Einleitung

Steffen Mau stellt in seinem Buch „Lütten Klein – Das Leben in der ostdeutschen Transformationsgesellschaft“ verstärkt die Perspektive der Männer aus dem Osten dar. Er spricht von einem „Männerüberschuss“ (Mau 2020: 194), der sich nach der Wende in Ostdeutschland ergab. Die Perspektive der ostdeutschen Frauen lässt er eher außen vor. Dieses Wiki wird sich mit einer Annäherung an das Thema befassen. Dabei wird vor allem Bezug auf den „Gleichstellungsvorsprung“ genommen, den der Osten (angeblich) gegenüber dem Westen hatte. (Geißler 2014: 461) Zudem wird die ostdeutsche Frau im Kontext der Erwerbstätigkeit dargestellt.

von der SED propagiertes Frauenbild

Rainer Geißler bezeichnet das von der SED propagierte Frauenbild als kompatibles Drei-Rollen-Modell. Die Frau sollte als Mutter und Hausfrau agieren, zudem die Rolle einer Erwerbstätigen mit guten Qualifikationen übernehmen sowie aktiv in Politik und Gesellschaft mitwirken. (vgl. Geißler 2014: 403)

erwerbstätige Mütter in der DDR

Für erwerbstätige Mütter gab es in der DDR einige sozialpolitische Maßnahmen, die die Vereinbarkeit von Erwerbsarbeit und Kindererziehung sicherten. Unter anderem wurde eine Ganztagsbetreuung der Kinder eingeführt. Zudem gab es einmal monatlich einen „Hausarbeitstag“ nur für Frauen, um den Pflichten als Mutter und Hausfrau nachkommen zu können. (Ab 1977 wurde dieser auch für Männer eingeführt, allerdings mit Attestpflicht.) Das führte zu einer starken „Doppel- oder gar Dreifachbelastung“ (Nickel 2022: 182) durch Haushalt, Kinderbetreuung und Erwerbsarbeit. Zudem verfestigten die Maßnahmen die traditionellen Rollenbilder der Frau als Mutter und die diesem Bild folgende Arbeitsteilung innerhalb einer Familie. (vgl. Nickel 2022: 182f.)

„Gleichstellungsvorsprung“ in der DDR gegenüber dem Westen?

Die Gleichstellungspraxis der DDR war vor allem von vier Elementen gekennzeichnet:

1. Institutionen in Politik und Gesellschaft speziell für Frauen

- ,,Abteilungen bzw. Kommissionen für Frauenfragen‘‘ in der SED (Geißler 2014: 403)

- Frauenausschüsse in Gewerkschaften

2. Hilfen für Mütter

- Gesetze, die erwerbstätige Mütter entlasteten

3. Steuerung und Verpflichtungen der Gesellschaft

- Frauen waren gesetzlich zu Arbeit verpflichtet

- Berufs- und Studienwahl sowie höhere Bildungszugänge wurden reglementiert

- Druck, politisch und gesellschaftlich aktiv zu sein

- Besetzung von Leitungspositionen

4. finanzielle Mittel

- für Finanzierung von politische Kommissionen und Hilfen für Mütter (vgl. Geißler 2014: 404f.)

Mau beschreibt die Gleichstellungspolitik der DDR als arbeitsmarktmotiviert. Weil es einen Mangel an Arbeitskräften gab, wollte man Frauen zu Arbeitnehmerinnen machen und unterstützte sie dabei. In diesem Zusammenhang wird auch von einer „Emanzipation von oben“ gesprochen. Allerdings kann trotzdem nicht von „wirklicher Gleichstellung bei Einkommen und Status“ gesprochen werden. (Mau 2020: 74)

