzten Kontext funktionieren. Es ist eigentlicher Sinn einer Theorie, dass man sie adaptieren kann. Postkoloniale Perspektiven auf das Eigene und das Andere sagen so viel über die Welt, in der ich lebe und darüber, wie moderne Gesellschaften funktionieren, dass sie natürlich auch dabei helfen, die vielfältigen Zusammenhänge von ostdeutsch-westdeutschpostmigrantisch zu verstehen.
Auszug aus: Aus Lierke, Lydia et al. (Hrgs.) 2020: Erinnern stören: Heft, Kathleen 2020: Die Migrantisierung der Ostdeutschen? Im Gespräch mit Naika Foroutan https://www.rosalux.de/publikation/id/43063/erinnern-stoeren