“Seeing like a state” - am Beispiel der Wiedereingliederung der DDR

“Wie bei einem Kopiervorgang wurde die Blaupause West auf den Osten übertragen.” (S. 134)*.

Einleitung

Ein großer Teil von Steffen Mau’s Lütten Klein, der soziographischen Biographie seines Erwachsenwerdens in Ostdeutschland, beschäftigt sich mit der Entstehung von gesellschaftlichen Frakturen in der ehemaligen DDR. Viele dieser gesellschaftlichen Frakturen sind zwar durch Missstände und Fehler der damaligen DDR-Regierung entstanden, jedoch spielt auch die Wiedereingliederung in das vereinigte Deutschland eine große Rolle.

Bei dieser Wiedereingliederung gibt es einige interessante Parallelen zu den Theorien von James C. Scott. Der amerikanische Politologe beschäftigt sich in seinem Buch “Seeing Like a State: How Certain Schemes to Improve the Human Condition Have Failed” mit der Frage, warum so viele gut gemeinte Programme zur Verbesserung menschlicher Lebensbedingungen so tragisch schiefgelaufen sind.

Scott argumentiert, dass das Problem von Top-Down-Ansätzen in der Regierungsführung darin besteht, dass sie dazu neigen, die Gesellschaft wie eine Maschine oder ein Labor zu behandeln, anstatt sie als komplexes, anpassungsfähiges System zu betrachten, das sich als Reaktion auf lokale Bedingungen und das Handeln des Einzelnen ständig weiterentwickelt. Er vertritt die Ansicht, dass wir eine dezentrale, von unten nach oben gerichteten Form der Regierungsführung verfolgen müssen, die die Vielfalt und Komplexität sozialer und ökologischer Systeme respektiert und Einzelpersonen und Gemeinschaften in die Lage versetzt, ihr eigenes Schicksal zu gestalten.

Im Laufe des Buches stellt Scott eine “Logik” auf, um das Scheitern einiger der großen utopischen, soziotechnischen Projekte des zwanzigsten Jahrhunderts ergründen zu können. Anhand dieser Logik möchte ich einen weiteren Baustein zur Eruierung eben jener gesellschaftlicher Frakturen liefern. Das Wiki erhebt deshalb keinen Anspruch auf Vollständigkeit und möchte auch nicht die kompletten Theorien von James C. Scott wiedergeben, sondern dabei helfen gesellschaftliche Prozess wie die Wiedereingliederung der DDR zu verstehen.

Die vier Elemente des Social Engineering

Scott argumentiert, dass, was er als “Social Engineering” bezeichnet, auf eine Kombination von vier Elementen zurückzuführen ist. Ist eine Gesellschaft administrativ erfasst, kann sie also “gelesen” werden, so ist die Fähigkeit zum Social Engineering geliefert. Darauf aufbauend hegt eine Denkweise, die Scott als „hochmoderne Ideologie“ bezeichnet, den Wunsch zum Social Engineering, der autoritäre Staat schließlich die Entschlossenheit, diesem Wunsch nachzukommen, und eine entmündigte Zivilgesellschaft, das nivellierte soziale Terrain, auf dem schlussendlich gebaut werden kann. Treffen alle vier Elemente aufeinander, kann eine Katastrophe entstehen. Im Folgenden schauen wir uns diese Elemente nochmal genau an.

Die administrative Ordnung von Natur und Gesellschaft

Der vormoderne Staat war in vielerlei Hinsicht teilweise blind; er wusste nur sehr wenig über seine Untertanen, ihren Reichtum, ihren Grundbesitz und ihre Erträge, ihren Standort, ihre Identität selbst. Ihm fehlte so etwas wie eine detaillierte „Landkarte“ seines Territoriums und seiner Bevölkerung. Ihm fehlte größtenteils ein Maß, eine Metrik, die es ihm ermöglicht hätte, das, was er wusste, in einen gemeinsamen Standard zu „übersetzen“, der für eine synoptische Betrachtung notwendig war. Infolgedessen waren ihre Interventionen oft grob und selbstzerstörerisch.

Plötzlich schienen so unterschiedliche Vorgänge wie die Schaffung dauerhafter Nachnamen, die Standardisierung von Gewichten und Maßen, die Erstellung von Katastervermessungen und Bevölkerungsregistern, die Erfindung des Grundbesitzes, die Standardisierung der Sprache und des juristischen Diskurses, die Gestaltung von Städten und die Organisation des Verkehrs als Versuche der Lesbarkeit und Vereinfachung verständlich. In jedem dieser Fälle nahmen die Beamten außerordentlich komplexe, unleserliche und lokale soziale Praktiken wie Grundbesitz- oder Namensgebrauche und schufen ein Standardraster, mit dem sie zentral erfasst und überwacht werden konnten.

