Migrantische Perspektiven aus der BRD auf die Wende und die Wiedervereinigung

Einleitung

Im Jahr 2019 feierte Deutschland dreißig Jahre Mauerfall und die anschließende Wiedervereinigung. Festlichkeiten, Feiern und Freude prägten das Bild. Ein Bild, das nicht alle teilen können, die die Wende miterlebt haben. Für marginalisierte Gruppen hat die Erinnerung an die Wende und die Wiedervereinigung in weiten Teilen einen bitteren Nachgeschmack. Die Wiedervereinigung markiert einen rassistischen Wendepunkt und das Wiedererstarken des Nationalismus in Folge einer Nationalistische Vereinigungsstrategie (vgl. Weltz-Rombach, Egilmez 2020: 168). Fortschritte im Integrationsprozess und Ausländer*innenrecht in den 70er und 80er Jahren in der BRD wurden über Nacht zunichte gemacht und von rassistischen Attentaten wie in Mölln, Solingen, Rostock-Lichtenhagen und Hoyerswerda überschattet (vgl. Weltz-Rombach, Egilmez 2020: 171). Marginalisierte Perspektiven finden bis heute kaum Platz in der Erinnerungskultur an die deutsch-deutsche Wiedervereinigung. Darunter fallen auch die Perspektiven von türkischstämmigen Migrant*innen in der Bundesrepublik Deutschland (BRD). Dreißig Jahre Mauerfall bedeutet auch sechzig Jahre deutsch-türkisches Anwerbeabkommen. Ein Abkommen, das das Leben von Millionen Menschen geprägt hat und das Verständnis der BRD als Einwanderungsland bis heute beeinflusst. Die Geschichte der türkischen Migration nach (West-)Deutschland beginnt offiziell 1961 mit dem Anwerbeabkommen (vgl. König, Steffen 2020: 134).

Die türkischen „Gastarbeiter*innen“

Mit dem Bau der Mauer 1961 stoppte die Zuwanderung von Arbeitskräften aus dem Osten. Es mangelte vielerorts an Arbeiter*innen für Tätigkeiten in Industrie und Montage. Die BRD schloß Verträge mit der Türkei, Griechenland, Jugoslawien und Italien, um unqualifizierte Arbeitskräfte anzuwerben (vgl. Weltz-Rombach, Egilmez 2020: 158). Diese wurden als „Gastarbeiter*innen“ bezeichnet, wobei sich der Begriff ursprünglich auf die zeitliche Begrenzung des Aufenthalts für Arbeitsmigrant*innen bezog. Er beinhaltet vor allem eine berufliche und soziale Klassifizierung von ungelernten und flexibel einsetzbaren Arbeitskräften (vgl. Weltz-Rombach, Egilmez 2020: 164). Mit einem Rotationsprinzip sollte gewährleistet werden, dass Arbeiter*innen nach zwei Jahren wieder zurückkehren und durch Neuangeworbene ersetzt werden (Weltz-Rombach, Egilmez 2020). In den 70ern lebten in Westberlin 198 000 Ausländer*innen, von denen 82 000 türkischstämmig waren. 1989 waren türkischstämmige Migrant*innen die größte Minderheit in Deutschland (vgl. König, Steffen 2020: 134). Anhand von Erfahrungsberichten türkischstämmiger Migrant*innen erster und zweiter Generation in Westberlin werden die marginalisierten Perspektiven auf die Zeit zwischen den 60ern und dem Fall der Mauer, der Wendezeit und den Jahren danach sichtbar gemacht.