Zwar wurden Frauen durch die sozialpolitischen Maßnahmen leichter finanziell unabhängig. Aber der in der DDR geltende Spruch „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ galt nicht für alle. Frauen erhielten durchschnittlich 25–30 Prozent weniger Einkommen als Männer. (vgl. Nickel 2022: 183) Zudem blieben die traditionell männlich und weiblich aufgeteilte Berufsdomänen weiterhin gleich. Die meisten Frauen arbeiteten weiter in typischen „Frauenberufen“. (Nickel 2022: 182) Der Zugang zu Leitungspositionen stellte war für Frauen erschwert. (vgl. ebd.: 182f.) Die Politik war vor allem von Männern dominiert. Keine einzige Frau war im Politbüro der DDR stimmberechtigt. Die paternalistisch-patriarchalische Führung der DDR machte Politik „von Männern für Frauen“. (ebd.: 183) Trotzdem zeigt sich in Bezug auf die Positionen der Frauen ein Vorsprung gegenüber dem Westen. In der DDR war kurz vor der Wende fast ein Drittel der Volkskammerabgeordneten Frauen. Im Bundestag lag der Anteil nur bei 15 Prozent. Die Hälfte aller Richter*innen waren Frauen, während in der BRD nur knapp 20 Prozent weiblich waren. (vgl. Mau 2020: 74) In der DDR wurde 1972 ein Gesetz veranlasst, das Frauen den Schwangerschaftsabbruch innerhalb der ersten 12 Wochen ermöglichte. Dieses Gesetz war ein wichtiger Schritt zur Selbstbestimmung der Frauen über ihren Körper. (vgl. Nickel 2022: 183) Weiterhin war auch die Scheidungsrate in der DDR höher als in der BRD. Frauen waren durch ihre finanzielle Unabhängigkeit nicht an einen männlichen Partner als Alleinverdiener gebunden. Die Norm war die der Doppelverdiener-Familien. Uneheliche Partnerschaften sowie uneheliche Kinder waren im Gegensatz zur BRD gesellschaftlich stärker akzeptiert. (vgl. Mau 2020: 72f.)

Die Frage nach einem „Gleichstellungsvorsprung“ gegenüber der BRD lässt sich zu DDR-Zeiten also bejahen. Trotzdem wurden Frauen durch die gleichstellungspolitischen Maßnahmen weiterhin in die traditionelle Rolle der Mutter in einer heterosexuellen Kleinfamilie gedrängt. (vgl. Nickel 2022: 183)

„Gleichstellungsvorsprung“ auch nach der Wende?

Ostdeutsche Frauen streben laut Nickel stärker nach hochqualifizierten Erwerbsberufen und finanzieller Unabhängigkeit als westdeutsche. Die Erwerbsbeteiligung der Frauen aus dem Osten ist gegenüber der im Westen höher. Zudem neigen junge ostdeutsche Frauen zum Wechseln ihres Standortes, um Ausbildung sowie Arbeit zu finden und sind dadurch sogar die mobilste Gruppe dieses Jahrhunderts. (vgl Nickel 2022: 187f.) Trotzdem darf in diesem Zusammenhang nicht außer Acht gelassen werden, dass diese „Wanderungen [meist] wider Willen“ stattfinden – aufgrund der durch den Transformationsprozess hervorgerufenen schlechten Arbeitsmarktlage in der DDR. (Mau 2020: 193) Vor allem ostdeutsche Frauen hatten auf dem Arbeitsmarkt schlechtere Chancen. Gründe dafür waren der „Abbau von Kinderbetreuungseinrichtungen und staatlichen Hilfen für erwerbstätige Frauen“. (Geißler 2014: 469)

Dennoch ist das Einkommen von Frauen und Männern im Osten fast gleich. Der Gender Pay-Gap lag 2015 bei nur 5 Prozent, im Westen bei 23 Prozent. Zudem ist die prozentuale Verteilung von Führungspositionen von ostdeutschen Männern und Frauen recht ähnlich. Im Vergleich zu den Westdeutschen haben allerdings viel weniger Ostdeutsche einen Platz in den Führungsetagen. (vgl. Nickel 2022: 188f.) Die Unterstützung von erwerbstätigen Müttern ist im Osten auch weiterhin stärker als im Westen. Trotz des Abbaus besteht immer noch eine leicht besser ausgebaute Kinderbetreuungsinfrastruktur. Zudem ist der empfundene Rechtfertigungsdruck für Mütter, die ihre Kinder schon in jüngeren Jahren in Betreuung abgeben, viel geringer. Im Westen belaufen sich die Zahlen auf fast 70 Prozent, während im Osten nur ein Viertel der Mütter den Druck nach Rechtfertigung sieht (vgl. BMFSFJ 2015: 12). Die Selbstverständlichkeit einer gleichgestellten Aufgabenverteilung zwischen Einkommenssicherung, Haushalt und Kinderbetreuung ist im Osten höher. (vgl. Nickel 2022: 190)

Nickel meint, dass das „Lebensmodell der Gleichstellung von Frauen und Männern […] in Ostdeutschland insgesamt anscheinend noch immer deutlich weiterverbreitet“ ist (ebd.: 190). Es lässt sich also auch nach der Wende von einem Gleichstellungsvorsprung sprechen. (vgl. Geißler 2014: 464f.)

