Inhaltsverzeichnis
Im Schleudersitz in die (wirtschaftliche) ‚Problemzone‘
Literatur
Primärliteratur:
Mau, Steffen 2020 Lütten Klein: Leben in der ostdeutschen Transformationsgesellschaft, 3.Auflage, Berlin, Suhrkamp, II. Transformation Kapitel 3
Sekundärliteratur:
Aus Lierke, Lydia et al. (Hrgs.) 2020: Erinnern stören: Heft, Kathleen 2020: Die Migrantisierung der Ostdeutschen? Im Gespräch mit Naika Foroutan
https://www.rosalux.de/publikation/id/43063/erinnern-stoeren
Kapitel 3: Vermarktlichung
Kernthesen
„Krankmachende Gesundschrumpfung“
- Mit der Einführung der Marktwirtschaft wurden die bestehenden wirtschaftlichen Strukturen überwiegend zerstört, es kam zum Einbruch des Marktes und schließlich zur Massenarbeitslosigkeit (vgl. S.150 f.)
- Viele Ostdeutsche trafen arbeitspolitischen Maßnahmen wie Vorruhestand, Umschulungen oder Kurzarbeit, die häufig Gefühle des Ungenügens in den betroffenen Personen auslösten (vgl. S.153 f.)
Segregation und Marginalisierung
- Insgesamt ließ sich ein breiter sozialer Abstieg beobachten, der nicht selten mit psychischen Problemen einhergingen, die sich beispielsweise Alkoholabhängigkeit äußerten (vgl. S.156 f.)
- Die „Gewinner*innen“ der Wende erschienen überwiegend zufällig, mit der Herausbildung von verschiedenen sozialen Milieus kam es zur sozialen sowie auch räumlichen Segregation (vgl. S.158 ff.)
Ausfransung des Tarifmodells
- Die Arbeitnehmersituation in der ehemaligen DDR wurde auch durch politische Maßnahmen wie zum Beispiel der Aufweichung des Tarifmodells deutlich verschlechtert, in dessen Zuge auch vom Anstoß einer „Kotransformation“ (Bahl/Staab 2010.) im Westen gesprochen wurde (vgl. S.160 f.)
Bleibende wirtschaftliche Spaltung
- Ostdeutschland schafft insbesondere durch die nach der Wende entstandenen „sozialen Frakturen“ den wirtschaftlichen Anschluss an Westdeutschland nicht (vgl. S.164 f.)
Diskussionsfragen
Mau spricht am Ende des Kapitels davon, „dass die Bereitschaft weiteren Wandel zu verdauen, nach wie vor unterentwickelt ist“ (S.164) und das die sozialen Frakturen die „Dynamik der gesellschaftlichen Veränderung auch heute noch beschränken“ (S. 165).
→ Würden Sie ihm zustimmen? Muss diese sozioökonomische Spaltung dauerhaft sein?
Stellen die Oxymora „krankmachenden Gesundschrumpfung“ (S.153) und „schöpferischen Zerstörung“ (S.154) eine passende Beschreibung für den Prozess nach der Wende dar?
War die Aufweichung des Tarifmodells förderlich oder verheerend für den Wiedervereingungprozess?
„Wohl hatten sich alle auf Umstrukturierungen gefasst gemacht, dass die Marktwirtschaft aber mit einem Hinauswurf – oder die Freiheit mit Freisetzung begann, verunsicherte die Menschen ganz erheblich.“ (S.151)
→ Was für Auswirkungen gehen besonders in einem zuvor sozialistisch geprägten Staat, mit dem Verlust des Arbeitsplatzes auf die Bevölkerung einher? Welche Rolle spielten dabei auch die arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen zu Erhöhung der »Marktgängigkeit« (vgl. S.154)?