Geschichte

Vor der Wende

Anwerbeabkommen

Die Bundesregierung verstand Deutschland als temporäres Gastland, nicht als Einwanderungsland (vgl. Weltz-Rombach, Egilmez 2020: 164). 1973 wurde bereits ein Anwerbestopp beschlossen. Dieser beendet die fast zwanzigjährige Phase der Abkommen zwischen BRD, Türkei, Italien, Griechenland und Spanien. Mit den Abkommen kamen etwa 14 Millionen Migrant*innen in die BRD, 11 Millionen kehrten wieder zurück. Bis zur Wiedervereinigung stieg die Zahl der etwa drei Millionen Verbliebenen auf etwa 4,8 Millionen (vgl. Weltz-Rombach, Egilmez 2020: 165). Durch den Anwerbestopp wurde Deutschland zu einem Einwanderungsland, da ehemalige Gastarbeiter*innen dauerhaft blieben, selbst Familien gründeten oder diese nachholten (vgl. ebd.). Infolge des Rotationsprinzips kam es gerade anfangs zu häufigen Arbeitsplatzwechseln, da Menschen nicht länger als zwei Jahre bei einem Arbeitgeber arbeiten durften (vgl. Weltz-Rombach, Egilmez 2020: 159). Besonders Frauen wurden geworben für die Präzisionsarbeit in den Betrieben der Elektrotechnik (vgl. ebd.).

Wohnsituation

Die Wohnungen in Berlin, in der Nähe der Berliner Mauer waren bis in die siebziger Jahre und zum Teil Jahrzehnte später noch unsaniert und dementsprechend bei deutschen Mittelschichtsfamilien unbeliebt (Lierke, Perinelli 2020). Kreuzberg lag direkt an der Mauer und damit am Stadtrand. Anfang der siebziger Jahre plante die Berliner Stadtregierung unter Willy Brandt eine großflächige Sanierung innerstädtischer Bezirke im Rahmen der Stadterneuerung. Zwischen 1967 und 1973 kam es zu einer Sanierungswelle, während die Altbauten am Stadtrand systematisch der Verwahrlosung überlassen wurden (vgl. Weltz-Rombach, Egilmez 2020: 162). Dabei konzentrierte sich die migrantische Bevölkerung in den unsanierten Vierteln Kreuzberg, Tiergarten und Wedding. Sie wurde durch die abzureißenden Bezirke geschoben, die damit immer dichter besiedelt wurden (vgl. ebd.). In der Folge verhängte 1975 der Berliner Senat eine Zuzugsperre für diese Bezirke. Darunter fiel, dass Migrant*innen der Zuzug zu Bezirken verweigert wurde, in denen der ausländische Bevölkerungsanteil zwölf Prozent oder mehr betrug (vgl. ebd.). Die Mauer bedeutete auch die Einengung des Lebensraums. Reisen in die Türkei und nach West-Deutschland bedeutete für die Betroffenen häufig Schikanen. Über den Flughafen in West-Berlin flogen nur die Alliierten, weshalb der Weg mit dem Auto durch Teile der DDR führte (vgl. ebd.). Die langen und anstrengenden Reisen waren verbunden mit kräftezehrenden Grenzkontrollen.

Erfahrungen mit Rassismus

Kreuzberg bedeutete seit den sechziger Jahren migrantisches Leben. Mit dem Anwerbestopp 1973 begannen Probleme mit der westdeutschen Bevölkerung. Die bereits in Westberlin lebenden Migrant*innen blieben dauerhaft und standen in Konkurrenz zu den deutschen Arbeitskräften, die sich durch das Ende des Wirtschaftsbooms verhärtete (vgl. Weltz-Rombach, Egilmez 2020: 162). Als „Ausländerfeindlichkeit“ bezeichnete rassistische Zustände wurden bereits Anfang der achtziger Jahre bekannt und kritisiert (vgl. Türkmen 2020: 104). Parallel zur Wirtschaftskrise und zunehmender Arbeitslosigkeit existieren Berichte rassistischer Übergriffe und neonazistischer Gewalttaten in Westdeutschland (vgl. ebd.). Eins der ersten „Ausländer raus“ Graffiti wurde 1982/83 wahrgenommen (vgl. Weltz-Rombach, Egilmez 2020:163). Das Motiv war in den achtziger Jahren ein weiterverbreitetes Bild in Westdeutschland. Damit verbunden ist ein Gefühl des Nichtgewollt-seins von Anfang an (vgl. ebd.). „Übergriffe, Beleidigungen, Schikanen, körperverletzende Gewalt, etliche von rechten Gruppierungen getarnt geführte lokale Bürgerinitiativen und Kampagnen für den Ausländerstopp, Überfremdungsdiskurse und Kriminalisierungspraktiken“ stiegen an (Türkmen 2020: 104). „In den 1980er Jahren hatte Rassismus Hochkonjunktur in der BRD“ (Türkmen 2020: 105). Am 20. April 1989 kündigten Neo-Nazis zum Anlass von Adolf Hitlers 100. Geburtstag an, Ausländer*innen zu jagen. Der Berliner Senat empfiehl Ausländer*innen, an diesem Tag zuhause zu bleiben, da für ihre Sicherheit nicht garantiert werden könne (vgl. ebd.). Bereits in den sechziger Jahren liegen dementsprechend die Anfänge politischer Selbstorganisation von Migrant*innen, meist türkisch- und kurdischstämmiger Antifaschist*innen. Daraus gründete sich unter anderem die Gruppe Antifasist Gençlik (vgl. ebd.). Aufgrund des Selbstverständnis eines temporären Gastlandes sah die Bundesregierung jahrelang keine Notwendigkeit einer Integrationspolitik (vgl. Weltz-Rombach, Egilmez 2020: 164).

