Migrantische Perspektiven im ostdeutschen Transformationsprozess (DDR)

Häufig herrscht das Bild vor, in der DDR hätten kaum Menschen aus anderen Ländern gelebt. Im Vordergrund der Forschung, historischen Aufarbeitung und Berichterstattung der DDR stehen bis heute meist das politische System der DDR und weniger Randgruppen (vgl. Poutrus, 2020: 3), wie beispielsweise Migrant*innen.

Menschen aus dem Ausland machten etwa 1% der Gesamtbevölkerung in der DDR aus (vgl. Mau, 2019: 95). Im Jahr 1989 verzeichnete der SED-Staat rund 95.000 ausländische Arbeitskräfte. Die größte Gruppe von migrantischen Menschen in der DDR bildeten die sogenannten Vertragsarbeiter*innen. Einige Migrantinnen kamen auch als Student*innen, Asylanträge oder über Familienzusammenführung in die DDR. Die Lebensrealität für Migrant*innen in der DDR war geprägt von verschiedenen Faktoren, die sich je nach Herkunftsland und individueller Erfahrung unterschieden. Die meisten Migrant*innen, welche zum Ausgleich des Fachkräftemangels angeworben wurden, kamen aus den sozialistischen Bruderländern, insbesondere aus Vietnam, Mosambik, Angola, Kuba und Chile. Sie arbeiteten in verschiedenen Branchen wie der Landwirtschaft, dem Bergbau, der Industrie und dem Gesundheitswesen.

Einige Ausländer*innen, wie zum Beispiel Studierende oder Diplomaten, hatten mehr Freiheiten und konnten an Universitäten studieren oder ihre Arbeit in den Botschaften ihrer Heimatländer fortsetzen. Es gab auch einige politische Flüchtlinge, die in der DDR Asyl suchten und von den Behörden unterstützt wurden.

"Eigensinn im Bruderland" heißt eine gemeinsame Web-Dokumentation des Zentrums für Antisemitismusforschung (ZfA) der Technischen Universität Berlin und der „out of focus Medienprojekte“, die 2020 mit dem Grimme Online Award ausgezeichnet wurde und differenziert das Leben von Migrant*innen in der DDR nachzeichnet. Projekte wie diese sind so wichtig, da sie Betroffenen, Nachkommen und der Bevölkerung Einblicke und Verständnis für diese gesellschaftlich marginalisierte Perspektive gibt.

Vertragsarbeit in der DDR

Als Vertragsarbeiter*innen wurden in der DDR Arbeitskräfte aus anderen sozialistischen Ländern bezeichnet, die für einen begrenzten Zeitraum in der DDR arbeiteten und spezielle Verträge mit ihren Arbeitgebern unterzeichneten. Der Aufenthalt war meist auf fünf Jahre ausgelegt. Vertragsarbeiter*innen wurden in der DDR vor allem in der Industrie, im Gesundheitswesen und in anderen öffentlichen Bereichen eingesetzt.

Zwischen 1967 und 1986 wurden mit sogenannten Bruderstaaten Abkommen zur Ausbildung und Beschäftigung ausländischer Arbeiter*innen umgesetzt. Geregelt wurde die Beschäftigung der ausländischen Arbeitsmigrant*innen in der DDR auf der Grundlage bilateraler Regierungsabkommen. „Diese zwischenstaatlichen Verträge legten den zeitlichen und personellen Umfang der Beschäftigung fest, außerdem die Lohnhöhe sowie Einkommenstransfers in das Herkunftsland, Anreise- und Urlaubsregelungen, Sozial- und Ausbildungsleistungen sowie den Anstellungsort und die Unterkunftsmodalitäten“ (Poutrus, 2020: zit. n. Schulz, 2011).

Die Arbeitskräftekooperation im Rahmen der sogenannten sozialistischen ökonomischen Integration galt in den Massenmedien des SED-Staates als der Zweck des Aufenthalts von ausländischen Arbeitskräften im Arbeiter-und-Bauern-Staat. Das Ziel dieser Kooperation bestand darin, die unterschiedlichen Entwicklungsniveaus zwischen den sozialistischen Staaten auszugleichen. Insbesondere vietnamesische Vertragsarbeiter*innen wurden in der DDR auf ihre künftige Arbeit beim Aufbau des Sozialismus vorbereitet, wofür der staatliche Auftrag galt, dem sich die Entsandten unterordnen mussten und hinter den sie ihre persönlichen Interessen hintenanstehen lassen mussten (vgl. Poutrus 2020: 6). Das Leben der Vertragsarbeiter*innen stand unter dem Motto die Produktion über allem anderen .