Psychosoziale Folgen von Arbeitslosigkeit (in Ostdeutschland)
- Abnahme der Zukunftszuversicht, Selbstwerteinbuße
- Strukturverlust, Verlust soziale Kontakte und Freundschaften
- Suchtprobleme (z.B. Alkoholabhängigkeit), Depressionen, chronische Lethargie
- Verschlechterung der physischen Gesundheit
- Deutliche Verzögerungen in der Familiengründung, Abnahme der Bindungsqualität sowie Kinderzahl
- Existenzängste
- Angst vor zunehmender Verteuerung des Lebens
- Angst vor eigener (erneuter) Arbeitslosigkeit
- Angst vor Eintreten einer sozialen Notlage
- Geringere Zufriedenheit mit dem Gesellschaftssystem sowie verminderte Identifikation mit der Gesellschaftsordnung
→ Häufig destruktive Wahrnehmung der Arbeitslosigkeit
→ Psychische Folgen nehmen mit Dauer der Arbeitslosigkeit zu
→ Negative „Hypothek“ bildet sich wahrscheinlich nicht wieder zurück und es kommt zur Weitergabe an die eigenen Kinder
Migrantisierung der Ostdeutschen? - Im Gespräch mit Naika Foroutan
Vorteile einer sozialwissenschaftlichen Analogiebildung
- Aufzeigen von bestehender Benachteiligung sowie dass die Benachteiligung nicht auf gruppenspezifische Abweichungen zurückzuführen ist bzw. nicht über die Minderheiten selbst erklärt werden kann (»Ostdeutsche können nicht demokratische sein, weil sie keine Demokratie gelernt haben«), sondern dass eine systematische Benachteiligung besteht (vgl. S.3). Hierdurch wird eine systemkritische und dekonstruktivistische Analyse ermöglicht. (vgl. S.16)
- Bereits bestehende ausgefeilte Theorien, die schon entsprechende Werkzeuge bieten (wie z.B. die postkoloniale Theorie), können für andere Untersuchungen ausgezeichnet genutzt werden (vgl. S.6).
- Erzeugung von Aha-Momente durch neuen Blickwinkel und Aufweisung einer starke Überzeugungskraft (vgl. S.12).
- Durch das Herstellen von einer Verbindung bzw. dem Vergleich von der eigenen Situation mit einer als vollkommen anders erscheinenden Situation, kann Empathie zwischen den betroffenen Personen der Gruppen erzeugt werden (vgl. S.12).
Im Text genannte Erkenntnisse, die in der Analogieforschung von Deutschen und Muslimen gewonnen wurden
- Stark ähnelnde stereotypische Vorstellungen, die in relativ gleichem Ausmaß von Westdeutschen getroffen werden (vgl. S.15).
- Ostdeutsche und Muslime/Muslimas verstehen sich selbst als Opfer (vgl. S.15)
- Eine Distanzierung zu Extremismus findet von Ostdeutschen und Muslimen/Muslimas nur unzureichend statt (vgl. S.15)
- „Ostdeutsche und Muslime sind noch nicht richtig in im heutigen Deutschland angekommen“ (S.15)
- Durch (bewusste) Gegeninitiative und Demonstration der eigenen Identität wird diese in ihren Facetten sichtbar, was sich einerseits in der Ablehnung des antimuslimischen Kurses zeigt und andererseits auch im ‚Ost-Awaking‘, im Ostdeutschendiskurs deutlich wird (vgl. S.13f.).
- In Diskussionen, in denen ihre ‚zugehörige‘ Gruppe Thema der Diskussion ist, verhalten sich Personen beider Gruppen häufig apologetisch oder ihnen wird auf Grundlage einer stigmatisierten Vorstellung, eine falsche Intention unterstellt wird, wie z.B., dass sie die Situation verharmlosen würden (vgl. S.8).
- Ostdeutsche nehmen sich selbst in ihrer sozialen Position auf der gleichen Ebene wie Muslime/Muslimas war und Stellen ein kompetitives Verhältnis her. Muslime/Muslimas erfahren jedoch deutlich mehr Benachteiligungen, worüber Ostdeutschen auch Kenntnisse haben (vgl. S.15).
Plenumsdiskussion
Gruppe 1 (Pro)
Gruppe 2 (Pro)
Gruppe 3 (Contra)
Gruppe 4 (Contra)
Info für Gruppe 1 und 2: NF=Naika Foroutan und KH=Kathleen Heft
Textstellen zur weiteren Diskussion
„»Die Ostdeutschen sind überall Ostdeutsche und die Westdeutschen sind nur in Ostdeutschland Westdeutsche« (Ilko-Sascha Kowalczuk)“ (S.14).
→ Sollten Westdeutsche ihr westdeutschsein stärker reflektieren?
„[…] In dem Sinne, dass kritische und rassismuskritische Migrationsforschung immer noch so wenig gehört und ernst genommen wird, und jetzt kommen diese weißen Ostdeutschen, die keine migrationsbezogene Erfahrungen haben, und eignen sich diese Theorien und Analysen an und werden obendrein damit gehört?“ (S.7)
→ Stellt dies eine Chance für die Migrationsforschung dar oder zeigt sich hier struktureller Rassismus?