Ende der achtziger Jahre gab es aber auch Anzeichen für eine beginnende positive Entwicklung hin zu mehr Integration und Teilhabe. Eine breite Diskussion um die Einführung eines kommunalen Wahlrechts für Ausländer*innen wurde geführt und die Einführung der doppelten Staatsbürger*innenschaft stand zur Debatte. Migrant*innen wurden von Gastarbeiter*innen zu teilweise akzeptierten Mitbürger*innen, Kolleg*innen und Nachbar*innen (vgl. Weltz-Rombach, Egilmez 2020: 168).

Wende

Etwa 130 000 türkischstämmige Migrant*innen erlebten den Mauerfall in Westberlin „direkt vor ihrer Haustür“ (vgl. Weltz-Rombach, Egilmez 2020: 166). Die dabei empfundene Freude wurde jäh zunichte gemacht. Schnell machte die deutsche Mehrheitsgesellschaft klar, dass Migrant*innen nicht willkommen waren, an den Feierlichkeiten teilzunehmen. Die Mehrheit der Deutschen war vom neuen Nationalgefühl berauscht (vgl. ebd.). Mit dem Mauerfall beginnt der neoliberale Umbau des nun geeinten Deutschlands, der Migrant*innen und Ostdeutsche in ähnlicher Weise betrifft (vgl. König, Steffen 2020: 135). Das breite Bewusstsein dafür fehlt allerdings noch heute. Der damit einhergehende Konkurrenzdruck verschärfte den Rassismus (vgl. ebd.).