„Implizit erschienen die Vertragsarbeiter:innen entweder als Bestätigung des kommunistischen Ideals vom Revolutionär in der Welt oder sie galten als behütete Schützlinge und folgsame Schüler des Sozialismus in der DDR“ (Rabenschlag, 2014).

Arbeitssituation für vietnamesische Migrant*innen

Die größte Gruppe migrantischer Arbeitskräfte bildeten Menschen aus Vietnam. Zuletzt betrug die Zahl vietnamesischer Arbeitskräfte etwa 60 000 (Brandenburgische Landeszentrale für politische Bildung, 2009). „Wer im kriegszerstörten Vietnam die Zusage für Ausbildung und Arbeitsplatz in der DDR erhielt, fühlte sich ausgezeichnet und privilegiert“ (vgl. ebd.). Oft waren die jungen vietnamesischen Migrant*innen Haupternährer*innen der Familien in Vietnam. Dort war in Folge des Vietnamkriegs Ressourcen und Perspektiven rar; „das Land musste seine Schulden zurückzahlen, auch an die DDR, die Nordvietnam im Krieg gegen die USA mit Geld unterstützt hatte“ (vgl. ebd).

Auszüge aus dem Regierungsabkommen zwischen der DDR und Vietnam

Die Brancheneinteilung erfolgte genderspezifisch. Für als Frauen Gelesene war es oft noch schwieriger als für als Männer Gelesene, eine Arbeit zu finden und sich zu integrieren. Viele wurden in typischen „Frauenberufen“ wie in der Textilindustrie oder als Reinigungskräfte eingesetzt und hatten mit niedrigeren Löhnen und schlechteren Arbeitsbedingungen zu kämpfen als einheimische Arbeiter*innen (vgl. Zimmermann, 2020). Ausländische Arbeitskräfte fanden „vor allem in Branchen und Betrieben Anstellung, in denen die ostdeutschen Werktätigen nur ungern einer Beschäftigung nachgehen wollten. Das traf insbesondere auf körperlich schwere, beziehungsweise gesundheitsschädigende Arbeiten zu“ (Poutrus, 2020: 5). Die Arbeitsbedingungen für Vertragsarbeiterinnen waren in der Regel sehr schlecht. Viele arbeiteten unter extremen Arbeitsbedingungen, wie z.B. in Kohleminen oder in Fabriken mit schädlichen Arbeitsstoffen. Die Arbeitszeiten waren oft sehr lang, teilweise Zwei- und Dreischichten, die Bezahlung niedrig (vgl. ebd).

„Während der Arbeitszeit erhielten die Vertragsarbeiter eine gut organisierte Rundumfürsorge. Dolmetscher, Betreuer und Überwacher garantierten, dass Normen erfüllt und Arbeitszeiten eingehalten wurden. Wie gut sich die vietnamesischen Kollegen in ihre Brigade eingelebt hatten, war Gegenstand einer stets unkritisch-optimistischen Berichterstattung in Presse und Fernsehen. Die Realität sah häufig ganz anders aus.“
Brandenburgische Landeszentrale für politische Bildung, 2009

Neben Berichten über Diskriminierung am Arbeitsplatz, insbesondere für Menschen aus Afrika oder Asien, hatten Migrant*innen auch im Alltag mit Vorurteilen und Diskriminierung zu kämpfen. Sie wurden oft als „exotisch“ betrachtet und waren häufig Ziel von rassistischen Angriffen und Übergriffen (vgl. Zimmermann, 2020). Einige Migrant*innen hatten Schwierigkeiten, ihre Qualifikationen und Erfahrungen aus ihrem Heimatland anzuerkennen, was es für sie schwieriger machte, besser bezahlte Jobs zu finden.

Wohnen und Leben in der DDR

Vertragsarbeiter*innen wurden in speziellen Wohnheimen – oft überfüllt und in schlechtem Zustand – untergebracht und hatten häufig mit Sprachbarrieren und kulturellen Unterschieden zu kämpfen.