Bewältigungs- und Anpassungstrategien im Transformationsprozess

Nach der Wende reagierten ostdeutsche Frauen je nach ihrer vorherigen Lebenslage sehr unterschiedlich auf die damit einhergehenden Veränderungen. Frank Thielecke macht drei Typen unterschiedlicher „Bewältigungs- und Anpassungstrategien“ aus, mit denen ostdeutsche Frauen auf die Transformationsprozesse in Ostdeutschland reagieren: (in Dölling 1994: 101)

1. Individualität als Chance

- meist kinderlose und junge Frauen mit hohen beruflichen Qualifikationen

- sehen sich als „Gewinnerinnen“ der Einheit aufgrund guter Chancen auf dem Arbeitsmarkt, auch gegenüber Männern

- Mobilität ermöglicht besseren Einstieg in den Arbeitsmarkt

2. grundlegende Stabilitätsorientierung

- Frauen jeder Generation mit Kind (alleinerziehend oder mit Partner*in), die der „Doppelbelastung“ von Arbeit und Kindern ausgesetzt waren

- angestrebte Stabilität durch berufliche (Teil-)Weiterbildung, um gesellschaftliche Position zu sichern

- Annahme der traditionellen patriarchalen Geschlechterordnung

3. berufliche Orientierungslosigkeit ohne Ausweg

- Frauen mit niedrigen beruflichen Qualifikationen, die schon in der DDR benachteiligt waren

- Ablehnung von Weiterbildung

- Annahme der traditionellen patriarchalen Geschlechterordnung

- hingenommene Abhängigkeit von institutionellen Finanzierungen

Dass diese Einteilung nicht alle Differenzierungsprozesse ostdeutscher Frauen umfasst und die Typisierungen nur einen groben Überblick auf die Anpassungen an die gesellschaftliche Transformation geben, soll hier noch einmal gesagt werden. (vgl. ebd.: 102)

europäische feministische Sichtweise auf ostdeutsche Frauen

Irene Dölling spricht von einer „Ambivalenz“, mit der die ostdeutsche Frau oft im europäischen feministischen Diskurs dargestellt werde (oft ohne die eigene Perspektive der ostdeutschen Frau zu beachten). Zum einen wird sie oft mit Emanzipation und Selbstbewusstsein verbunden. Das sei aufgrund von Erfahrungen mit Erwerbstätigkeit und damit einhergehende finanzielle Unabhängigkeit sowie durch ein Gefühl der Leistung durch die doppelte Belastung so. Zeitgleich gelten ostdeutsche Frauen allerdings auch als unreflektiert, weil sie die traditionelle patriarchale Geschlechterordnung hinnehmen. (vgl. Dölling 1994: 96f.)

Die „unreflektierte Ost-Frau“ wurde auch oft abwertend als „Ost-Mutti“ bezeichnet. Ihr wurden neben der internalisierten patriarchalen Geschlechterordnung auch Unselbstständigkeit und Anpassungswilligkeit attestiert. (Fahran 2012: 66 in Berg-Peer/Lieber 1994: 152-165) Die „Ost-Mutti“ würde ihre Pflichten als Frau und Mutter sowie als Erwerbstätige einfach akzeptieren und erfüllen. (vgl. Fahran 2012: S.66f.)

die Erzählung der starken Ostfrauen

Die mediale Aufmerksamkeit der Repräsentanz der Ostdeutschen rührt vor allem daher, dass viele Frauen aus der ehemaligen DDR hohe politische Positionen bekleiden. Als Beispiele bekannter Politikerinnen lassen sich hier Angela Merkel und Sarah Wagenknecht nennen. Zudem sind mehr Ost- als West-Frauen Versorgerinnen der Familie – mit und ohne Partner*in. (Nickel: 189f.) Unter anderem diese beiden Zustände lassen auf das im Diskurs verbreitete Bild der emanzipierten und selbstbewussten Ost-Frau schließen. Christine Farhan analysiert in ihrem Artikel „Die Rhetorik der starken Ostfrau“ 61 Interviews in Bezug auf die Position ostdeutscher Frauen und das Bild der „Ost-Mutti“: (vgl. Farhan: 65f.)

1. Erwerbstätigkeit (vgl. ebd.: 67)

- Arbeit fördert Selbstvertrauen und trägt zur „Sinnbildung des Lebens“ bei

- finanzielle Unabhängigkeit und möglicher Beitrag zur Familienversorgung

- Erwerbstätigkeit ermöglicht soziale Kontakte mit Kolleg*innen (Hausfrau als Außenseiterin konnotiert)

- zeitgleich: Form der Opposition gegen Staatm nicht arbeiten zu gehen

2. Kinder (vgl. ebd.: 68)

- Kombination von Mutter-Sein und Arbeit als Zeichen von Erfolg

- positives Bilder der Unabhängigkeit von Kindern durch öffentliche Kinderbetreuung

- finanzielle Unterstützungen für Mütter → Gefühl der Selbstbestimmung und Unabhängigkeit

- zeitgleich: Kritik an Kinderbetreuung als Indoktrination des Sozialismus

3. Geschlechtsidentitäten (vgl. ebd.: 68f.)

- Geschlechtergleichberechtigung sei vorhanden gewesen, feministischer Diskurs als überflüssig angesehen

