Rollenbilder zur Zeit der Wiedervereinigung


Rollenbilder der Gesellschaften


Die Begriffe Geschlechterrolle oder auch Geschlechterrollenorientierung 1) begegnen uns häufig im Alltag. Sie nehmen mehr Raum in der Arbeitswelt ein und auch mehr Raum in persönlichen Gesprächen. Dabei ist es wichtig zu verstehen, dass es häufig eine Diskrepanz zwischen der Ausfüllung einer erwarteten Geschlechterrolle gibt und dem, was reell gelebt wird. 2)

Eine Geschlechterrolle wird allgemein von gesellschaftlichen Normen definiert, indem dem Verhalten einer weiblich definierten Person oder männlich definierten Person eine bestimmte Erwartungshaltung passend zu ihrem Geschlecht entgegengebracht wird, was jeweils an alltäglichen praktischen Beispielen gemessen wird.

Beispiele:

  • Familie
  • Beruf
  • Gesellschaft


Wie vieles befinden sich auch jene Geschlechterrollen dauerhaft in einem Wandel der stetig fluktuierenden Werte und Normen der Gesellschaft, welche sich mit den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, die eine Auswirkung auf jene Rollenbilder haben, wie Berufsmöglichkeiten oder Förderung der Kinderbetreuung, in einer Wechselwirkung stehen.3)

Systeme von Geschlechterrollen



Selbst ist die Frau: Frauenerwerbstätigkeit zur Zeit der Wiedervereinigung


Eines der wichtigsten Merkmale, die zur Zeit der Wiedervereinigung beide Teile Deutschlands unterschied, war die Frauenerwerbstätigkeit. Zum Zeitpunkt der Wiedervereinigung war der Osten Deutschlands ein „Arbeiterstaat“ und somit waren auch weitestgehend die Rollenbilder egalitär geprägt. Durch eine öffentlich stark unterstützte Anerkennung des Bildes der arbeitenden Frau und des generell hohen Status der Arbeit war es üblich, dass auch nach der Geburt eines Kindes ein möglichst schneller Wiedereinstieg in die Arbeitswelt ermöglicht wurde. 4)

https://youtu.be/69ajzuNYitM
Beispiel für Frauenerwerbstätigkeit in der DDR

Der Westen Deutschlands hingegen zeigte mit seinen traditionell geprägten Rollenbildern ein gänzlich anderes Bild. Hier ist die traditionelle Aufteilung mit dem Mann als Versorger und dem Bild der typischen Hausfrau noch stark verbreitet. Somit stand für eine Frau die Familie weitestgehend über der Arbeit, weswegen auch eine Geburt oftmals der Grund für eine Umorientierung war und der Beruf für die Familie ganz aufgegeben wurde.5)

Dass die geringere Erwerbstätigkeit bei Frauen im Westen Deutschlands vorherrschte, heißt jedoch keinesfalls, dass das Interesse an einer Gleichstellung beider Geschlechter im Westen weniger vorhanden war. Vielmehr hängt diese Entwicklung an den gesellschaftlichen Zwängen, die nicht nur ökonomischer, sondern ebenso familiärer Art sind (Beispiel: der Westen Deutschlands weist mehr religiös geprägte Menschen auf6) 7)


Nach der Wiedervereinigung und in den folgenden Jahrzehnten haben sich diese Unterschiede angenähert und auch der Westen Deutschlands hat ein eher egalitär geprägtes Rollenbild angenommen. Doch auch 30 Jahre später kann man bei den Rollenbildern heute die damalige Abgrenzung ausmachen. 8)

Der „Ostmann“


„Reden wir nicht drum herum, der wütende Teil der ostdeutschen Männer ist auch deshalb so komplexbeladen, weil es die ostdeutsche Frau gibt und weil die ostdeutsche Frau die Welt regiert. […] Wenn klassische Männlichkeitsbilder verschwinden […], dann bricht sich bei einigen Männern offenbar die völlige Wut Bahn.“ (Machowecz, 2017)


Ostdeutsche sind rechts. Insbesondere ostdeutsche Männer neigen zum Rechtsextremismus (siehe Vorurteile). Und all das natürlich aufgrund von Spätfolgen einer Herkunft, die nicht westlichen Normen entspringt, sondern einer Sozialisierung in der DDR. 9) So urteilen zumindest viele Medien in Deutschland, wenn es um die Ursachenfindung für Zahlen geht, die doch eindeutig bestätigen, dass in Ostdeutschland ein höherer Prozentsatz an Menschen zu rechtem Gedankengut neigt. Beispielsweise die Rekordzahlen der AfD 2017 bei denen der „Ostmann“ nicht nur Schlagzeilen machte, sondern dies auch mit klaren Prozenten belegt werden konnte.10)


Nun ist es daran, zu analysieren, ob der Diskurs des „braunen Ostens“ tatsächlich auf einem Rollenbild des rechten Ostmanns basiert oder ob auch diese Annahme komplexer ist, als die Zahlen und Schlagzeilen nahelegen.

die Schrumpfgesellschaft


Auch nach der Wiedervereinigung ließ der Strom an Auswanderern nicht nach, sondern blieb konstant. Bis zum Jahr 2013 konnte man einen Schwund der Population im Osten von mehr als zehn Prozent ausmachen, welche Schäden an Infrastruktur des Landes hervorriefen. (Mau, 2019: 190-191) Zu den offensichtlichen Schäden, die ein Verlust von Humankapital nach sich ziehen, wie Arbeitskräftemangel und einen dadurch verursachten Einbruch der Wirtschaft, kam hinzu, dass jene Menschen, die auswanderten oder auch pendelten, nicht aus Neugierde ihre Heimat verließen, sondern vielmehr, um ihren ökonomischen Wert zu erhalten oder zu erhöhen. (Mau, 2019: 193) Es verließen also hauptsächlich Personen mit einer höheren Bildung den Osten. Schlussfolgernd blieben oft Personen mit einer mittleren oder niedrigen Bildung zurück.