Ein Ergebnis der Analogie Studie von Naika Foroutan ist, dass sich Ostdeutsche, trotz Wissen über die stärkere Benachteiligung von Muslimen/Muslimas, selbst auf der gleichen sozialen Position wie Muslime/Muslimas einordnen (vgl. S15). Wie beurteilen Sie diese Einordnung und welche Rolle kann das Aufzeigen von solchen Analogien im aktuellen Diskurs spielen?
Soziale Benachteiligung sollte zwar nicht über stigmatisierte gruppenspezifische Merkmale legitimiert werden (vgl. S.3), ist es nicht trotzdem essenziell die individuelle Lage der Gruppen zu betrachten, um beispielsweise im Falle Ostdeutschlands Mängel des Wiedervereinigungsprozesses aufzuzeigen?
Quellen und Weiteres
Weitere Empfehlungen
Buchempfehlung: Dirk Baecker, Poker im Osten - Probleme der Transformationsgesellschaft (1998)
Bildband von Maix Mayer, Zeit online, 2013: „Die vergessenen Orte der Arbeit„ https://www.zeit.de/karriere/2013-03/fs-mayer-orte-arbeit-2?utm_referrer=https%3A%2F%2Fwww.bing.com%2F [Abrufdatum 12.12.2022]
Kritische Beleuchtung von Ost-Migrantischen Analogien. Reisin, Andrej 2019: Ossis benachteiligt wie Migranten? Eine halbgare Studie mit lautstarken Fans https://uebermedien.de/37154/ossis-benachteiligt-wie-migranten-eine-halbgare-studie-mit-lautstarken-fans/ [Abrufdatum: 12.12.2022]
Erzählungen von Ostdeutschen über ihre Arbeitssituation nach der Wende. Mahlber, Sarah 2018: „Die Stimmung war ratlos bis stinkig“ https://www.sueddeutsche.de/karriere/wiedervereinigung-die-stimmung-war-ratlos-bis-stinkig-1.4121625 [Abrufdatum: 12.12.2022]
Etwas zu den Auswirkungen der Entwicklung des Arbeitsmarktes für Frauen aus Ostdeutschland. MDR 2020: Die Lage der Frauen in den östlichen Bundesländern nach 1990 https://www.mdr.de/geschichte/eure-geschichte/nachwendegeschichte/Frauen-am-Arbeitsmarkt-in-neuen-Bundeslaendern-DDR-BRD-Wende-schulprojekt-eure-geschichte-jung-100.html [Abrufdatum: 12.12.2022]
Zeitzeug*innen mit Migrationshintergrund berichten über die DDR und die Wendezeit. Deutsche Einheit Interkulturell: Interviews von Zeitzeug*innen mit Migrationshintergrund https://einheit-interkulturell.de/videos-zeitzeugen/ [Abrufdatum: 12.12.2022]
Weitere Informationsquellen, die der Recherche dienten
Poutrus, Patrice G. 2022, Bundeszentrale für politische Bildung: Fremd im eigenen Land? Ostdeutsche als Migrant:innen? Eine skeptische Entgegnung. https://www.bpb.de/themen/migration-integration/kurzdossiers/507194/fremd-im-eigenen-land-ostdeutsche-als-migrant-innen-eine-skeptische-entgegnung/ [Abrufdatum: 11.12.2022]
Sächsische Längsschnittstudie zu den psychosozialen Auswirkungen von Arbeitslosigkeit: Förster, Peter et al. 2008, Bundeszentrale für politische Bildung: Die „Wunde Arbeitslosigkeit“: Junge Ostdeutsche, Jg. 1973 https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/30950/die-wunde-arbeitslosigkeit-junge-ostdeutsche-jg-1973/ [Abrufdatum: 11.12.2022]
Arbeitslosigkeit und ihre sozialen Folgen, 2010 https://www.lernhelfer.de/schuelerlexikon/politikwirtschaft/artikel/arbeitslosigkeit-und-ihre-sozialen-folgen# [Abrufdatum: 11.12.2022]
Hinweise
Die Seitenzahlen, die in der Sekundärliteratur vermerkt sind, stellen eine eigene Vergabe meinerseits nach den entsprechenden PDF-Seiten dar.