- zeitgleich negativ empfunden: Unterdrückung von feministischen Initiativen, Gleichstellungspolitik zu erwerbszentriert, Geschlechtsdiskriminierung im Arbeitsbereich

4. Beziehungen zwischen Frau und Mann (vgl. ebd.: 69f.)

- Gefühl von Gleichberechtigung in Partnerschaft durch gleichgestellte Übernahme von Haushaltsaufgaben

- Trennungbereitschaft, wenn der Partner nicht um gleiche Arbeitsverteilung bemüht ist

5. Ost-West-Widersprüche (vgl. ebd.: 70)

- bewusstes Absetzen/ Abtrennen vom Westen

- Hervorheben der „sympathischere[n] Ostmentalität“

- Solidarität und Familienorientierung seien im Osten stärker vertreten

- stärkeres Interesse an Politik als Frauen im Westen

- Ost-Frauen als emanzipierte erwerbstätige Mütter, Westfrauen als unselbstständige Hausfrauen

- Herausstellen einer unterschiedlichen Einstellung zu Emanzipation: Ost-Frauen seien unabhängiger

Nach Farhan stellen sich Frauen aus dem Osten mit zwei verschiedenen Strategien dar, die beide auf das Bild der starken Ost-Frau abzielen. Zum einen grenzen sich die Frauen von der Ideologie des sozialistischen DDR-Staates ab. Sie sehen sich selbst als widerständig und stellen sich als bewusste Feministinnen dar, die sich gegen die Gleichstellungspolitik der DDR stellen. Die Opposition ist Teil der Identität. Auf der anderen Seite stehen Frauen, die sich entlang des Wertsystems der DDR als unabhängig ansehen. Sie präsentieren sich als (finanziell) unabhängige Mütter und Partnerinnen und heben vor allem die Vereinbarkeit von Erwerbstätigkeit und Mutterschaft als positiv heraus. (vgl. ebd.: 71f.)

Fazit

Dieses Wiki gibt einen kurzen Einblick in die (Selbst-)Darstellung der ostdeutschen Frauen und ihre Reaktionen auf die Wende betrachtet und vergleicht die Situation der Gleichstellung von Mann und Frau im Westen und im Osten. Es muss angemerkt werden, dass die Wanderungen der Ost-Frauen in den Westen eine genaue Beantwortung der Frage, wer „die Ostfrau“ eigentlich ist, erschweren. Denn viele Forschungen und Meinungsumfragen legen ihren Fokus ausschließlich auf die Frauen, die (noch) in Ostdeutschland leben. (vgl. Nickel 2022: 188) Allgemein lässt sich dennoch schließen, dass der Osten gegenüber dem Westen auch nach der Wende noch einen zumindest minimalen „Gleichstellungsvorsprung“ aufweist, auch wenn von wirklicher Gleichstellung zwischen Frauen und Männern nicht die Rede sein kann. Zudem hat sich das Selbstbild der Ost-Frau als starke unabhängige Persönlichkeit durch die Erfahrungen zu DDR-Zeiten formiert und aufgrund der stereotypisierten Meinungen über die Ost-Frau im europäischen feministischen Diskurs noch einmal verstärkt. Der Diskurs unterscheidet dabei aber oppositionelle und regime-treuere Ansichtsweisen, die die Selbstdarstellung geprägt haben.

Literaturverzeichnis

Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Hg.) (2015), 25 Jahre Deutsche Einheit. Gleichstellung und Geschlechtergerechtigkeit in Ostdeutschland und Westdeutschland. Berlin.

Dölling, I. (1994), ,,Identitäten von Ost - Frauen im Transformationsprozeß : Probleme ostdeutscher Frauenforschung‘‘, in: E. Boa, J. Wharton (Hg.), Women and the Wende. Social Effects und Cultural Reflections of the German Unification Process. Amsterdam, 95-106.

Farhan, C. (2012), ,,Die Rhetorik der starken Ostfrau II‘‘, in: Moderna språk 106(1), 65-84.

Geißler, R. (2014), Die Sozialstruktur Deutschlands. 7. Auflage. Wiesbaden.

Mau, S. (2019), Lütten Klein. Leben in der ostdeutschen Transformationsgesellschaft. Berlin.

Nickel, H. M. (2022), ,,‚Ost-Frau‘ – Mythen und Fakten. Geschlechterverhältnisse in der Transformation‘‘, in: K. Aleksander et al. (Hg.), Feministische Visionen vor und nach 1989. Geschlecht, Medien und Aktivismen in der DDR, BRD und im östlichen Europa. Berlin, 179-195.

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