Rassismus

Die Vereinigung war der Anfang für die Einschränkungen des Grundrechts auf Asyl und für die Abschiebungen eines großen Teils der Ausländer*innen im Osten (vgl. Weltz-Rombach, Egilmez 2020: 158). „Deutschland den Deutschen“ und „Ausländer raus“ wurde offen skandiert, ohne breite gesellschaftliche Gegenreaktionen (vgl. Weltz-Rombach, Egilmez 2020: 166). Migrant*innen mussten von nun an vorsichtiger sein als bisher bereits (vgl. Weltz-Rombach, Egilmez 2020: 170). Der Grenzübergang in die ehemalige DDR bereitete Schwierigkeiten, Migrant*innen wurden als Ausländer*innen bezeichnet und durften die nun offenen Grenzen teils nicht passieren (vgl. Weltz-Rombach, Egilmez 2020: 167). Dabei erfuhren sie rassistische Beleidigungen von Grenzsoldat*innen (vgl. ebd.). Durch die bevorstehende Wiedervereinigung nahmen der Nationalismus und die Ausgrenzung der Migrant*innen in West- und Ostdeutschland in ungeahnter Weise zu. Der Status der Migrant*innen wurde während der Periode des Mauerfalls in Frage gestellt. In der Folge änderte sich das Leben der migrantischen Bevölkerung. Die Wendezeit war geprägt von Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt, erstarkendem Rassismus und der wachsenden Ausgrenzung von Migrant*innen durch die deutsch-deutsche Bevölkerung (vgl. König, Steffen 2020: 140). Die Diskussionen der achtziger Jahre in Westdeutschland über Diskriminierung und Gleichbehandlung, kommunales Wahlrecht und mehr Rechte gerieten mit dem Fall der Mauer in den Hintergrund (vgl. Weltz-Rombach, Egilmez 2020: 169). Relativ bald machten Migrant*innen rassistische Erfahrungen nun auch mit Ostdeutschen (vgl. Weltz-Rombach, Egilmez 2020: 171). Im September 1991 kommt es zum ersten Pogrom nach dem Mauerfall in Hoyerswerda, bei dem mehrere Hundert Menschen ein Wohnheim für Vertragsarbeiter*innen und ein Asylwohnheim aus rassistischen Motiven angreifen, unter Beifall von Teilen der Bevölkerung (vgl. König, Steffen 2020: 135). Anstatt jedoch gegen Rechts härter vorzugehen und sich mit dem neuen Selbstverständnis der Migrant*innen in Ost- und Westdeutschland auseinanderzusetzen, wurden die rassistischen Ausschreitungen und die rechte Hetze für die Legitimierung des eigenen Handelns genutzt (vgl. Weltz-Rombach, Egilmez 2020: 171). Im nationalen Rausch der Wendezeit trafen die Forderungen der Rechten auf offene Ohren (vgl. ebd.) Die von Medien und Politik geführte Asyldebatte heizte die rassistisch motivierte Gewalt und die Pogrome an. Die Wendezeit gilt als Zeit, in der der Rassismus in Deutschland erstarkt ist (vgl. Weltz-Rombach, Egilmez 2020: 172).

Mit dem „Asylkompromiss“ tritt am 01.01.1991 ein von Helmut Kohl vorbereitetes neues Ausländer*innenrecht in Kraft. Darin sind die Möglichkeiten, in Deutschland das Grundrecht auf Asyl in Anspruch zu nehmen, massiv eingeschränkt (vgl. König, Steffen 2020: 136). Die Einbürgerung vieler sogenannter Gastarbeiter*innen und deren Familien, die bereits seit Jahrzehnten in der BRD lebten, wurde mit diesen Gesetzen massiv erschwert (vgl. ebd.). 1992 starben mindestens dreißig Menschen durch rechte Hetze (vgl. Weltz-Rombach, Egilmez 2020: 172). Viele der in der ehemaligen DDR lebenden Vertragsarbeiter*innen mussten das Land verlassen, da ihr Aufenthaltstitel nicht verlängert wurde (vgl. König, Steffen 2020: 136). (Siehe dazu ausführlicher das Wiki Migrantische Perspektiven DDR). Mit den Gesetzen ging die Verschärfung des Diskurses über Migration einher, die zunehmend als gesellschaftliche Bedrohung dargestellt wurde (vgl. ebd.). In den frühen neunziger Jahren kam es zu massiver rassistischer Gewalt, zu Ausgrenzung von Migrant*innen, Übergriffen, rassistischen Morden und Friedhofsschändungen (vgl. König, Steffen 2020: 139). So lassen die Jahre 1989 und 1990 einen gewaltvollen Herstellungsprozess eines „nationalen Kollektivs“ erkennen (König, Steffen 2020: 137).

