Das Verständnis von Öffentlichkeit und Privatheit in der DDR

Literatur:

Primärlektüre: Mau, Steffen 2019: Lütten Klein: Leben in der ostdeutschen Transformationsgesellschaft, 3. Auflage., Berlin. Suhrkamp. (Kapitel 3 & 4)

Sekundärlektüre: Cichecki, Diana 2022: Das transformative Potenzial in Bourdieus Theorie anhand der Grenzziehung zwischen privat und öffentlich (S. 195-223). In: Burkart, Günter/Cichecki, Diana/Degele, Nina/Kahlert, Heike (Hg.) 2022: Privat – öffentlich – politisch: Gesellschaftstheorien in feministischer Perspektive (Gesellschaftstheorien und Gender). Wiesbaden. Springer VS.

https://link-springer-com.ezproxy-unifr-2.redi-bw.de/content/pdf/10.1007/978-3-658-35401-5.pdf

Ablauf der Sitzung:

  • Einführung: Textauszug Schernikau (2001: 143f) & Austausch zu Kapitel 3 & 4 (Mitschrift der Beiträge: https://etherpad.hs-fulda.de/p/3x-BmgsgPkOt89-1d9zK)
  • Diskussion über das Öffentliche und Private in der DDR anhand von Zitaten / Thesen aus Bourdieus Theorie und Kapitel 3 & 4
    • Textanalyse 1: Die Relationalität im Sozialraum
    • Textanalyse 2: Die (Selbst-)Darstellung im Öffentlichen
    • Abschluss: Grenzen Verschieben: Transformation & Wandel

Textauszug von Ronald M. Schernikau:

darüber, daß die ddr und die brd sich niemals verständigen können, geschweige mittels ihrer literatur. DIE TAGE IN L. (Ronald M. Schernikau)

Textauszug aus Kapitel: DDR sieht DDR: Das Desinteresse (Schernikau, 2001: 143f)

An jedem ersten Mai strömen die Einwohner in die Mitten der großen Städte und feiern sich. Der Sitte des Landes entsprechend sind wir morgens vollkommen ausgeschlafen. Von einem Bein auf das andere tretend, erwarten wir den Aufmarsch unserer selbst.

Der 1. Mai ist wunderbar hell. Zum Treffpunkt kommen auch die, die immer spotten. Über die Lautsprecher erfahren wir die Reihenfolge. Es zieht durch die Stadt die ganze Stadt. Als wir uns in Bewegung setzten, ist für die vorne der Umzug schon vorbei.

[…]

Auf der großen Straße der Stadt bildet der Umzug das Publikum des Umzugs. Die Plakate sind aus der Hauptstadt gekommen, niemand liest sie. Die Zeit der Anstecknadeln ist vorbei.

Das Verhältnis der DDR Bürger zur DDR ist natürlich ein pragmatisches. Wenn es gilt, hier einen Umzug durchzuführen, dann werde ich hier auch einen Umzug durchführen, so ist das nicht. Ich habe schließlich schon ganz andere Dinger durchgeführt.

Aber das ist es nicht allein. Wir laufen noch immer die große Straße herauf, wir kaufen am Rand eine Bockwurst, sie fällt uns auf die Hose, wir ärgern uns maßlos darüber, und wir haben den ersten Mai. Wir schimpfen mit den Kindern, weil die dazu da sind, und es ist der erste Mai der Kinder. Die Welt ist in Blöcke aufgeteilt und in Umzüge. Wir sind einer in ihr.

Wie merkwürdig ist es, die Straßen nicht wiederzuerkennen! Wer beschreibt mein Entzücken über die Tribünen in der Mitte der Stadt? Auf ihr steht der Direktor des Instituts für Weltbeschreibung und winkt. Ich winke zurück! Wir alle winken, wir marschieren an den Oberen vorbei und lachen. Glauben die uns? Ich sehe dem Direktor von ferne in die Augen. Glaubt er mir? Der Depridichter hat seine Freundin untergehakt. Sie sehen den Direktor auch. Auch sie winken.

Gegenüber der Tribüne mit den Oberen die mit der Jugend. Die Jugend hat Fähnchen in der Hand und Pläne auf den Knien, sie winken und bilden Bilder dabei. Am besten gucken können die auf der Tribüne gegenüber, aber auch wir, die wir zwischendurch marschieren, sehen die Ornamenter der Jugend. Alles an diesem Morgen ist Ornament. An diesem Morgen ist Ornament ein Adjektiv.

Ich drehe mich um und sehe auf den Zug hinter mir. Ich gehe rückwärts, um in dem Strom zu sein. Auch die Leute hinter mir winken nach oben. Die Schauspieler des schlechten Theaters versuchen, wie alle Schauspieler auf der Welt, intellektuell auszusehen, mehreren gelingt es. Die Krankenschwestern haben ihr weißen Trachten nicht an. Ich bin kein Kind und werde auf keiner Schulter getragen. Wenn ich stehen bleibe, gehen die Leute an mir vorbei. Dann muss ich mich beeilen.

Als ich meine Leute erreicht habe, ist der Zug zu Ende. Als die Tribünen alle sind, wird der Strom schlagartig weit. Es gibt den Strom nicht mehr. Wir stehen auf offener Straße.

Die Trennung von draußen und drinnen

  • Öffentlich = draußen (öffentliches Leben, soziale und politische Tätigkeiten, Bereich der Männer)
  • Privat = drinnen (abgeschlossen, geheim, Bereich der Frauen)

(Cichecki, 2022: 198f, 206)

Die Trennung von vorne und hinten

  • Vorne = etwas, was (vor anderen) gezeigt wird (sichtbar, allgemeines Publikum)
  • Hinten = etwas, was (vor anderen) verborgen wird (unsichtbar, verborgen, vertraulich, privat)
  • Offiziell = eine Person ist berechtigt, im Namen einer Gruppe öffentlich zu sprechen (öffentlich sichtbar, findet vorne statt)

(Cichecki, 2022: 200f)

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