Doch auch bei den Geschlechtern gibt es einen Unterschied, denn bei den zuvor genannten Mobilen oder Arbeitspendlern, handelte es sich um überproportional viele Frauen, welche risikofreudiger waren, Chancen ergreifen oder ihre ökonomische Unabhängigkeit erhalten wollten. Diese Feminisierung der Migration bewirkte somit nicht nur den Einsturz der Geburtenrate im Jahr 1990, sondern auch eine Geschlechterunverhältnismäßigkeit im Osten Deutschlands. (Mau, 2019: 195ff)11) Zurück bleiben damit Männer, die eher einen niedrigen Bildungsstand haben. Ist es also möglich, dass Strukturveränderungen, die den vorherigen „Helden der Arbeit“ zu einem zurückgebliebenen Teil der Bevölkerung degradieren sowie Komplikationen bei der Partnersuche aufgrund der sinkenden weiblichen Bevölkerung zu einer so starken Frustration geführt haben, dass sich bestimmte Verhaltensmuster wie erhöhte Gewalt oder rechtes Gedankengut kollektiv auf einen bestimmten Sozialtypus ausgewirkt haben?

Als eine andere Erklärung, die angeführt wird, ist das egalitäre Rollenbild, das in der DDR vorherrschte. Der Mann sei nunmehr das Opfer der Jahrzehnte, die durch Emanzipation geprägt wurden.12) Dem Wunsch nach traditionellen männlichen Rollenbildern könne nun nach der Wende nachgegangen werden. Ein bestimmtes Gefühl des Nachholens verlorener Machtposition stellt sich ein.13) Es ist dies die These der „Verschiebung der Bilder von ostdeutscher Männlichkeit“14), die auf der Grundannahme basiert, dass jene Männer sich die Zeit zurückwünschen, in der Macht und Stärke ausschließlich männlich konnotierte Begriffe sind. Diese Vorstellungen werden auf politischer Ebene zum Beispiel am besten von rechten Parteien und rechten Organisationen bedient.

Perspektivwechsel


Die beide oben ausgeführten Thesen beruhen auf theoretisch logischen Schlussfolgerungen und auch die Zahlen und Wahlergebnisse sind nicht zu leugnen. Die Problematik bei beiden Denkschemata liegt demnach nicht in den Schlussfolgerungen, sondern vielmehr in der Perspektive mit der sie betrachtet werden.

Weitet man die Perspektive aus, so zeigt sich, dass weder die Wahlergebnisse 2017 ausschließlich einen Anstieg im Osten Deutschlands hatten (knapp 70% aller Zweitstimmen stammten aus dem Westen Deutschlands), noch dass die Zuordnung stereotypisierter Kategorien von Menschen universal anwendbar ist. (Mau, 2019: 198-199) Soziale Frakturen innerhalb des Ostens aufgrund des schnellen Wandels haben zweifellos zu einer Veränderung des Gesellschaftsbildes geführt. Allerdings sollten diese nicht als Produkt einer nicht aufgearbeiteten Vergangenheit isoliert betrachtet werden, sondern vielmehr als allumfassendes Phänomen. Jene „neoreaktionären Phänomene“,15) können nicht ausschließlich auf die Rolle des „Ostmanns“ beschränkt werden, sondern müssen in einem weiteren Rahmen betrachtet werden, der Vergangenheit wie Gegenwart einschließt und verschiedene Perspektiven einschließt. (Lessenich, 2013: 135-143) Somit steht fest, dass die Ursache weder in Spätschäden der DDR-Vergangenheit zu verorten ist, noch in ungelösten Geschlechterrollenkomplexen. Es ist ein Produkt fortwährender Auseinandersetzung bezüglich einer geteilten Vergangenheit aber auch Gegenwart, welche verlangt, sich gewaltvollem oder rechtem Verhalten gegenüberzustellen.16)

Literatur


Machowecz, Martin (2017): Oh, Ostmann! In: Zeit Online, 29.09.2017

Mau, Steffen (2019): Lütten Klein. Leben in der Ostdeutschen Transformationsgesellschaft. Bonn: Suhrkamp Verlag.

Lessenich, Stephan. 2013. Brauner Osten?: Rechtsextremismus als deutsch-deutscher Einsatz und Effekt. In: Schmincke, Imke/Siri, Jasmin (Hrsg.): NSU-Terror. Ermittlungen am rechten Abgrund. Ereignis, Kontexte, Diskurse. Bielefeld, 135–143.

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