Arbeit

Infolge der Wende und des Zustroms von Arbeiter*innen aus der ehemaligen DDR kam es zu tiefgreifenden Veränderungen auf dem Westberliner Arbeitsmarkt und damit zu Verunsicherungen und Schwierigkeiten für türkische Arbeitsmigrant*innen (vgl. Weltz-Rombach, Egilmez 2020: 160). Laut offiziellen Statistiken starben mindestens 170 Menschen aufgrund von rassistischen Anschlägen (vgl. Weltz-Rombach, Egilmez 2020. 172). Viele Migrant*innen aus der ehemaligen BRD verloren ihre Arbeit, da zahlreiche Unternehmen in die ehemalige DDR umsiedelten, um ihre Produktionskosten zu senken (vgl. Lierke, Perinelli 2021: 49). Der Arbeitsplatzumbau im Berliner Industriesektor traf Migrant*innen besonders hart, da die Meisten als ungelernte Arbeitskräfte nach Westdeutschland kamen. Westberliner Betriebe stellten in der Wendezeit oftmals höher qualifizierte Arbeiter*innen aus Ostdeutschland ein, da diese zum Teil dazu bereit waren, für ein niedrigeres Gehalt als den geltenden Tariflohn zu arbeiten (vgl. Weltz-Rombach, Egilmez 2020: 169).

So war der Mauerfall eine Zäsur im Erwerbsleben vieler türkischstämmiger Migrant*innen, besonders in Westberlin (vgl. ebd.) Viele verloren zum ersten Mal den Arbeitsplatz und mussten sich in der Folge arbeitslos melden. Ein Großteil übte meist ungelernte Tätigkeiten in der Industrie aus, die in der niedrigsten Lohnstufe angesiedelt waren. Die Chancen, etwas anderes zu finden, waren gering. Für viele Migrant*innen war die Ersetzung ihrer Arbeitskraft durch Ostdeutsche ein einschneidendes Erlebnis (vgl. Weltz-Rombach, Egilmez 2020: 170). Einige Gewerkschaften machten Vereinbarungen mit Betrieben, dass, wenn sie die Industrie nach Ostdeutschland verlagern, sie den arbeitssuchenden westberliner Migrant*innen Vorrang geben, wenn diese dort weiterarbeiten wollen. Dies dann allerdings zu ostdeutschen Löhnen (vgl. ebd.). Arbeitstechnisch kam es in Folge der Wende zu beginnender Ausgrenzung durch langjährige Kolleg*innen, was als besonders verletzend empfunden wurde und auf Unverständnis traf (vgl. ebd.).

Heute

Die ehemaligen migrantischen Viertel wurden vom ungeliebten Rand der Stadt zur beliebten Mitte (vgl. Weltz-Rombach, Egilmez 2020: 157). Gentrifizierung, Luxussanierung und Eigentumswohnungen bilden heute das Stadtbild der ehemals bewusst verwahrlosten Stadtteile. In zahlreichen Berliner Bezirken entstanden migrantische Jugendgangs als Reaktion auf die rassistischen Übergriffe. Zum Selbstschutz und als Form der politischen Selbstorganisation bildeten sich Treffpunkte wie Kotti & Co. oder das Café Kotti (vgl. Weltz-Rombach, Egilmez 2020: 163). Unternehmen, die im Westen blieben, versuchten durch die Anstellung von Arbeiter*innen aus dem Osten die Löhne zu drücken. Dies geschah häufig zu Lasten migrantischer Arbeitsverhältnisse (vgl. Lierke, Perinelli 2021: 49). Während die Arbeitslosenquote bei Ausländer*innen zum Zeitpunkt der Wiedervereinigung bei etwa elf Prozent lag, stieg sie bereits in den folgenden zwei Jahren auf über zwanzig Prozent (vgl. Weltz-Rombach, Egilmez 2020: 169).

2019 feierte Deutschland dreißig Jahre Mauerfall und sich selbst. Auch dreißig Jahre später bleiben migrantische Perspektiven marginalisiert und ungehört (vgl. Weltz-Rombach, Egilmez 2020: 172). Projekte wie Erinnern stören arbeiten daran, diese Perspektiven sichtbar zu machen und dem gesellschaftlichen Diskurs entgegenzustellen https://www.rosalux.de/publikation/id/43063/erinnern-stoeren-1

