Auszug aus dem Text: Das Ende des "Raubbaus"?

Seite 37 & 38

  • „Wenn der Arbeitsmarkt leergefegt ist, wissen die Arbeiter, dass der Arbeitgeber für sie keinen billigen Ersatz finden kann. Die Konsequenz, zumindest in der Theorie: steigende Löhne“ (Brankovic 2017).

Dies konstatierte jüngst die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ), um sogleich einzulenken, dass die Realität anders aussehe. So bleiben beispielsweise die Löhne in Thüringen trotz Entgelterhöhungen teilweise weit hinter Tarifniveau zurück. Immerhin kann seit einiger Zeit ein deutlicher Rückgang der Arbeitslosigkeit beobachtet werden. Das trifft auch für Ostdeutschland zu, welches lange mit den Folgen der Transformation zu kämpfen hatte (Goes et al. 2015). Der in den neuen Bundesländern voranschreitende demografische Wandel trägt erheblich zur Verbesserung der Arbeitsmarktsituation für Arbeitnehmer_innen bei und äußert sich mitunter bereits in Fachkräfteengpässen (Schwengler/Bellmann 2015). Bisher konnten Unternehmen in Ostdeutschland lange Zeit aus einem großen Reservoir von (Fach-)Arbeitskräften schöpfen. Vor dem Hintergrund eines beständig drohenden Arbeitsplatzverlustes waren Arbeitnehmer_innen nach der Wiedervereinigung lange Zeit bereit, niedrige Löhne und schwere Arbeitsbedingungen in Kauf zu nehmen – frei nach dem Motto „Hauptsache Arbeit“ (Artus/Röbenack 2015). Unternehmen nutzten die prekäre Arbeitsmarktlage aus und betrieben mit ihrer paternalistischen, aber rigiden Personalpolitik ‚Raubbau‘ an der menschlichen Arbeitskraft. Dies fand im Wesentlichen Ausdruck in langen und flexiblen Arbeitszeiten sowie in schlechter Entlohnung. Auch eine auf Dauer gestellte Arbeitsverdichtung infolge einer knapp bemessenen Personaldecke sowie physisch belastende Tätigkeiten führten zu einer stärkeren Vernutzung der Arbeitskräfte. Für die Arbeitgeberseite stellten die Konsequenzen keine Schwierigkeit dar, schließlich konnten sie, auf Grund der hohen strukturellen Arbeitslosigkeit, problemlos aus einem großen Pool qualifizierter und motivierter Arbeitskräfte schöpfen. Mit der aufkommenden Arbeitskräfteknappheit im Zuge des demografischen Wandels kommt es zunächst jedoch zu einer sukzessiven Verbesserung der Arbeitsmarktsituation zu Gunsten der Erwerbspersonen. Zunehmend sehen sich Arbeitnehmer_innen in einer besseren Verhandlungsposition, um selbstbewusst Ansprüche an Arbeitgeber und Arbeitsbedingungen zu stellen (Dörre et al. 2016; Göttert et al. 2016; Schmalz et al. 2017a). Auch ein Wechsel des Arbeitgebers wird im Zweifel nicht gescheut (Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung 2014). Diese Entwicklung deuten wir als eine Gegenwehr zu den vernutzenden Personalpolitiken der Nachwendezeit. Geraten also die „Raubbaupraktiken“ von Arbeitgeber_innen in Ostdeutschland an ihre Grenzen? Es stellt sich die Frage, ob der demografische Wandel gleichsam als „Game Changer“ für eine Stärkung der Position der Arbeitnehmer_innen gegenüber Arbeitgebern fungiert und so den Weg für bessere, nachhaltige Arbeitsbedingungen ebnet. Darunter verstehen wir nicht nur eine deutliche Verbesserung der Lohnsituation der Beschäftigten. Auf betrieblicher Ebene zeichnet sich ein sorgsamerer Umgang mit den Arbeitnehmer_innen außerdem durch eine Umsetzung von Maßnahmen aus, die die Arbeitszeitwünsche und Ressourcen sowie die gesundheitlichen Voraussetzungen der Beschäftigten berücksichtigen. Eine Arbeitsprozessgestaltung, die Autonomie und lebenslanges Lernen der Beschäftigten fördert, gehört zu den basalen Investitionen einer umsichtigen Personalpolitik, die auch dazu dient, Beschäftigte an das Unternehmen zu binden. Nachhaltig bedeutet außerdem, die Implementierung einer vorausschauenden Rekrutierungspolitik der Betriebe, die frühzeitig auf etwaige Engpasskonstellationen reagiert.

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