Mit der steigenden Zahl an Arbeitskräften wuchsen auch die Probleme, die jedoch nicht öffentlich gemacht werden sollten (vgl. Brandenburgische Landeszentrale für politische Bildung, 2009), da die verantwortlichen Betriebe überfordert waren mit der Bereitstellung von Wohnraum, Anzahl der Betten oder Ausstattung der Zimmer. In Öffentlichkeit und Presse sollte ein ausnahmslos harmonisches Bild gezeichnet werden. Widersprüche und Konflikte wurden als „Anpassungsprobleme der Arbeitsmigrant*innen an den Alltag in der »fortschrittlichen« Industrieproduktion“ (Poutrus, 2020) dargelegt. Die Unterbringung erfolgte genderspezifisch getrennt und es gab Zimmerkontrollen. Die Art der Unterbringung wurde von Betroffenen als „bevormundend, kontrolliert und überwachend“ (vgl. Zimmermann, 2020) beschrieben. Der Nachzug von Familienangehörigen war generell verboten.

Es war von DDR-Seite nicht gerne gesehen, mit DDR-Bürger*innen in Kontakt zu kommen, viele Vertragsarbeiter*innen waren vom sozialen Leben in der DDR isoliert (vgl. Lierke et al., 2020). Liebe sollte nicht stattfinden; besonders Frauen sollten nicht schwanger werden, da dies Arbeitsausfälle bedeuten würde. Wurden Vertragsarbeiterinnen schwanger, mussten sie abtreiben oder in das Heimatland zurückkehren. Mit dem Aussetzten der Arbeitskraft wurden Vertragsarbeiter*innen zur Ausreise bewegt (vgl. Zimmermann, 2020). Besonders Migrantinnen in der DDR hatten „keine freien Entscheidungen in Bezug auf Sex, körperliche Selbstbestimmung oder Familiengründung“ (vgl. ebd). Bis heute ist dies eine wenig anerkannte und unentschädigte Perspektive.

Trotz reguliertem Kontakt kam es auch zu Verbindungen zwischen DDR Bürger*innen und Migrant*innen. Die Situation für binationale Familien in der DDR war jedoch sehr herausfordernd. Sie waren einem besonderen Druck ausgesetzt, von gesellschaftlichen Tabus, die sich in rassistischen Beleidigungen und Drohungen äußerten (vgl. Lierke et al., 2020: 5), bis hin zu massenhaften Abschiebungen vieler Arbeitsmigrant*innen nach dem Mauerfall 1989. Sogar jene, die in Deutschland Kinder bekommen hatten, mussten die DDR verlassen, und oft wuchsen die Kinder ohne Kontakt zu ihren abgeschobenen Vätern auf oder der Kontakt brach ab, wodurch Spuren verloren gingen.

Bis heute suchen einige Personen nach ihren Familienangehörigen (vgl. Dokumentationszentrum und Museum über die Migration in Deutschland e.V., 2023) und haben Fragen zu Herkunft und Identität.

Leben mit und nach der Wende: Mauerfall und Transformationsprozess für Vietnames*innen

Nach dem Fall der Berliner Mauer und der Wiedervereinigung Deutschlands erlebten Ausländer*innen in der DDR große Veränderungen. Viele beschreiben, erneut als Fremde in einem Land betrachtet zu werden, das sich selbst erst wiederfinden musste. Rassistische Übergriffe, Diskriminierung, Unsicherheit, Wohnungslosigkeit, Arbeitslosigkeit und andere wirtschaftliche Schwierigkeiten betrafen diese marginalisierte Gruppe. Auch die jahrelange soziale Isolation war deutlich spürbar (vgl. Bruderland, 2020).

„Im Mauerfall spiegeln sich in dieser Community Enttäuschungen durch das Ende einer sozialistischen Utopie, Neugier auf ein neues System und die Angst davor, Verlierer eines erneuten Umbruches zu sein wider.“

(Dan Thy Nguyen, 2020: 8).

Mit dem Mauerfall 1989 verloren die bilateralen Staatsverträge für Vertragsarbeiter*innen ihre Grundlage und rund 50 % der Vietnames*innen ihren Arbeitsplatz. Für viele bedeutete dies die Abschiebung aus der DDR, einige verließen das Land aber auch aufgrund eigener Entscheidung. Deutsche Kolleg*innen sahen die Migrant*innen nun als Konkurrent*innen um ihre Arbeitsplätze (Bruderland, 2020).

Zugleich wurden Anfang der 1990er Jahre viele der Arbeitsmigrant*innen Ziel rassistischer Übergriffe. Einer der massivsten rassistisch motivierten, gewaltvollen Übergriffe ereignete sich im August 1992 in Rostock-Lichtenhagen gegen ehemalige vietnamesische Gastarbeiter*innen im Sonnenblumenhaus, einem Wohnheim und der Aufnahmestelle für Asylbewerber*innen. Dan Thy Nguyen arbeitete 2014 in Form eines eindrücklichen Hörspiels die Ereignisse und Perspektiven Betroffener dieses Übergriffs auf.