Perspektiven

Das Erinnern an ein Miteinander zwischen deutschen und migrantischen Familien in Kreuzberg in den ersten Jahren ist in Teilen positiv (vgl. Weltz-Rombach, Egilmez 2020: 159). Die Anfänge der siebziger Jahre wurden als glückliche Zeit beschrieben (vgl. Weltz-Rombach, Egilmez 2020: 162). Im Rückblick erscheinen allerdings bereits die achtziger Jahre einigen Betroffenen als Jahrzehnt, in dem versucht wurde, die Phase der Anwerbung von Arbeitsmigrant*innen zwischen 1955 und 1973 rückgängig zu machen (vgl. Türkmen 2020: 105). Die Wende war für manche Migrant*innen ein trauriger Moment. Obwohl die Kinder der Migrant*innen an der Mauer geboren wurden und aufgewachsen sind, hatte die Mauer nie mit ihnen zu tun gehabt (vgl. Weltz-Rombach, Egilmez 2020: 170). Die Wiedervereinigung markiert einen rassistischen Wendepunkt, der viele Migrant*innen nachhaltig traumatisiert hat (vgl. König, Steffen 2020: 133). Die neue nationale Einheit nach dem Mauerfall schließt die größte Minderheit nicht mit ein (vgl. König, Steffen 2020: 134). Für Migrant*innen sind die neunziger Jahre zu einem Symbol eines ausschließenden Nationalismus und eines mörderischen Rassismus geworden (vgl. ebd.). Der Mauerfall verstärkte das Gefühl, zur Mehrheitsgesellschaft nicht dazuzugehören (vgl. Lierke, Perinelli 2021: 47). Für viele Migrant*innen war die Wendezeit eine Zeit der Ungewissheit und Angst, in der Eltern begannen, ihre Kinder zu warnen, von nun an vorsichtiger zu sein (vgl. Weltz-Rombach, Egilmez 2020: 170). Dies stützt sich unter anderem auf Erfahrungen, dass auf die Polizei kein Verlass ist, da diese die Übergriffe geschehen lässt und zum Teil selbst daran beteiligt ist (vgl. Weltz-Rombach, Egilmez 2020: 171). „In der ritualisierten Erinnerungskultur des Monats November 1989 und der darauffolgenden Wiedervereinigung ist das Erleben dieses Epochenbruchs aus Sicht der migrantischen Bevölkerung jedoch lange eine Leerstelle geblieben“ (Weltz-Rombach, Egilmez 2020: 157). Der Mauerfall hat Kreuzberg und seine Bewohner*innen tiefgreifend verändert (vgl. Weltz-Rombach, Egilmez 2020: 157).

Die Frage nach Bleiben oder Gehen kam auf (vgl. König, Steffen 2020: 135). Die Perspektiven einer Zukunft in Deutschland schwankten zunehmend (vgl. König, Steffen 2020: 135). Ein Umzug in den Osten kam für die meisten nicht in Frage. Die Angst vor dem immer stärker werdenden Rassismus hielt die Menschen zurück (vgl. Lierke, Perinelli 2021: 49). Bei vielen Migrant*innen wurde die Rückkehr zu einer Illusion. Die langen Jahre in der Diaspora machten eine Rückkehr in die Heimat schwierig. In vielen Fällen ließ die wirtschaftliche Situation dies auch nicht zu. Hinzukommt, dass Eltern ihre Kinder nicht zurücklassen wollten (vgl. Weltz-Rombach, Egilmez 2020: 160). Die Wiedervereinigungsperiode bedeutete für einige Arbeitsmigrant*innen eine Enttäuschungserfahrung. Für die jahrzehntelang geleistete Arbeit fehlte es an Anerkennung und erste Ausgrenzungserfahrungen durch ehemalige Kolleg*innen wurden gemacht (vgl. Weltz-Rombach, Egilmez 2020: 170). Weder in die Einheitsfeierlichkeiten, noch in die Diskussion um Wiedervereinigung und die Frage um ihre Zugehörigkeit zu Deutschland wurden Migrant*innen miteinbezogen. Das neue deutsch-deutsche Selbstverständnis lag im Ethnischen begründet und schloss das Migrantische aus (vgl. Weltz-Rombach, Egilmez 2020: 171). Die Vereinigung ist somit nationalistisch fundiert (vgl. König, Steffen 2020: 133).