Die hochmoderne Ideologie

Das zweite Element ist das, was Scott eine hochmoderne Ideologie nennt. Man kann sie sich am besten als eine starke Version des Selbstbewusstseins über den wissenschaftlichen und technischen Fortschritt, die Ausweitung der Produktion, die zunehmende Befriedigung menschlicher Bedürfnisse, die Beherrschung der Natur (einschließlich der menschlichen Natur) und vor allem die rationale Gestaltung der sozialen Ordnung entsprechend dem wissenschaftlichen Verständnis der Naturgesetze vorstellen.

Der autoritäre Staat

Das dritte Element ist ein autoritärer Staat, der willens und in der Lage ist, das volle Gewicht seiner Zwangsgewalt einzusetzen, um diese hochmodernen Entwürfe zu verwirklichen… Der fruchtbarste Boden für dieses Element waren typischerweise Zeiten des Krieges, der Revolution, der Depression und des Kampfes um nationale Befreiung.

Die niedergeschlagene Zivilgesellschaft

Ein viertes Element ist eng mit dem Dritten verbunden: eine niedergeschlagene Zivilgesellschaft, die nicht in der Lage ist, sich diesen Plänen zu widersetzen. Kriege, Revolutionen und wirtschaftlicher Zusammenbruch schwächen die Zivilgesellschaft oft radikal und machen die Bevölkerung empfänglicher für eine neue Ordnung.

Treffen diese vier Elemente auf die DDR zu?

Das erste Element ist die administrative Ordnung von Natur und Gesellschaft - die oben beschriebenen transformativen staatlichen Vereinfachungen. Diese sind im Prinzip in fast jeder modernen Gesellschaft gegeben. Bezüglich der restlichen Elemente, von der hochmodernen Ideologie, bis zum autoritären Staat und der empfänglichen Zivilgesellschaft, ist die Eingrenzung schon schwieriger.

Grund zur Annahme hierzu gibt es, zumindest laut Mau eigentlich genug:

“So entglitt dem Wahlvolk der DDR und den kaum organisierten Interessengruppen jede Möglichkeit der Mitbestimmung.” (S. 135).
“Damals dominierte im Osten das Gefühl des Überrollt-Werdens, der Überwältigung und der Verohnmächtigung, verbunden mit einer überdeutlichen “Duldungsstarre”.” (S. 136).
“An kaum einer Stelle sah man sich veranlasst, über das Selbstverständnis und die Besitzstände der westdeutschen Gesellschaft überhaupt nachzudenken” (S. 134).
„Grundannahme war ein mehr oder weniger einheitlicher, linearer und planbarer Wandlungsprozess hin zu einem “modernen” oder “modernisierten” Gesellschaftstypus, der in funktionaler und normativer Hinsicht überlegen sei, weil er soziale Bedürfnisse und Interessen besser befriedigen könne und hochgradig anpassungsfähig sei” (S. 138).

Was kann man daraus lernen?

Die Wiedereingliederung der DDR ist mit Sicherheit keine exakte Reproduktion der Scott’schen Thesen. Nicht alle Elemente sind zweifelsfrei gegeben und es gab hier auch keine zentrale Gewalt, keinen total autoritären Staat, der seine hochmoderne Ideologie durchdrücken wollte, wenngleich die damalige Mentalität in der westdeutschen Gesellschaft einige Parallelen aufweist. Trotzdem ist es sehr interessant, die damaligen Gegebenheiten mit der Brille von Scott zu untersuchen.

Weiterhin erklärt dieser beispielsweise, dass er sich gegen eine imperiale oder hegemoniale Planungsmentalität ausschließt, welche die notwendige Rolle von lokalen Wissen und Know-How ausschließt. Mau schreibt hierzu: “Eine Liste der “Errungenschaften der DDR” wurde nicht verfertigt, die Abrissbirne umstandslos angesetzt. Man wollte nicht nach best practices Ausschau halten, Östliches und Westliches zu etwas Neuem kombinieren, Bewahrenswertes ausfindig machen oder Rücksicht auf vorhandene Routinen, Mentalitätsbestände oder lokales Wissen nehmen.” (S. 134 - 135)

James C. Scott plädiert nahezu im gesamten Buch für die unverzichtbare Rolle von praktischem Wissen, informellen Prozessen und Improvisation angesichts der Unvorhersehbarkeit von gesellschaftlichen Entwicklungen. Der Verzicht auf dieses Wissen ist nicht der Ursprung der gesellschaftlichen Frakturen in Ostdeutschland, hat aber zweifelsfrei dazu beigetragen, dass diese entstanden sind.

“Hier fühlte sich eine Teilgesellschaft untergebuttert, von wichtigen Entscheidungen ausgeschlossen und zur Aufnahmebereitschaft verdammt - eine Wahrnehmung, die bis heute mitursächlich, für die innere Distanz zu und das Misstrauen gegenüber Institutionen sowie Macht- und Funktionseliten ist.” (S. 136 - 137).

Literaturverzeichnis

* Die Seitenzahlen beziehen sich auf Mau, Steffen 2020: Lütten Klein: Leben in der ostdeutschen Transformationsgesellschaft. Berlin. Suhrkamp.

Scott, James (1998) Seeing Like a State. New Haven, CT: Yale University Press.

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