„Erst im Jahr 1997 wurden die ehemaligen „Vertragsarbeiter“ rechtlich mit den Arbeitsmigrant*innen der BRD gleichgestellt. Mit der Klärung ihres Aufenthaltsstatus konnten sie nun endlich beginnen, sich ein neues Leben in Deutschland aufzubauen. Eine Anpassungsstrategie vieler in Deutschland lebender Vietnames*innen war der Gang in die Selbständigkeit“ (Dokumentationszentrum und Museum über die Migration in Deutschland, 2023). Für die Bleibenden standen große Herausforderungen bevor: „Es wurde den Menschen in diesen Zeiten des Umbruchs zwar einige Rechte zugestanden, doch mussten sie in der Praxis viele Jahre lang für ihre sozialen Rechte und ihr Aufenthaltsrecht kämpfen. Strukturell wurden sie stark benachteiligt“ (ebd.).

Literatur

Behrends / Lindenberger / Poutrus. (2003) Fremde und Fremd-Sein in der DDR. Zu historischen Ursachen der Fremdenfeindlichkeit in Ostdeutschland, Berlin.

Brandenburgische Landeszentrale für politische Bildung. (2009) Als Arbeitskraft willkommen. Vietnamesische Vertragsarbeiter in der DDR (in: https://www.politische-bildung-brandenburg.de/ausstellungen/als-arbeitskraft-willkommen, abgerufen 20.03.2023)

Brockschmidt, A. (2020) Fremdes Bruderland. So lebten Migrantinnen und Migranten in der DDR (in: https://www.tagesspiegel.de/wissen/so-lebten-migrantinnen-und-migranten-in-der-ddr-5726293.html, abgerufen 23.03.2023)

Dokumentationszentrum und Museum über die Migration in Deutschland. (2023) Vertragsarbeiter in Deutschland. Motivserie „Migrationsgeschichte in Bildern“ (in: https://domid.org/news/vertragsarbeit-in-der-ddr/, abgerufen 22.03.2023)

Enzenbach I. / Mai-Phuong Kollath M. / Oelkers J. (2020) Eigensinn im Bruderland (in: https://bruderland.de/background/weitere-dokus/, abgerufen 23.03.2022)

Luanda G., Politische Beschlüsse zu Ausländerinnen und Ausländern in der DDR – eine exemplarische Übersicht, in:https://www.auslaender-in-der-ddr.com/home/vor-der-wende/politische-beschluesse, abgerufen 21.03.2023

Lierke L. / Massochua J. / Zimmermann C. (2020) Ossis of color. Vom Erzählen (p)ostmigrantischer Geschichten. Berlin.

Nguyen, T. (2020) Eine geteilte Community. Kalter Krieg, Mauerfall und die vietnamesische Migrationsgeschichte. Berlin.

Poutrus, P. G. (2019) Umkämpftes Asyl. Vom Nachkriegsdeutschland bis zur Gegenwart, Berlin.

Perinelli, M. / Lierke, L. (2020) Erinnern stören. Der Mauerfall aus migrantischer und jüdischer Perspektive, Berlin (in: https://www.rosalux.de/fileadmin/images/Dossiers/Migration/Erinnern-stoeren/00_Intro_3.pdf; abgerufen: 23.03.2023)

Rabenschlag, A. (2014) Völkerfreundschaft nach Bedarf. Ausländische Arbeitskräfte in der Wahrnehmung von Staat und Bevölkerung der DDR, Stockholm.

Schulz, M. Migrationspolitik der DDR. Bilaterale Anwerbungsverträge von Vertragsarbeitnehmern«, in: Christian Priemel, Kim (Hg.), Transit – Transfer. Politik und Praxis der Einwanderung in der DDR 1945–1990, Berlin 2011, S. 143–168.

Zimmermann, C. (2020) Produktion über allem. Vertragsarbeiter*innen in der DDR, Berlin (in: https://soundcloud.com/rosaluxstiftung/produktion-uber-allem-vertragsarbeiterinnen-in-der-ddr?utm_source=www.rosalux.de&utm_campaign=wtshare&utm_medium=widget&utm_content=https%253A%252F%252Fsoundcloud.com%252Frosaluxstiftung%252Fproduktion-uber-allem-vertragsarbeiterinnen-in-der-ddr, abgerufen 20.03.2023)

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