Erinnerungskultur

Die bisherige Exklusion der migrantischen Perspektive aus der Erinnerungskultur zum Mauerfall ist ein Versäumnis der staatlichen Institutionen und gesellschaftlichen Organisationen (vgl. Weltz-Rombach, Egilmez 2020: 173). Über viele Jahre wurden der in den Wendejahren erstarkte Rassismus und die anhaltenden rassistischen Erfahrungen von vielen Migrant*innen nicht ausreichend von Staat und Gesellschaft als erfahrenes Unrecht und Leid beachtet (vgl. ebd.). In der Folge haben sich Jugendliche in Gangs und politischen Zusammenhängen organisiert, um selbstorganisiert Widerstand zu leisten, gegen Rassismus, Hetze und Angriffe (vgl. König, Steffen 2020: 136). Inklusive Erinnerungskultur soll aufzeigen, wer beim Erinnern marginalisiert, vergessen und zum Schweigen gebracht wird (vgl. Weltz-Rombach, Egilmez 2020: 173). Das ritualisierte Gedenken an den Mauerfall blendet erneut die Momente der Vergangenheit aus, die nicht in das stolze Selbstbild der Nation passen (vgl. König, Steffen 2020: 133). Die hegemoniale Erzählung einer friedlichen Wiedervereinigung ist nur möglich, wenn dabei die Erfahrungen der migrantischen Bevölkerung ausgeblendet werden (vgl. König, Steffen 2020: 139).

Einordnung eigene Postion

Als weiße, weiblich gelesene Person aus Westdeutschland spricht die Autorin dieses Beitrags nicht aus eigenen Erfahrungen. Mit der Wiedergabe von Erfahrungsberichten über Ausgrenzung, Rassismus und die Zeit der Wende und Wiedervereinigung soll die eigene privilegierte Position genutzt werden, Aufmerksamkeit auf das Thema zu lenken, ohne sich dabei selbst ins Rampenlicht zu drängen. Die verwendete Literatur basiert auf eben jenen Erfahrungsberichten, die bereits seit Jahren vorhanden sind, doch bisher bewusst ungehört blieben.

Literaturverzeichnis

Lierke, L., Perinelli, M. (2021), „Unerhörte Wendegeschichte(n), Konstruktionen multidirektionalen Erinnerns*“, in: Undercurrents - Forum für linke Literaturwissenschaft, Die Fäden neu verknüpfen. Linke narrative für das 21. Jahrhundert. 16, 47-50.

Lierke, L., Perinelli, M. (2020), „Intro“, in L. Lierke, M. Perinelli (Hg.), Erinnern stören. Der Mauerfall aus migrantischer und jüdischer Perspektive. Berlin. 11-31

Türkmen, C. (2020), „Migration und Rassismus in der Bonner Republik. Der Brandanschlag in Duisburg 1984“ in L. Lierke, M. Perinelli (Hg.), Erinnern stören. Der Mauerfall aus migrantischer und jüdischer Perspektive. Berlin. 99-133.

König, J., Steffen, E. (2020), „Erinnern heisst stören! Die Dokumentarfilme „Duvalar-Mauern-Walls“ und „Mauern 2.0“ auf den Spuren von Rassismus, migrantischem Wissen und Widerstand“, in L. Lierke, M. Perinelli (Hg.), Erinnern stören. Der Mauerfall aus migrantischer und jüdischer Perspektive. Berlin. 133-157.

Weltz-Rombach, A., Egilmez, G. (2020), „„Mit offenem Blick I Açik Bakisla“ Migrantische Perspektiven zur Erinnerungskultur des Mauerfalls und der Wendezeit“, in L. Lierke, M. Perinelli (Hg.), Erinnern stören. Der Mauerfall aus migrantischer und jüdischer Perspektive. Berlin. 157-189.

Jäger, S. (1993), BrandSätze: Rassismus im Alltag, Duisburg.

Wallraff, G. Kiyak, M. (2022), Ganz unten: mit einer Dokumentation der Folgen: erweiterte Neuausgabe, Köln.

Drucken/exportieren